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Wie stark ist das Recht auf Leben?

Der Prozess der Opfer von Varvarin stellt Grundsatzfragen

Von Bernhard Graefrath*

Am 16. 10. 2003 hat das Landgericht Bonn sich, entgegen dem Antrag der Regierung, für zuständig erklärt, eine Schadenersatzklage von Opfern eines Angriffs auf die Brücke von Varvarin zuzulassen, die bereits am 24. 12. 2001 von Rechtsanwalt Dost beim Landgericht Berlin eingereicht worden war. Der Angriff fand während des Kosovo-Krieges der NATO am 30. Mai 1999 mittags statt. Die Menschen in dem kleinen Ort feierten den Dreifaltigkeitstag. Es war Markttag. Zwei NATO-Flugzeuge bombardierten bei guter Sicht die Brücke, die, entgegen den Behauptungen der NATO, ohne jede militärische Bedeutung war. Sie zerstörten sie im ersten Anflug, töteten dabei drei und verletzten zehn Menschen schwer. Im unmittelbar darauf folgenden zweiten Anflug, der für die Zerstörung der Brücke völlig überflüssig war, wurden sieben der Rettungskräfte getötet und zwölf schwer verletzt. Diesem Sachverhalt hatte die Regierung in ihrer letzten Erwiderung nur noch den Einwand des "Nichtwissens" entgegenzusetzen, den das Gericht angesichts der Tatsachen wohl vergessen wird.

Die Eröffnung des Verfahrens in Bonn hat in der Öffentlichkeit zu Recht große Aufmerksamkeit gefunden. Immerhin handelt es sich um einen Schadenersatzfall aufgrund von Kriegsrechtsverletzungen, kurze Zeit nachdem das Urteil des BGH im sogenannten Distomo-Fall ergangen ist.[1] In diesem Urteil hatte der BGH als Revisionsinstanz, ständiger Rechtsprechung deutscher Gerichte folgend, einen zivilrechtlichen Schadensersatzanspruch von griechischen Opfern einer Kriegsrechtsverletzung durch deutsche Truppen während des zweiten Weltkriegs (1944) abgelehnt. Das Gericht bekräftigte die herrschende Meinung, dass nach der im zweiten Weltkrieg bestehenden Rechtslage Verletzungen des Kriegsrechts keine Schadensersatzansprüche einzelner Personen gegen den verantwortlichen fremden Staat begründeten. Das Amtshaftungsrecht nach 839 BGB gelte nicht für den Kriegsfall, da "der Krieg als völkerrechtlicher Ausnahmezustand gesehen (wurde), der seinem Wesen nach auf Gewaltanwendung ausgerichtet ist und die im Frieden geltende Rechtsordnung weitgehend suspendiert."[2] Darauf stützt sich noch heute die Bundesregierung bei ihrem Antrag, die Klage abzuweisen.

Im gegenwärtigen Völkerrecht gibt es aufgrund kriegerischer Ereignisse zwei unterschiedliche Anspruchsgrundlagen für Schadenersatzansprüche. Ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg, d.h. ein Krieg, der unter Verletzung des Verbots der Gewaltanwendung begonnen wurde, begründet einen Schadenersatzanspruch des angegriffenen Staats für sämtlichen durch den Krieg verursachten Schaden. Dieser Anspruch schließt die Ansprüche seiner geschädigten Staatsbürger ein, ist aber nicht exklusiv, d.h. er schließt nicht aus, dass die Bürger ihre Ansprüche selbst geltend machen. Einen vom Kriegsgrund unabhängigen Schadenersatzanspruch haben alle durch Kriegshandlungen geschädigten Personen und ihre Staaten, wenn diese Handlungen eine Verletzung des Kriegsrechts darstellen. Ein solcher Anspruch war unstreitig auch im Distomo-Fall gegeben. Das Gericht blieb aber bei der traditionellen Auffassung, dass 1944 ein solcher Anspruch nicht durch die Geschädigten selbst, sondern nur durch ihren Staat geltend gemacht werden konnte.

Eine neue Rechtssituation

In seiner Entscheidung betonte der BGH aber nachdrücklich, dass sie sich nur auf die Rechtslage zur Zeit der Tat, also 1944, bezieht. "Dies bedeutet insbesondere, dass hinsichtlich der gegen das Reich in Betracht kommenden Anspruchsgrundlagen rechtliche Fortentwicklungen bzw. veränderte Rechtsanschauungen - etwa im Lichte des heute geltenden Grundgesetzes oder von Änderungen des internationalen Rechts - außer Betracht bleiben müssen." (S. 18) Die Entscheidung macht unter Berufung auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 94, 329f) deutlich, dass sie sich auf traditionelle Konzepte stützt, die durch die Entwicklung des Völkerrechts und das Grundgesetz überholt sein können. (S. 19, 20) Inwieweit das der Fall ist, wird der rechtliche Hauptgegenstand des Varvarin-Falles sein.

Das Bundesverfassungsgericht hatte in seinem Beschluss von 1996 nicht nur darauf hingewiesen, dass inzwischen die Entwicklung des universellen Rechts der Menschenrechte eine neue Rechtssituation geschaffen hat. Es hat sogar betont, dass bei Völkerrechtsdelikten neben den völkerrechtlichen Ansprüchen des Staates nationale, zivilrechtliche Ansprüche bestehen können, und hat bereits festgestellt, dass es in diesem Fall einen Grundsatz der Exklusivität für völkerrechtliche Ansprüche, wie noch immer von der Bundesregierung behauptet, nicht gibt. (BVerfGE 94,330f.) Der BGH hat sich dieser Auffassung in seiner Distomo-Entscheidung nun ausdrücklich angeschlossen. (aaO, S. 22)

Was hat sich an der Rechtslage im Verhältnis zur Zeit des zweiten Weltkrieges verändert?

Nach der universellen Anerkennung des Gewaltverbots wird der Krieg nicht mehr als ein Ausnahmezustand betrachtet, der das im Frieden geltende Völkerrecht und das Amtshaftungsrecht weitgehend suspendiert. Insbesondere wird die universelle Geltung der Menschenrechte nicht aufgehoben. Das Recht auf Leben ist heute ein allgemein anerkanntes Menschenrecht, ein Jedermannrecht. Der Staat haftet, wenn es durch seine Organe verletzt wird, auch dann, wenn dies im Ausland geschieht und Ausländer geschädigt werden.[3] Die Opfer, bzw. ihre Hinterbliebenen können solche Ansprüche vor deutschen Gerichten geltend machen.

Gilt das auch im Falle eines Krieges, wenn die schädigende Handlung ein militärischer Akt war, der unter das Kriegsrecht fällt? Das wurde bisher von der Rechtsprechung verneint. Es wurde - unserer Meinung nach zu Unrecht [4] - behauptet, Art. 3 des IV. Haager Abkommens, später Art. 91 des Zusatzprotokolls I lasse keine Schadensersatzansprüche von Einzelpersonen zu.

Diese Konzeption kann heute, angesichts der Tatsache, dass Menschenrechte wie das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit universell gelten, nicht mehr aufrechterhalten werden. Ausdrücklich wird in den Menschenrechtskonventionen ausgeschlossen, dass der Staat das Recht auf Leben in Notstandssituationen einschränken oder aufheben kann.[5] Kriegsbedingte Tötungen werden auch nach der europäischen Menschenrechtskonvention nur dann hingenommen, wenn die "Todesfälle auf rechtmäßige Kriegshandlungen zurückzuführen sind"[6], d.h. eine Tötung im Kriegsfall, die unter Verletzung des Kriegsrechts, z.B. der Haager Landkriegsordnung, der Genfer Konventionen oder des Zusatzprotokolls I geschieht, kann nicht unter Berufung auf den Krieg als Ausnahmezustand gerechtfertigt werden. Der BGH hat offensichtlich deshalb in seiner Distomo-Entscheidung immer wieder auf den Zeitpunkt der Tat (1944) verwiesen, weil die Position nicht mehr aufrechterhalten werden kann, dass nicht dem Individuum, sondern nur der betroffenen Kriegspartei ein subjektives Recht auf Schadenersatz zustehe und infolge des Krieges "eine innerstaatliche Verantwortlichkeit des Staates" nach dem "Amtshaftungstatbestand des 839 BGB ... ausgenommen" war.[7] Heute kann eine Tötung unter Verletzung des Kriegsrechts nicht unter Berufung darauf, dass durch den Krieg ein Ausnahmerecht oder ein Staatsnotstand eingetreten sei, gerechtfertigt oder von der Amtshaftung ausgeschlossen werden. Sie bleibt eine ordinäre Menschenrechtsverletzung, für die der Staat, wenn sie ihm zuzurechnen ist, einzustehen hat und gegen die der Geschädigte bzw. seine Hinterbliebenen auf dem ordentlichen Rechtsweg vorgehen und Schadenersatz- sowie Schmerzensgeldansprüche stellen können. Die Staaten sind durch die Menschenrechtskonventionen verpflichtet, ihnen dafür einen Rechtsweg zur Verfügung zu stellen.

Da die Regierung nicht leugnen kann, dass es seit 1945 eine beträchtliche Entwicklung der Menschenrechte im Völkerrecht gegeben hat, die zu grundsätzlichen Veränderungen der Rechtslage des Individuums geführt hat, versucht sie die Anspruchsberechtigung Geschädigter auf spezielle vertragliche "Schutzsysteme" zu beschränken, die in einzelnen Menschenrechtskonventionen, nicht aber im humanitären Völkerrecht, geschaffen wurden. Sie übersieht dabei geflissentlich, dass diese speziellen Rechtsschutzmechanismen kein Ersatz für nationale Rechtsmittel und nicht die einzige Möglichkeit der Betroffenen sind, ihre Ansprüche geltend zu machen. Tatsächlich sind sie und können sie nur ein Korrektiv zu den innerstaatlichen Rechtsmittelmöglichkeiten sein. Nationale Rechtsmittel zur Geltendmachung von Menschenrechtsverletzungen werden nicht nur vorausgesetzt, die Mitgliedstaaten der Konventionen werden ausdrücklich verpflichtet, sie bereitzustellen,[8] was im deutschen Recht durch die Artikel 19, Abs. 4 und 34 des Grundgesetzes gewährleistet wird.

Der Angriff auf die Brücke von Varvarin verletzte eindeutig die Bestimmungen der Art. 48, 51, 52, und 57 des Zusatzprotokolls I zu den Genfer Konventionen, die dem Schutz der Zivilbevölkerung dienen. Er stellt deshalb keine rechtmäßige Kriegshandlung dar, die die Bundesregierung in Übereinstimmung mit Art. 15, Abs. 2 der europäischen Menschenrechtskonvention als Ausnahme bei Menschenrechtsverletzungen geltend machen könnte. Damit ist die Rechtswidrigkeit der Tötungshandlung gegeben und die Geschädigten können ihre Schadenersatzansprüche unmittelbar auf deutsches Recht, Verletzung des in Art. 2 GG geschützten Rechts auf Leben stützen. Ihre Anspruchsgrundlage ist nicht allein das Völkerrecht, sondern parallel dazu das nationale Recht. Da sie eine Menschenrechtsverletzung nach deutschem Recht geltend machen, sind alle Erörterungen über die Völkerrechtssubjektivität von Individuen und darüber, dass das humanitäre Völkerrecht angeblich keine Schadensersatzansprüche für Individuen vorsieht, unbeachtlich.

Die Verantwortung der deutschen Bundesregierung

Eine andere Rechtsfrage, die das Gericht beschäftigen wird, ist die Frage, wem die völkerrechtswidrige Handlung, aus der sich die Rechtswidrigkeit der Schädigung ergibt, zuzurechnen ist. Die Regierung bestreitet zwar nicht den Angriff auf die Brücke von Varvarin und die Verluste unter der Zivilbevölkerung, sie behauptet aber, an dem Angriff seien keine deutschen Flugzeuge beteiligt gewesen und Deutschland könne nicht für diese Kriegshandlung verantwortlich gemacht werden.

Der Kosovo-Krieg wurde von einer Allianz von Staaten, den NATO-Staaten, unter Einsatz des NATO-Militärapparates geführt. Das ging nur, weil es einen einstimmigen Beschluss des NATO-Rates, aller Mitgliedstaaten der NATO, für diesen Militäreinsatz gab. Die NATO kann nicht von sich aus Krieg führen. Sie braucht für jeden Fall einen einstimmigen Beschluss. D. h. die Zustimmung der deutschen Regierung zu diesem Beschluss war eine conditio sine qua non, eine notwendige Bedingung für den Krieg einschließlich des Angriffs auf die Brücke von Varvarin. Nachdem der Krieg als gemeinsame Sache beschlossen war, lagen viele Einzelentscheidungen bei den zuständigen Kommandeuren. Das ist für die Frage der Zurechenbarkeit unerheblich. Hinzu kommt, dass auch die Zielplanung der NATO von der Zustimmung aller Mitglieder abhing. Deutschland kann daher seine Mittäterschaft ernstlich nicht bestreiten. Es war übrigens immer stolz darauf, an der Zielplanung teilgenommen zu haben, und dass deutsche Tornados die Luftangriffe aufgeklärt und abgesichert haben.

Die Regierung versucht zu behaupten, dass, wenn überhaupt, nur die NATO als internationale Organisation für die Kriegshandlungen verantwortlich gemacht werden könne. Zwar hat die NATO als internationale Organisation eine eingeschränkte Völkerrechtssubjektivität, es herrscht aber Einigkeit darüber, dass sie nicht den militärischen Bereich erfasst.[9] Nicht einmal Verträge über den Status der NATO-Truppen (in Friedenszeiten) werden zwischen der NATO als Organisation und dem Aufenthaltsstaat geschlossen. Im Übrigen würde eine Haftung der NATO als Internationale Organisation nicht die Haftung der Mitgliedstaaten ausschließen.[10] Es wäre sonst leicht, die völkerrechtliche Verantwortlichkeit von Staaten durch die Gründung einer internationalen Organisation auszuschließen.

Deutschland haftet für Verletzungen des Kriegsrechts während des Kosovo-Krieges der NATO gesamthänderisch für gemeinschaftliches Tun. Die gesamthänderische Haftung mehrerer, die gemeinschaftlich handeln, ist ein Rechtsinstitut, das nicht nur in Deutschland Tradition hat und das Schuldrecht wie das Deliktsrecht durchzieht. Es gilt auch im Völkerrecht. Der Grundsatz der gesamtschuldnerischen Haftung wird innerhalb der NATO, d. h. zwischen den NATO-Mitgliedstaaten selbst in Friedenszeiten angewandt, wie Art. VIII, Abs. 5 lit. e ii und iii des NATO-Truppenstatuts vom 19. 6. 1951 zeigt. Die gesamtschuldnerische Haftung der Vertragsparteien gilt erst recht für das Außenverhältnis, und insbesondere in Kriegszeiten. Das ist gerade für Zivilpersonen wichtig, die im allgemeinen überhaupt nicht in der Lage sind herauszufinden oder zu beweisen, welcher NATO-Staat für die Verursachung ihres Schadens verantwortlich ist.[11] Eine spezielle Haftungsregelung der NATO im Falle der Verletzung von Regeln, die in bewaffneten Konflikten gelten, gibt es nicht. Irgendwelche Einschränkungen der völkerrechtlich vorgesehenen Haftung der Mitgliedstaaten könnten auch ohne Zustimmung der anderen, insbesondere der betroffenen Staaten nicht vereinbart werden.

Das sind einige der schwierigen Fragen, vor denen das Bonner Landgericht steht. Es kann davon ausgegangen werden, dass seine Entscheidung den Fall nicht abschließend regelt, aber sie wird den Anstoß geben, einer internationalen Rechtslage gerecht zu werden, in der der Schutz der Menschenrechte eine zentrale Stellung einnimmt. Was wäre die Unverletzlichkeit der Würde des Menschen und des Lebens wert, wenn man sie ohne Rechtsschutz ließe und beliebig mit Bomben auslöschen dürfte.

Nachtrag: Recht auf Leben scheitert an NATO-Bomben

Das Landgericht Bonn hat die Chance verpasst zu beweisen, dass in Deutschland das Recht auf Leben ohne Diskriminierung geschützt wird. Ausgerechnet am internationalen Tag der Menschenrechte, am 10. Dezember 2003, hat es die Schadenersatzklage der Opfer des NATO-Angriffs auf Varvarin abgewiesen, weil es dafür weder im Völkerrecht noch im nationalen Recht einen Anspruch gebe. Es befand: "Allein auf die Grundrechte können die Kläger Schadensersatzansprüche u.a. deshalb nicht stützen, weil diese Garantien keinen Schadensersatzanspruch als Rechtsfolge vorsehen." (Vgl. das Urteil im Wortlaut.)

Das steht in offenem Widerspruch zu den Art. 2 und 34 GG, die das Recht auf Leben und den ordentlichen Rechtsweg für einen Schadenersatzanspruch im Falle seiner Verletzung durch Amtsträger als geltendes Recht verkünden. Und es verletzt auch die völkerrechtlichen Verpflichtungen, wie sie sich aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, der Europäischen Menschenrechtskonvention und dem Pakt über Bürger- und politische Rechte als heute universelles Völkerrecht ergeben.Gerade in den letzten Jahren haben höchstrichterliche Entscheidungen in Deutschland und Straßburg die unbedingte Priorität des Rechts auf Leben unterstrichen und daraus sogar die Unbeachtlichkeit eines gesetzlich geregelten Schusswaffengebrauchs an der Grenze abgeleitet. Das alles soll nun aber nicht gelten, wenn es sich um Leben von Menschen handelt, die NATO-Bomben zum Opfer fielen.

In Bezug auf die Opfer von Varvarin befindet das Gericht, Staatshaftung komme in Fällen bewaffneter Konflikte nicht zur Anwendung. "Bewaffnete Auseinandersetzungen sind nach wie vor als völkerrechtlicher Ausnahmezustand anzusehen, der die im Frieden geltende Rechtsordnung weitgehend suspendiert". Das Gericht behauptet allen Ernstes, dass alles so geblieben sei, wie es vor dem 2. Weltkrieg war: Für den Einzelnen hört das Recht auf Leben auf, wenn der Staat den Abwurf von Bomben anordnet, billigt oder nicht verhindert. Das widerspricht offensichtlich dem geltenden Völkerrecht, wie auch die Praxis der UNO zeigt, die z. B. 1991 nach dem Irak-Krieg zur Vermeidung von Millionen privater Schadenersatzklagen die UN Compensation Commission einrichtete. Ihre Aufgabe war, die Ansprüche der einzelnen Opfer zu bündeln und in summarischen Verfahren über Hunderttausende von Einzelansprüchen zu entscheiden.

Auch die internationalen Menschenrechtskonventionen gehen davon aus, dass im Falle eines bewaffneten Konfliktes die Regeln des humanitären Völkerrechts gelten. Handlungen, die diese Regeln verletzen, bleiben ordinäre Menschenrechtsverletzungen. Sie können nicht unter Berufung auf den Kriegszustand gerechtfertigt werden. Das humanitäre Völkerrecht ersetzt nicht die Geltung der Menschenrechtsbestimmungen, es verstärkt sie. Es setzt der Außerkraftsetzung von Menschenrechten durch den Kriegszustand Grenzen. Das kann man z. B. den "Allgemeinen Bemerkungen" des Menschenrechtsausschusses des Internationalen Paktes über Bürger- und politische Rechte zum Art. 4 vom 24. Juli 2001 entnehmen.[12] Es ergibt sich auch aus Art. 15 der Europäischen Menschenrechtskonvention, ist heute allgemeines Völkerrecht.

Die Richter in Bonn haben es sich leicht gemacht. Sie haben wiederholt, was deutsche Gerichte in ähnlichen Fällen aus der Zeit bis zum 2. Weltkrieg entschieden haben. Das Furchtbare ist, dass das die Botschaft vermittelt: Es hat sich nichts verändert; glaubt nicht den Erzählungen über die Würde des Menschen und das Recht auf Leben. Wenn wir Krieg führen, dann gibt es nicht einmal für die Tötung unter Verletzung der Regeln des Kriegsrechts Entschädigung für die Opfer oder die Hinterbliebenen.

Man kann nur hoffen, dass das OLG Köln und gegebenenfalls der BGH diesem Spuk ein Ende bereiten. Es geht jetzt schon nicht mehr "nur" um einen Schadenersatzanspruch der Opfer von Varvarin. Jetzt geht es darum, ob das Recht auf Leben nur unter dem Vorbehalt staatlicher Bombendrohung gilt. Nicht nur die Serben, all die Völker in den kleinen und den Entwicklungsländern, die wir ununterbrochen über die Einhaltung der Menschenrechte belehren, werden aus diesen Prozessen lernen, wie ernst wir es in einem Rechtsstaat mit dem Schutz des Rechts auf Leben nehmen. Es widerspricht dem humanitären Völkerrecht, wie dem Recht im allgemeinen, wenn wir zulassen, dass ein Rechtsverletzer die Folgen seiner Rechtsverletzung auf das unschuldige Opfer abwälzen darf und nicht einmal zum Schadenersatz verpflichtet ist.

Fußnoten
  1. Vgl. Urteil des BGH vom 26. 6. 2003, Az III ZR 245/98 besonders S. 18 f.
  2. aaO. S.25.
  3. Vgl. B. Pieroth/B. Schlink, Grundrechte, Heidelberg 2000, Rdnr. 110,188; BVerfGE 6, 290(295); 57,9 (23)
  4. Vgl. dazu F. Kalshoven, State Responsibility for warlike Acts of the Armed Forces, in: International and Comparative Law Quarterly, 40 (1991), p. 831 f.; sowie B. Graefrath, Schadensersatzansprüche wegen Verletzung humanitären Völkerrechts, in: Humanitäres Völkerrecht, Heft 2, 2001, S. 110 f.
  5. Vgl. Art. 4 des Paktes über Bürger- und politische Rechte; Art. 15 der europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten.
  6. Art. 15, Abs. 2.
  7. BGH 26. 6. 2003 S.24.
  8. Vgl. z. B. Art. 2, Abs. 3 des Paktes über Bürger- und politische Rechte; Art. 13 der europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten
  9. Vgl. dazu M. Bothe, Streitkräfte Internationaler Organisationen, Köln-Berlin, 1968, S. 85
  10. Vgl. H.G. Schermers, Liability of international organizations, in: Leiden Journal of International Law, 1988, p.3.
  11. Vgl. BGH 1993 in: NJW 1993, 2173; NJW 1982, 1046; NJW 1976,1030; vgl. auch M. Hirsch, The Responsibility of International Organizations Towards Third Parties: Some Basic Principles, Dordrecht/Boston/London 1995. p. 71
  12. Vgl. den Text im MenschenRechtsMagazin, Universität Potsdam, 8. Jahrgang, Heft2/2003, S. 110 f.

* Prof. Dr. Bernhard Graefrath, Fuhlendorf (Darß), Völkerrechtler


Dieser Beitrag erschien in: Marxistische Blätter, Heft 6, 2003 sowie (der "Nachtrag") in Heft 1/2004

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Über Varvarin haben wir mehrmals berichtet, siehe: Weitere Beiträge zum NATO-Krieg gegen Jugoslawien

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