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Die Kollateralschäden klagen an

Opfer von Varvarin verlangen Schadenersatz von der Bundesregierung - NATO-Krieg gegen Jugoslawien auf der Anklagebank

Über Varvarin haben wir bereits mehrfach informiert, vgl: Im Folgenden wollen wir einen Ausschnitt aus dem doch sehr breiten Medienecho darstellen, das der Prozessbeginn vor dem Bonner Landgericht am 15. Oktober 2003 bewirkt hat.
Wir beginnen mit einer Presseerklärung von amnesty international, das die Klage der Opfer voll unterstützt. Im Anschluss daran eine kleine Auswahl von Presseausschnitten.



amnesty international Deutschland

PRESSEMITTEILUNGEN

KOSOVO-EINSATZ DER NATO 1999 / "BRÜCKE VON VARVARIN"


ai: NATO-Mitglied Deutschland ist für Aufklärung möglicher Völkerrechtsverletzungen mitverantwortlich

Opfer von Kriegsverbrechen müssen entschädigt werden / ai begrüßt Verhandlung vor Bonner Landgericht als wichtigen Schritt für den Menschenrechtsschutz / Staaten, die an Kriegsverbrechen beteiligt waren, dürfen keine Immunität genießen

Berlin, 10. Oktober 2003 - Das NATO-Mitglied Deutschland ist für die Aufklärung eines möglicherweise völkerrechtswidrigen Einsatzes der NATO im Kosovo mitverantwortlich und muss im Falle einer Beteiligung am Einsatz Schadensersatz leisten. Am 30. Mai 1999 hatten NATO-Flugzeuge die Brücke von Varvarin in Serbien bombardiert und dabei zahlreiche Zivilpersonen getötet und verletzt. "Die Brücke war offenbar kein legitimes militärisches Ziel. Es muss festgestellt werden, ob die beteiligten Streitkräfte das Nötige getan haben, um zivile Opfer zu vermeiden, wie es die Genfer Konventionen vorschreiben", sagte Nils Geißler, Völkerrechtsexperte von amnesty international (ai). Bei dem Angriff Verletzte und Angehörige getöteter Opfer klagen vor dem Landgericht Bonn gegen die Bundesrepublik Deutschland auf Schadensersatz. Am 15. Oktober findet die mündliche Verhandlung statt.

ai begrüßt, dass deutsche Zivilgerichte Verletzungen des humanitären Völkerrechtes aufarbeiten. "Deutsche Gerichte müssen die neuen Entwicklungen des Völkerrechtes beachten, wonach bei Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord auch ein individueller Schadensersatzanspruch des Opfers gegen Staaten besteht", sagte Nils Geißler. "Es darf keine staatliche Immunität bei möglichen schwerwiegenden Verstößen gegen das Völkerrecht geben."

Der Angriff auf die Brücke von Varvarin wurde zur Mittagszeit an einem geschäftigen Markttag geflogen. Es folgte sogar ein zweiter Angriff, obwohl erkennbar gewesen sein musste, dass dies eine große Anzahl ziviler Opfer fordern würde. Bislang konnten unabhängige Organisationen wie ai derartige Luftangriffe aufgrund der restriktiven Informationspolitik der NATO nicht überprüfen. Zudem ist noch nicht klar, ob deutsche Piloten am Einsatz beteiligt waren. Eine gerichtliche Untersuchung der Vorfälle kann daher zur Aufklärung beitragen.

Neben einer strafrechtlichen ist die zivilgerichtliche Aufarbeitung von Völkerrechtsverstößen ein wichtiger Schritt, um den Schutz der Menschenrechte weltweit zu gewährleisten. Zivilgerichtliche Verfahren auf Schadensersatz erfüllen die Forderung von ai, den Opfern von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit eine angemessene Entschädigung zu gewähren. Im zivilrechtliche Verfahren haben die Opfer zudem die Möglichkeit, in der aktiven Rolle des Klägers aufzutreten. "Das Verfahren ist daher sehr gut geeignet, den Rechten der Opfer angemessen Rechnung zu tragen", so Geißler.


Presseschau

Raimund Neuss schrieb in der Kölnischen Rundschau/Bonner Rundschau zum Prozessbeginn u.a.:

(...)
Die Leute von Varvarin hatten sich sicher gefühlt, weit entfernt von Belgrad und vom Kosovo. Die Milenkovics hatten ihre Tochter vom Gymnasium in Belgrad zurück nach Hause geholt. Zwar kreisten am 30. Mai schon um 10 Uhr Flugzeuge über der Stadt, aber das kam oft vor. Bomben waren noch nie gefallen. Es gab keine Soldaten in der Stadt, und die alte Stahlbrücke über die Große Morava hielt nur acht Tonnen Last aus - zu wenig für Militärkonvois. Es war Sonntag und einer der höchsten orthodoxen Festtage. Sanja ging mit zwei Freundinnen in die Kirche und dann auf den Sonntagsmarkt. Die Mädchen wollten nach Hause ans andere Flussufer, als um 13 Uhr die ersten Raketen einschlugen.
Warum nur diese Brücke? Die Nato sprach noch in einer Dokumentation vom 31. Oktober 1999 von einer "Highway Bridge", also der Brücke einer Fernstraße. So eine Brücke gebe es 15 Kilometer entfernt, sagt Wallow; über sie führe die Straße ins Kosovo. Eine Verwechslung? Oder ein Angriff, um die Bevölkerung einzuschüchtern? Das meint Harald Kampffmeyer, der mit Freunden 110 000 Euro gesammelt und den Prozess damit möglich gemacht hat. Haben die Piloten oder Waffensystemoffiziere nicht gesehen, dass Tausende in der Stadt waren? Der alte Luftwaffensoldat Wallow erinnert an das übliche Zielverfahren: Luftaufnahmen, gefertigt meist vom deutschen Aufklärungsgeschwader "Immelmann", wurden in satellitengestützte Steuerungssysteme eingespeichert; anhand dieser Fotos - nicht aktueller Videoaufnahmen - peilten die Besatzungen ihre Ziele an.
Das mag den ersten Angriff um 13 Uhr erklären, der drei Menschen tötete, aber nicht das, was danach passierte. Spätestens jetzt, das sagt auch Hans Wallow, hätten die Soldaten die Situation erfassen müssen: Die Brücke war zerstört, ein Auto mit zwei Insassen lag im Fluss, die Ufer waren voller Menschen. Sanja lebte noch und hockte auf einem Trümmerteil dicht über der Wasseroberfläche. Aus der Stadt kam der alte Tola Apostolovic gelaufen, den sie wegen seiner Herkunft den "Griechen" nannten, und wollte den Leuten im Wasser helfen. Auch Vojkan Stankovic wollte helfen, von dem seine Witwe Gordana immer wieder erzählt, dass er ihrer Tochter der beste Vater der Welt war. Um 13.06 Uhr kam die zweite Angriffswelle. Sieben Menschen starben, darunter Tola und Vojkan. Sanja konnte man noch ins Krankenhaus bringen, aber nicht mehr retten. Tolas Witwe, die Krankenschwester Jasmina Zivkovic, kann sich an kein vergleichbares Blutbad erinnern. Dass ihr Mann unter den Toten war, erfuhr sie erst später.
Kein Vertreter eines Nato-Staats hat sich jemals in Varvarin gemeldet. Bürgermeister Milenkovic wirbt heute dafür, dass sich Serbien und Montenegro der EU anschließen. Er gehörte zur Opposition gegen den serbischen Staatschef Milosevic. Seine Familie sieht er "stellvertretend für Milosevic bestraft". Und er möchte wissen, warum.
Aus: Kölnische Rundschau/Bonner Rundschau, 15.10.2003

***

Beim "Stern" berichtete in der Online-Ausgabe (www.stern.de) am Vorabend des Prozesses Erich Reimann:

Im Bonner Landgericht wird am Mittwoch Justizgeschichte geschrieben: Erstmals wird die Bundesrepublik Deutschland wegen eines Kriegseinsatzes im Rahmen der NATO auf Schadensersatz verklagt. 35 jugoslawische Staatsbürger verlangen von Berlin wegen eines Luftsangriffs des westlichen Bündnisses im Kosovo-Krieg Schadensersatz in Millionenhöhe. Damals wurden zehn Menschen getötet und über 30 verletzt. "Es ist ein Musterprozess", sagt der Sprecher des Bonner Landgerichts Daniel Radke.
Es geht um den 30. Mai 1999. Damals herrschte lebhaftes Treiben in dem serbischen 4.000-Einwohner-Städtchen Varvarin. In der Kirche wurde die Messe zum orthodoxen Dreifaltigkeitsfest zelebriert, auf dem benachbarten Wochenmarkt gefeilscht und gelacht. Vom Kosovo-Krieg war in dem entlegenen Dorf kaum etwas zu spüren.
Bis kurz nach 13 Uhr zwei F-16-Kampfjets der NATO die Brücke neben dem Ort mit vier lasergesteuerten 2000-Pfund-Bomben angriffen. Was dann geschah, beschreibt die Klageschrift in grausigen Details. (...)
Die NATO verteidigte den Angriff dagegen entschieden. Die Brücke habe eine wichtige Verbindungslinie für die serbische Armee dargestellt. Damit habe es sich um ein legitimes Ziel gehandelt. Zivilisten würden niemals mit Absicht angegriffen. Wahrheit oder Kriegspropaganda?
Dreieinhalb Jahre nach den blutigen Ereignissen wird nun die 1. Zivilkammer des Bonner Landgerichts nach Gerechtigkeit suchen müssen in dem blutigen Drama. Die Hamburger Rechtsanwältin Gül Pinar wirft der Bundesregierung, stellvertretend für die ganze NATO, in ihrer Klageschrift vor, eklatant gegen die Vorschriften des Genfer Protokolls zum Schutz von Zivilpersonen verstoßen zu haben: mit einem ohne Warnung durchgeführte Angriff auf eine militärisch unbedeutende Brücke ausgerechnet an einem kirchlichen Feiertag und Markttag. (...)
(...) An dem Angriff auf die Brücke von Varvarin seien weder deutsche Soldaten noch Flugzeuge der Bundeswehr beteiligt gewesen, hieß es in einer Erwiderung des Verteidigungsministeriums an die Kläger. Schon deshalb lasse sich das Verhalten der Piloten bei der Zerstörung der Brücke nicht Deutschland zurechnen. Außerdem hätten nach den Regeln des Völkerrechts im Krieg Zivilpersonen grundsätzlich keinen individuellen Anspruch auf Schadenersatz gegen den Kriegsgegner. Nun haben die Richter das Wort.
Aus: www.stern.de, 14.10.2003

***

Jürgen Elsässer beschreibt in der "jungen Welt" noch einmal den Hintergrund der Klage und die Haltung der Beschuldigten:

Am heutigen Mittwoch beginnt vor dem Landgericht Bonn ein Prozeß, der Rechtsgeschichte machen könnte: Zum ersten Mal wird nicht über Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschland, sondern der Bundesrepublik verhandelt. Serbische Bürger klagen gegenüber der Bundesregierung auf Schadensersatz, weil bei einem NATO-Bombardement ihres Heimatortes Varvarin am 30. Mai 1999 zehn Menschen getötet und 30 zum Teil schwer verletzt wurden, allesamt Zivilisten. Die Schröder-Regierung hat die Opfer "aufrichtig bedauert", im übrigen aber über ihre Anwälte mitteilen lassen, daß die 14 kriegsbeteiligten Tornados der Bundesluftwaffe genau jenen Angriff nicht mitgeflogen haben. Die Bundesregierung sei somit nicht haftbar zu machen, auch nicht "gesamtschuldnerisch" als NATO-Mitglied für das Bündnis insgesamt, wie die Kläger behaupten. Diese wiederum verweisen auf die Verantwortung, die die deutsche Führung bei der Auswahl des Zieles Varvarin trug.
Der Ort hatte keinerlei militärische Bedeutung, das Bombardement fand zum Zeitpunkt und in unmittelbarer Nähe eines großen Kirchenfestes statt. Trotzdem sprach die NATO von einem "legitimen Angriff auf eine Hauptnachschublinie der serbischen Armee". NATO-Pressesprecher Jamie Shea nannte Varvarin "ein ausgewähltes und gerechtfertigtes Ziel". Oberstleutnant Michael Kämmerer, in der Öffentlichkeitszentrale des NATO-Oberkommandos Europa im südbelgischen Mons für die deutsche Presse zuständig, räumte allerdings ein, daß Varvarin lediglich ein "Sekundärziel" gewesen ist. Mit anderen Worten: Das eigentlich ausgewählte Angriffsobjekt war schon zerstört gewesen, deshalb hat man einen Ersatz gesucht.
Wer hat Varvarin als Bombenziel ausgewählt? Die NATO weigerte sich gegenüber Reiner Luyken von der Zeit, die Namen der Piloten zu nennen, selbst ihre Nationalität wurde verschwiegen. Wer gab den Piloten die Befehle? Die Ziele für jeden Einsatz wurden vom Deskofficer des Combined Allied Operations Command im italienischen Vicenca zusammengestellt. Grundlagen waren Ziellisten, die - so die Washington Post - ein NATO-Planungsstab angefertigt hatte und die von den politischen Spitzen der NATO-Staaten - Clinton, Blair, Jospin und auch Schröder - abgesegnet worden waren. Bekannt ist, daß die französische Regierung in einigen Fällen erfolgreich ihr Veto gegen die Bombardierung ziviler Ziele, etwa von Donaubrücken, eingelegt hatte.
Sekundärziele, so Oberstleutnant Kämmerer, wurden allerdings ohne politische Gegenkontrolle festgelegt. Nach Meinung von Paul Beaver von der Fachzeitschrift Jane's Defense Weekly wurden die Koordinaten dieser Ausweichziele den Piloten von den Awacs-Flugzeugen mitgeteilt, also den fliegenden NATO-Kommandozentralen. An Bord waren auch deutsche Spezialisten und Offiziere. Die Bundesregierung hat sich über ihre Anwälte gegen die Behauptung verwahrt, die NATO habe 1999 "einen gegen die Zivilbevölkerung gerichteten Angriffskrieg geführt". "Der Umstand, daß es nur in 0,4 bis 0,9 Prozent der Einsatzfälle zu zivilen Opfer kam", wird als Beleg angeführt. Diese Statistik verschweigt das Verhältnis zwischen militärischen Treffern und den sogenannten Kollateralschäden: In 78 Tagen Bombenkrieg zerstörte die NATO nur 14 jugoslawische Panzer, aber 48 Krankenhäuser, 74 TV-Stationen und 422 Schulen. 20000 Splitterbomben liegen noch heute als Blindgänger in der Erde und können jederzeit explodieren. Über 2000 jugoslawische Zivilisten wurden getötet, ein Drittel davon Kinder. Dem stehen 1000 gefallene Polizei- und Armeeangehörige gegenüber.
Wenn das Bonner Landgericht die Klage nicht gleich zu Beginn abweist, müßte in einer umfangreichen Beweisaufnahme geklärt werden, welche Rolle deutsche Stellen bei der Auswahl der Bombenziele trugen. Generäle, Verteidigungsminister und Kanzler im Zeugenstand, womöglich im Kreuzverhör, schließlich auf der Anklagebank - das hätte die Republik noch nicht gesehen.
Aus: junge Welt, 15.10.2003

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Die Berliner Zeitung berichtet über den Prozess unter der Überschrift: "Kosovo-Krieg - Kriegsverbrechen oder nicht?" In dem Artikel heißt es u.a.:

(...) Bis heute hält die Nato geheim, aus welchem Land die am Angriff beteiligten Kampfjets stammten. Aus Sicht der Klägeranwälte ist dies für die Schadenersatzklage aber auch unerheblich. Da Bundestag und Bundesregierung die Mitwirkung Deutschlands am Kosovo-Krieg beschlossen hätten, trüge Deutschland auch die völkerrechtliche Verantwortung für die Verletzung des Kriegsrechts mit und sei für eingetretene Schäden haftbar, argumentieren sie.
Die Bundesregierung weist diese Argumentation zurück. Es bestehe keine Verbindung zwischen dem politischen Beschluss zum Angriff auf Jugoslawien und der Militäraktion gegen die Brücke von Varvarin, begründen die Anwälte ihre Position. Außerdem verweisen sie auf die Staatenimmunität, wonach einzelne Bürger nicht gegen Staaten klagen dürfen.
Aus: Berliner Zeitung, 15.10.2003

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Die Süddeutsche Zeitung bringt die entscheidende Frage, um die es im Prozess geht, auf den Punkt:

(...) Dabei geht es weniger um die Frage, ob der Kosovo-Krieg insgesamt völkerrechtswidrig war. Entscheidend ist der konkrete Angriff auf die Brücke von Varvarin. Laut der Nato war sie ein "legitimes militärisches Ziel". Die zivilen Opfer waren demnach unvermeidliche "Kollateralschäden".
In der Klageschrift heißt es dagegen: "Der gesamte Angriff war darauf ausgerichtet, Angst und Schrecken unter der Zivilbevölkerung zu verbreiten." Die Brücke sei in keiner Weise militärisch genutzt worden. Die Angreifer hätten daher gegen das Völkerrecht zum Schutz von Zivilisten verstoßen, wie es in den Haager und Genfer Konventionen festgesetzt ist. Als Folge hafte Deutschland den Opfern.
Aus: Süddeutsche Zeitung, 15.10.2003


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