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"Die Klage ist zulässig, jedoch unbegründet" (Aktenzeichen: 1 O 361/02)

Landgericht Bonn weist die Klage der Varvarin-Opfer zurück - Urteilsbegründung im Wortlaut

Die 1. Zivilkammer des Landgerichts Bonn hat am 10. Dezember 2003 entschieden:
  1. Die Klage wird abgewiesen.
  2. Die Kosten des Rechtsstreits tragen die Kläger.
  3. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
Aktenzeichen: 1 O 361/02

Im Folgenden dokumentieren wir die "Entscheidungsgründe" des Gerichts (Absätze 108 bis 146).
Der gesamte Schriftsatz kann hier eingesehen werden: NRW-Rechtsbibliothek).


E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

Die Klage ist zulässig, jedoch unbegründet.

I.

Für die auf ein angeblich pflichtwidriges Verhalten deutscher Amtsträger gestützte Klage ist die deutsche Gerichtsbarkeit gegeben. Die örtliche Zuständigkeit des Landgerichts Bonn ergibt sich bereits aufgrund des Verweisungsbeschlusses des Landgerichts Berlin, im übrigen aber auch aus § 18 ZPO.

II.

Klage ist jedoch unbegründet.

Den Klägern steht gegen die Beklagte kein Anspruch auf Schadensersatz und Schmerzensgeld zu.

Die geltend gemachten Ansprüche finden weder im Völkerrecht noch im deutschen Staatshaftungsrecht eine rechtliche Grundlage.

Daher bedurfte es zum einen keiner weiteren Aufklärung im Tatsächlichen. Auch konnte offenbleiben, ob und inwieweit der Vortrag der Kläger die Annahme eines Verstoßes der Beklagten gegen die Grundsätze des humanitären Völkerrechts bzw. einer eine Ersatzpflicht auslösende Pflichtverletzung rechtfertigt.

1.

Ein Schadensersatz- oder Schmerzensgeldanspruch wegen eines völkerrechtlichen Delikts steht den Klägern gegen die Beklagte nicht zu.

Ein solcher ergibt sich weder unmittelbar aus dem Völkerrecht noch in Verbindung mit Art.25 GG.

a)

Normen des Völkerrechts, die den Klägern als Individuen für die Folgen des NATO-Angriffs vom 30.5.1999 einen gegen die Beklagte durchsetzbaren Anspruch auf Schadensersatz oder Schmerzensgeld einräumen, existieren nicht. Bereits hieran scheitert die Klage.

Die traditionelle Konzeption des Völkerrechts als eines zwischenstaatlichen Rechts versteht den Einzelnen nicht als Völkerrechtssubjekt, sondern gewährt ihm nur mittelbaren internationalen Schutz: Bei völkerrechtlichen Delikten durch Handlungen gegenüber fremden Staatsbürgern steht ein Anspruch nicht dem einzelnen Betroffenen selbst, sondern nur seinem Heimatstaat zu. Der Staat macht im Wege des diplomatischen Schutzes sein eigenes Rechts darauf geltend, dass das Völkerrecht in der Person seines Staatsangehörigen beachtet wird. Das Individuum ist nur über das "Medium" des Staates im dem Völkerrecht verbunden, ohne selbst dessen Subjekt zu sein (vgl. BVerfG, Beschluss vom 13.Mai 1996, Az: 2 BvL 33/93, abgedruckt u.a. in BVerfGE 94, 315,334 sowie NJW 1996, 2717 f. m.w.N.; Ipsen, Völkerrecht, 4.Auflage, § 7, S.80 f).

Diese Mediatisierung des Individuums durch den Staat besteht grundsätzlich fort. Der Einzelne kann damit grundsätzlich weder die Feststellung eines Unrechts noch einen Unrechtsausgleich verlangen.

Allerdings hat die Mediatisierung des Menschen durch den Staat durch die Kodifizierung des internationalen Menschenrechtsschutzes Veränderungen erfahren: Soweit Staaten entsprechende völkerrechtliche Normen schaffen, können sie durch diese dem Einzelnen bestimmte Rechte oder Pflichten zusprechen bzw. zuordnen und ihm hierdurch eine partielle - bezogen auf den jeweiligen Regelungsgehalt sowie die im Einzelfall beteiligten Staaten - Völkerrechtssubjektivität einräumen. Stellen die Staaten dem Einzelnen in den von ihnen geschaffenen vertraglichen Schutzsystemen des weiteren ein völkerrechtliches Verfahren bereit, in dem er die ihm zugeordneten Rechte unmittelbar gegenüber einem Staat durchsetzen kann, so ist eine echte völkerrechtliche Berechtigung des Einzelnen gegeben (vgl. BVerfG, aaO). Andernfalls erschöpft sich die vertragliche Regelung in einer bloßen Begünstigung des Individuums, die als Reflex aus Rechten und Pflichten des Staates entstehen kann und dem Einzelnen keine gegen einen anderen Staat durchsetzbaren Rechte gewährt (vgl. z.B. Ipsen, aaO).

Eine bedeutsame Durchbrechung der Mediatisierung stellt die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten dar. Diese räumt dem Einzelnen ausdrücklich verschiedene Rechte ein, insbesondere das Recht auf Leben (Art.2 EMRK), sieht für bestimmte Verletzungen einen einklagbaren Anspruch des Einzelnen auf Schadensersatz vor (Art.5 Abs.5 EMRK) und eröffnet daneben durch Art.34 EMRK dem Einzelnen die Möglichkeit, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anzurufen. Vorliegend können sich die Kläger gegenüber der Beklagten indes auf diese Konvention nicht berufen, da sie nicht der Hoheitsgewalt der Beklagten im Sinne des Art.1 EMRK (s. hierzu auch Entscheidung des EGMR vom 12.12.2001, EuGRZ 2002, 133) unterstanden. Dies sehen die Kläger auch so.

Eine den Menschenrechtskonventionen vergleichbare völkerrechtliche Regelung, die dem Einzelnen einen gegen einen anderen Staat durchsetzbaren Anspruch auf Schadensersatz oder Schmerzensgeld für die Folgen eines bewaffneten Konfliktes wie dem vorliegenden einräumt, ist nicht gegeben. Es fehlt an einem vertraglichen Schutzsystem, das den Klägern entsprechende individuelle Rechte einräumt und ihnen ein Verfahren zu deren Durchsetzung zur Verfügung stellt.

Die Bestimmungen des Abkommens betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs vom 18.Oktober 1907 (Haager Landkriegsordnung - HLKO) finden "nur zwischen den Vertragsmächten Anwendung" (Art.2 HLKO). Art.3 HLKO sieht allein eine Verpflichtung der "Kriegspartei" (gegenüber der anderen Kriegspartei) zum Schadensersatz vor (vgl. auch BGH, Urteil vom 26.6.2003, AZ: III ZR 245/98, "Distomo").

In dem seitens der Kläger angeführten Genfer Abkommen vom 12.August 1949 über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten (IV.Genfer Abkommen) verpflichten sich in Art.1 gleichfalls allein die "Vertragsparteien" zu dessen Einhaltung und Durchsetzung. Gleiches ergibt sich für das Zusatzprotokoll I zu den Genfer Abkommen vom 12.August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte, das die Genfer Abkommen zum Schutz der Kriegsopfer ergänzt, Art.1 Abs.3: Auch durch dieses verpflichten sich allein die Vertragsparteien, Art.1 Abs.1; einzelne Zivilpersonen "genießen Schutz" (Art.51), erhalten hingegen keine eigenen Rechte zugesprochen. Auch die in Art.91 normierte Haftungsregelung greift nicht zugunsten des Einzelnen. Im übrigen stellen weder die Genfer Konvention noch deren Zusatzprotokolle ein Verfahren zur Verfügung, das dem Einzelnen die Durchsetzung etwaiger individueller Ansprüche ermöglichen würde.

Auch aus den Bestimmungen des Abkommens zwischen den Parteien des Nordatlantikvertrages über die Rechtsstellung ihrer Truppen (NATO-Truppenstatut) können die Kläger nichts für sich herleiten. Wenn auch dieses Abkommen in Art. 8 Abs.3 lit. e iii eine besondere Zurechnungsnorm für die Fälle enthält, in denen ein bestimmter Verursacher nicht zu ermitteln ist (s. hierzu z.B. die Entscheidungen des BGH, Urteil vom 27.Mai 1993, Az: III ZR 59/92, abgedruckt u.a. in BGHZ 122, 363 f. sowie Urteil vom 1.12.1981, Az: VI ZR 111/80, abgedruckt u.a. in VersR 1982, 243 f), scheitert seine Anwendbarkeit vorliegend bereits daran, dass das Abkommen nur zwischen Vertragsparteien Anwendung findet (Art.1 Abs.2 Art.XX).

b) Eine eigene völkerrechtliche Anspruchsposition steht den Klägern auch nicht in Verbindung mit Art.25 GG zu.

Zwar sind nach dieser Bestimmung des Verfassungsrechts die allgemeinen Regeln des Völkerrechts "Bestandteil des Bundesrechts" und "erzeugen Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebietes". Indes räumt das hier maßgebliche Völkerrecht - wie zuvor unter a) im einzelnen ausgeführt - dem einzelnen Individuum keine Ansprüche ein und bietet damit keine Grundlage für Ansprüche des Einzelnen.

2.

Den Klägern stehen gegen die Beklagte auch keine Ansprüche gestützt auf das deutsche Staatshaftungsrecht zu.

Zwar schließt das völkerrechtliche Grundprinzip des diplomatischen Schutzes nicht aus, dass das nationale Recht eines Staates dem Verletzten einen Anspruch außerhalb völkerrechtlicher Verpflichtungen gewährt, der neben die völkerrechtlichen Ansprüche des Heimatstaates tritt (BVerfG aaO; BGH Urteil vom 26.Juni 2003 aaO).

Indes gewährt das deutsche Recht auch nach derzeitiger Rechtslage keinen solchen Anspruch. Es fehlt vorliegend auch insoweit bereits an einer Anspruchsgrundlage.

Allein auf die Grundrechte können die Kläger Schadensersatzansprüche u.a. deshalb nicht stützen, weil diese Garantien keinen Schadensersatzanspruch als Rechtsfolge vorsehen. Zwar handelt es sich bei dem insbesondere von den Klägern angeführten § 823 BGB wie auch bei den denkbaren Anspruchsgrundlagen des deutschen Staatshaftungsrechts um anspruchsbegründende Regelungen. Indes ist § 823 BGB - wenn wie vorliegend allein ein bestimmtes Verhalten eines Amtsträgers als Anknüpfungspunkt einer Haftung in Betracht kommt - bereits nicht einschlägig (vgl. zur Abgrenzung z.B. BGH-Urteil vom 13.6.1996, Az: III ZR 40/95, abgedruckt u.a. in NJW 1996, 3208 f). Das deutsche Staatshaftungsrecht kommt in Fällen bewaffneter Konflikte nicht zur Anwendung. Es wird durch die Regelungen des internationalen Kriegsrechts überlagert. Bewaffnete Auseinandersetzungen sind nach wie vor (s. zur Beurteilung der Rechtslage für das Jahr 1944: Urteil des BGH vom 26.6.2003, aaO, unter IV 2 bb) als völkerrechtlicher Ausnahmezustand anzusehen, der die im Frieden geltende Rechtsordnung weitgehend suspendiert. Die Verantwortlichkeit für den Beginn der Auseinandersetzung und die Folgen der Gewaltanwendung sind grundsätzlich auf der Ebene des Völkerrechts zu regeln. Die nach Völkerrecht gegebenenfalls bestehende Haftung eines Staates für die entstandenen Schäden umfaßt auch die Haftung für die Handlungen aller zu diesem Staat gehörenden Personen.

Auf nationaler Ebene bedürfte es - wie auch im Völkerrecht - für die Regulierung der Folgen bewaffneter Konflikte vielmehr der Kodifizierung besonderer Ausgleichsnormen (vgl. für den Aufopferungsanspruch Ossenbühl Staatshaftungsrecht, 5.Auflage S.127).

Hierfür spricht auch die von dem Gesetzgeber für die verschiedenen Rechtsgebiete in Art.74 Abs.1 GG vorgenommene sachliche Differenzierung. So ist das "bürgerliche Recht" in Art.74 Abs.1 Nr.1 GG aufgeführt, die "Versorgung der Kriegsbeschädigten und Kriegshinterbliebenen" hingegen - neben weiteren Bereichen - in Art.74 Abs.1 Nr.10 GG. Mithin geht auch der Gesetzgeber davon aus, dass die Folgen bewaffneter Konflikte nicht auf der Grundlage des deutschen bürgerlichen Rechts zu beurteilen sind, sondern es hierfür gesonderter spezieller Gesetze bedarf. Die Kompetenznorm des Art.74 Abs.1 Nr.10 GG erfaßt auch nicht nur die Opfer der vergangenen Kriege, sondern erstreckt sich auch auf die Personenschäden künftiger kriegerischer Handlungen einschließlich der der Friedenserhaltung dienenden (Stettner in GG-Kommentar, Hrsg. von Dreier, Art,74 Rz.49; v.Mangoldt/Klein/Pestalozza, Das Bonner Grundgesetz, 3.Auflage, Bd.8, Art.74 Rz.438).

Mithin ergeben sich weder aus dem deutschen Amtshaftungsrecht (§ 839 BGB i.V.m. Art.34 GG) noch aus dem Rechtsinstitut des allgemeinen Aufopferungsanspruchs individuelle Ansprüche einzelner im Ausland im Zuge bewaffneter Auseinandersetzungen verletzter Personen gegen die E.

Ob das seitens der Kläger der Beklagten im Zusammenhang mit dem NATO-Angriff vom 30.Mai 1999 vorgeworfene Handeln bzw. Unterlassen die nach deutschem Recht bestehenden Voraussetzungen eines Amtshaftungs- oder Entschädigungsanspruchs erfüllt, ist nicht entscheidungserheblich und bedurfte vor diesem Hintergrund keiner Entscheidung.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 91 Abs.1, 269 Abs.3 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 709 ZPO.

Streitwerte:

bis zum 9.10.2003: 5.760.000 DM

(27 x 200.000 DM, 1 x 20.000 DM, 17 x 20.000 DM

danach: 1.388.294 DM

(insgesamt bezifferte Entschädigungsansprüche von 423.500 EUR = 828.294 DM zzgl. 200.000 DM zzgl. 20.000 DM; weitere 17 x 20.000 DM)


(Der gesamte Schriftsatz kann hier eingesehen werden: NRW-Rechtsbibliothek)



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