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"Selbst Folter ist in Rechtsstaaten kein Tabu mehr"

Jahresbericht 2004 von amnesty international veröffentlicht

Im Folgenden dokumentieren wir die Presseerklärung, die amnesty internationale am 26. Mai 2004 anlässlich der Veröffentlichung des "Jahresberichts 2004" herausgab. Daran schließen sich Auszüge aus dem Vorwort des Jahresberichts an. Die Autorin, Irene Zubaida Khan, ist die Generalsekretärin von ai.

Pressemitteilung

Jahresbericht 2004 von amnesty international

ai: Widerstand gegen Angriffe auf Grundwerte leisten!

Regierungen relativieren Völker- und Menschenrechtsstandards / Selbst Folter ist in Rechtsstaaten kein Tabu mehr / Schwerste Menschenrechtsverletzungen durch bewaffnete Gruppen 2003 kaum wahrgenommen / Zivilbevölkerung, insbesondere Frauen sind Hauptleidtragende / Für Deutschland unabhängige Kontrollstelle für Missbrauch von Polizeigewalt gefordert

Berlin, 26. Mai 2004 - „Das Handeln von Regierungen im Namen einer einseitigen Sicherheitsstrategie gerät zunehmend zur Kriegserklärung an menschen- und völkerrechtliche Grundwerte.“ Dies stellte Barbara Lochbihler, Generalsekretärin der deutschen Sektion von amnesty international (ai), anlässlich der Vorstellung des ai-Jahresberichts 2004 fest. „Die Bilder gefolterter Iraker wie die fortgesetzte Behandlung Gefangener in US-Gewahrsam von Afghanistan bis Guantánamo zeigen: Selbst absolute Verbote des Völkerrechts wie das Folterverbot sind in Rechtsstaaten keine Tabus mehr.“ In Deutschland ist die Debatte um die Zulässigkeit von Folter nicht verstummt. „Es ist an der Zeit, hier klare Grenzen zu ziehen und Widerstand zu leisten“, sagte Lochbihler. Für die Foltervorfälle und die Erschießung unbewaffneter Zivilisten im Irak fordert ai eine unabhängige Untersuchungskommission unter ziviler Leitung. Alle Gefangenen müssen umgehend Kontakt zu Anwälten und Familienangehörigen aufnehmen dürfen. Menschenrechtsorganisationen müssen uneingeschränkt und unangemeldet Zugang zu allen Haftanstalten erhalten.

Bewaffnete oppositionelle Gruppen haben 2003 in insgesamt 35 Ländern schwere Menschenrechtsverletzungen wie Tötungen von Zivilisten, Folter, Geiselnahmen und Entführungen begangen. Besonders betroffen davon sind Frauen. Sie werden u. a. Opfer massenhafter Vergewaltigungen. Bei bewaffneten Konflikten wie in der Demokratischen Republik Kongo oder in der sudanesischen Region Darfur werden hunderttausendfach schwerste Menschenrechtsverletzungen begangen, von denen die Weltöffentlichkeit kaum Notiz nimmt. Im Kosovo werden nach Ende des Konflikts Frauen und Mädchen in die Prostitution gezwungen. Die Präsenz internationaler Truppen und Organisationen hat im Kosovo - wie auch in anderen Postkonfliktgebieten - das Blühen der illegalen Sexindustrie begünstigt. „Hier müssen Regierungen endlich wirksam Abhilfe schaffen“, sagte Lochbihler.

In Deutschland dringt ai darauf, dass eine unabhängige Beschwerde- und Kontrollstelle für Übergriffe durch Polizisten eingerichtet wird. Ein im Januar 2004 veröffentlichter ai-Bericht hat erneut deutlich gemacht, dass Missbrauch von Polizeigewalt ein Strukturproblem ist, das unabhängiger Kontrolle bedarf. Kürzlich hat das Menschenrechtskomitee der UN Deutschland aufgefordert, eine solche Stelle einzurichten.

Für das Jahr 2003 dokumentiert der neue ai-Jahresbericht Menschenrechtsverletzungen in 155 Ländern (2002: 151). In 132 (106) Staaten wurden Menschen von Sicherheitskräften, Polizisten oder anderen Staatsangehörigen gefoltert und misshandelt. In 63 (61) Ländern wurden Menschen zum Tode verurteilt, in 28 (31) Ländern wurden 1.146 (1.500) Todesurteile ausgeführt. In mindestens 47 (42) Ländern wurden Menschen Opfer staatlicher Morde. In 28 (33) Ländern „verschwanden“ Personen. Gewaltlose politische Gefangene gab es in 44 (34) Ländern.

Quelle: Homepage von ai: www.amnesty.de

Auszüge aus dem Vorwort

zum Jahresbericht 2004 von Amnesty International

Von Irene Zubaida Khan*


(...) Die derzeitigen Herausforderungen für die internationale Menschenrechtsbewegung sind gewaltig, denn den Menschenrechten droht von allen Seiten Gefahr. Wir dürfen nicht zulassen, dass bewaffnete Gruppen und Einzelpersonen in verantwortungsloser, grausamer und krimineller Weise gegen die Menschenrechte verstoßen. Wir müssen uns den Rückschlägen entgegenstemmen, die den Menschenrechten durch eine einseitige globale Sicherheitsstrategie zugefügt worden sind. Es ist unsere Aufgabe, Regierungen und die internationale Staatengemeinschaft in die Pflicht zu nehmen, damit sie ihrer Verantwortung für die Wahrung sozialer und wirtschaftlicher Rechte endlich nachkommen.

Die Tragödie in Bagdad (Anschlag auf das UN-Gebäude am 19. August 2003, siehe: "Erklärung des Präsidenten des UN-Sicherheitsrats") hat erneut deutlich gemacht, welche Gefahr für die weltweite Sicherheit von Akteuren ausgehen kann, die zur Erreichung ihrer politischen Ziele jedes Mittel einzusetzen bereit sind. Wir verurteilen ihr Vorgehen unmissverständlich als Verstoß gegen die Menschenrechte und humanitäres Völkerrecht. Dafür müssen sie in Übereinstimmung mit internationalen Standards der Fairness vor Gericht gebracht werden. Die Verweigerung fairer Gerichtsverfahren stellt als solche eine Menschenrechtsverletzung dar und beinhaltet die Gefahr, dass aus Menschenrechtsverbrechern Märtyrer werden. Aus diesem Grund rufen wir dazu auf, Saddam Hussein in einem Verfahren den Prozess zu machen, der keinerlei Zweifel an Rechtsstaatlichkeit und Fairness aufkommen lässt. Aus dem gleichen Grund wenden wir uns auch gegen die Militärkommissionen in den USA, vor denen sich auf dem US-Stützpunkt Guantánamo Bay in Kuba inhaftierte Personen in unfairen Prozessen verantworten müssen.

Ohne die Wahrung der Menschenrechte wird es keine dauerhafte Sicherheit geben. Die von der US-Administration propagierte weltweite Sicherheitsagenda entbehrt jeder Zukunftsperspektive und Konzeption. Die Regierung in Washington sollte sich klar machen, dass Einschränkungen der Menschenrechte im eigenen Land, ihre Ignoranz gegenüber Menschenrechtsverstößen in Drittstaaten und willkürliche präventive Militärschläge keineswegs dazu beitragen, Sicherheit und Freiheitsrechte zu fördern.

Die Situation weltweit ist alarmierend. In Irak wächst der Widerstand gegen die Besatzungsmächte, Afghanistan droht im Chaos zu versinken, im Nahen Osten dreht sich die Spirale der Gewalt unaufhörlich weiter, und in Städten überall auf der Welt verbreiten Selbstmordattentate Angst und Schrecken unter der Bevölkerung. In der Volksrepublik China haben die Uighuren unter unsäglicher Repression zu leiden, in Ägypten geht der Staat unerbittlich und mit harter Hand gegen Islamisten vor. Die im Zuge bewaffneter Konflikte in Tschetschenien, Kolumbien, der Demokratischen Republik Kongo und Nepal verübten Verstöße gegen die Menschenrechte und humanitäres Völkerrecht werden von der Weltöffentlichkeit kaum noch zur Kenntnis genommen.

Die weithin zu beobachtende Doppelzüngigkeit fügt den Menschenrechten großen Schaden zu. Die USA und ihre Verbündeten haben den Schutz der Menschenrechte als einen ihrer Beweggründe für die militärische Intervention in Irak ins Feld geführt, zugleich aber unverhohlen menschenrechtliche Grundsätze dem "Krieg gegen den Terror" geopfert. Mit der Invasion in Irak sollte vorgeblich die Bedrohung der Welt durch Massenvernichtungswaffen eingedämmt werden. So gut wie keine Beachtung fand dagegen die Tatsache, dass alljährlich eine halbe Million Menschen ihr Leben verlieren, weil Kleinwaffen und konventionelle Waffen hemmungslos in alle Welt transferiert werden. Im Gegenteil haben viele Staaten unter Berufung auf den "Krieg gegen den Terror" ihre Rüstungsexportrichtlinien gelockert und Waffenlieferungen an Staaten möglich gemacht, deren Menschenrechtsbilanz erschreckend ist. Dazu zählen Indonesien, Israel und besetzte Gebiete sowie Kolumbien. Der unkontrollierte Handel mit Waffen setzt unser aller Leben aufs Spiel, in Kriegs- wie in Friedenszeiten.

Die militärische Intervention in Irak und der "Krieg gegen den Terror" haben eine der größten Bedrohungen für die Menschenrechte weltweit in den Hintergrund geraten lassen. Einige Quellen gehen davon aus, dass in den Entwicklungsländern alljährlich rund 22 Milliarden US-Dollar in Waffenkäufe investiert werden. Eine jährliche Summe von zehn Milliarden US-Dollar würde schon ausreichen, um für die Menschen in diesen Ländern eine Grundschulausbildung sicherzustellen. Mit ihrer Prioritätensetzung brechen die Entwicklungsländer ihr Versprechen, gegen Armut und wirtschaftliche wie soziale Ungerechtigkeit vorgehen zu wollen.

Einige Analysten warnen vor der ernsthaften Gefahr, dass die UN-Millenniumsziele für Entwicklung verfehlt werden, weil weltweit die verfügbaren Ressourcen verstärkt in den "Krieg gegen den Terror" fließen. Zu den Millenniumszielen zählen die Reduzierung der Sterblichkeitsrate von Kindern und schwangeren Frauen, die Gewährleistung einer Grundschulausbildung für alle Kinder der Welt und die Halbierung der Anzahl der Menschen, die keinen Zugang zu sauberem Wasser haben.

Vor allem Menschen, die unter Armut und sozialer Ausgrenzung leiden, wird Gerechtigkeit meist verwehrt. Ihre Situation würde sich deutlich verbessern, wenn rechtsstaatliche Grundsätze und fundamentale Menschenrechte in fairer Weise durchgesetzt würden. Im Diskurs über die Unteilbarkeit der Menschenrechte spielen die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte nach wie vor nur eine untergeordnete Rolle, so dass für den weitaus größten Teil der Weltbevölkerung die Menschenrechte ein eher theoretisches Konstrukt darstellen. Dass im Irak-Krieg dem Schutz von Ölförderanlagen offensichtlich mehr Priorität beigemessen wurde als dem von Krankenhäusern, war sicherlich kein Zufall.

Multinationale Konzerne verfolgten ihre Wirtschaftsinteressen weiterhin vielfach ohne jede Rücksicht auf die Menschenrechte und beriefen sich darauf, dass ihre Verantwortung und Rechenschaftspflicht im Hinblick auf die Menschenrechte keine gesetzliche Verankerung habe. Die von den Vereinten Nationen im Jahr 2003 verabschiedeten Menschenrechtsnormen für die Wirtschaft waren deshalb ein wichtiger Schritt auf dem Weg, Privatfirmen menschenrechtlich in die Pflicht zu nehmen, leider verbündeten sich jedoch Regierungen und Wirtschaft in ihrer gemeinsamen Ablehnung der Normen.

Was können wir tun gegen anhaltende Menschenrechtsverletzungen, Straflosigkeit und den Missbrauch der Menschenrechte für politische Zwecke?

Wir müssen die Welt davon überzeugen, dass die Wahrung der Menschenrechte uns allen eine bessere Zukunft und mehr Gerechtigkeit verspricht. Frauen wie Amina Lawal aus Nigeria, deren Todesurteil erst nach massiven Protesten aus aller Welt aufgehoben worden ist, brauchen unsere Unterstützung ebenso wie Menschenrechtsverteidigerinnen wie Valdenia Paulino, die sich in den Slums von Sao Paulo in Brasilien gegen Polizeibrutalität engagiert.

Die Welt darf in Zeiten der Unsicherheit ihr Augenmerk nicht allein auf die Abwehr globaler Bedrohungen richten, sondern muss auch für globale Gerechtigkeit eintreten. In Lateinamerika zeichnet sich dank des Engagements unzähliger Menschenrechtsaktivisten eine Umkehr des Trends der Straflosigkeit für die massiven Menschenrechtsverbrechen der Vergangenheit ab. Und ungeachtet aller Versuche der USA, die Hoffnung auf weltweite Gerechtigkeit zunichte zu machen und ihre eigenen Staatsbürger vor internationaler Strafverfolgung zu schützen, wurde im Berichtszeitraum nach der Wahl von Richtern auch ein Chefankläger für den Internationalen Strafgerichtshof ernannt. In den USA und Großbritannien haben Gerichte - wenn auch zögerlich - damit begonnen, im Namen des "Krieges gegen den Terror" eingeführte Einschränkungen der Menschenrechte einer Überprüfung zu unterziehen.

Die Menschenrechte beinhalten für Millionen Menschen auf der Welt das Versprechen von Gerechtigkeit und Gleichheit. Durch jüngst vollzogene Gesetzesänderungen in Marokko wurde in der Region ein neues Kapitel auf dem Weg zur Gleichstellung der Geschlechter aufgeschlagen. Gestützt auf die Macht der Menschenrechte setzen sich die Mitglieder von Amnesty International gemeinsam mit Frauenrechtsaktivistinnen und vielen anderen für ein weltweites Ende der Gewalt an Frauen ein. Wir fordern Entscheidungsträger, Organisationen und jeden Einzelnen auf, gegen Gesetze, Praktiken und Einstellungen aktiv zu werden, die der Gewalt gegen Frauen Vorschub leisten.

Von den Menschenrechten gehen für die Welt positive Veränderungen aus. Amnesty International hat zusammen mit Oxfam und dem Internationalen Aktionsbündnis gegen Kleinwaffen eine Kampagne gegen den unkontrollierten Waffenhandel gestartet. Skeptikern, die darin ein fruchtloses Unterfangen sehen, halten wir entgegen, dass ähnliche gemeinsame Initiativen bereits zum Verbot von Landminen und zur Schaffung des Internationalen Strafgerichtshofs geführt haben. Mit Hilfe öffentlichen Drucks und der Unterstützung verantwortungsbewusster Regierungen werden wir Veränderungen erzwingen.

Die erzielten Fortschritte können gleichwohl nicht über die nach wie vor immensen Bedrohungen der Menschenrechte hinwegtäuschen. Wir leben in einer instabilen Welt, durch die sich tiefe Gräben ziehen und in der die Bedeutung der Menschenrechte tagtäglich auf dem Prüfstand steht und die Legitimität der Arbeit von Menschenrechtsverteidigern in Zweifel gezogen wird. Auf Seiten von Regierungen, internationalen Institutionen, bewaffneten Gruppen und korporativen Akteuren sind hingegen zunehmend "Verantwortlichkeitslücken" auszumachen. Genau aus diesem Grund braucht die Welt eine starke Menschenrechtsbewegung, die entschlossen ist, Dinge zu verändern.

* Irene Zubaida Khan ist Generalsekretärin der Menschenrechtsorganisation Amnesty International. Die 1956 in Bangladesch geborene Juristin hat zuvor für das UN-Flüchtlingskommissariat gearbeitet. Angefangen hatte sie als Beraterin für Projektbüros der Organisation vor Ort. 1995 wurde sie Leiterin der Vertretung des UNHCR in Indien und damit die bisher jüngste Ländervertreterin. 1998 bis 1999 leitete sie das Dokumentations- und Forschungszentrum und entwickelte ein Forschungsprogramm. Zuletzt war sie stellvertretende Direktorin der Abteilung für Internationalen Rechtsschutz.
Die Frankfurter Rundschau veröffentlichte diesen Auszug aus dem Vorwort auf ihrer Dokumentationsseite am 27. Mai 2004


Den Jahresbericht 2004 gibt es als Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main: Fischer-Verlag 2004, 672 Seiten, 12,90 EUR.



Siehe auch die Länderberichte über Israel und Irak:
Irak: "Folterungen und Misshandlungen durch Angehörige der Koalitionstruppen waren weit verbreitet"
amnesty international legt Jahresbericht 2004 vor und erhebt schwere Vorwürfe gegen Kriegsallianz (27. Mai 2004)
Zahlreiche Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen im israelisch-palästinensischen Konflikt
amnesty international legt ihren Jahresbericht 2004 vor. Schwere Vorwürfe gegen Israel (27. Mai 2004)



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