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Irak: "Folterungen und Misshandlungen durch Angehörige der Koalitionstruppen waren weit verbreitet"

amnesty international legt Jahresbericht 2004 vor und erhebt schwere Vorwürfe gegen Kriegsallianz

Am 26. stellte amnesty international (ai) ihren Jahresbericht 2004 vor ( Fischer Taschenbuch, 672 S., Mai 2004). Für das Jahr 2003 dokumentiert der neue ai-Jahresbericht Menschenrechtsverletzungen in 155 Ländern (2002: 151). In 132 (106) Staaten wurden Menschen von Sicherheitskräften, Polizisten oder anderen Staatsangehörigen gefoltert und misshandelt. In 63 (61) Ländern wurden Menschen zum Tode verurteilt, in 28 (31) Ländern wurden 1.146 (1.500) Todesurteile ausgeführt. In mindestens 47 (42) Ländern wurden Menschen Opfer staatlicher Morde. In 28 (33) Ländern „verschwanden“ Personen. Gewaltlose politische Gefangene gab es in 44 (34) Ländern.
Im Länderbericht über Irak stellte ai eine Vielzahl von Menschenrechtsverletzungen und Verstößen gegen die Genfer Konvention fest - und zwar auch und gerade nach der offiziellen Beendigung des Krieges am 1. Mai 2003. Wir dokumentieren im Folgenden Auszüge aus dem entsprechenden Länderbericht.



IRAK

Berichtszeitraum 1. Januar bis 31. Dezember 2003

Im März begann unter Führung der USA der von den Koalitionsstreitkräften gegen den Irak geführte Krieg, der unter der irakischen Zivilbevölkerung Hunderte Menschenleben und Tausende Verletzte forderte. Massengräber mit den Leichen Tausender Opfer von Menschenrechtsverletzungen, die unter der Herrschaft von Saddam Hussein begangen worden waren, wurden geöffnet. Im Berichtsjahr wurden mehrere tausend Personen festgenommen und ohne Anklage oder Gerichtsverfahren inhaftiert. Als nach dem Ende der Kriegshandlungen Recht und Ordnung im Irak faktisch außer Kraft gesetzt waren, fielen unzählige Frauen Entführungen, Vergewaltigungen und Morden zum Opfer. Folterungen und Misshandlungen durch Angehörige der Koalitionstruppen waren weit verbreitet. Bewaffnete Gruppen zeichneten für schwere Menschenrechtsverstöße verantwortlich. Zahlreiche Zivilpersonen, unter ihnen ausländische Staatsangehörige, wurden bei Anschlägen getötet. Bei einem Bombenanschlag auf das UN-Hauptquartier im August starben 22 Menschen.
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Im Berichtsjahr wurde nur wenig unternommen, um Menschenrechtsverletzungen der Vergangenheit, beispielsweise das »Verschwindenlassen« einer großen Anzahl von Menschen, zu untersuchen, die Verantwortlichen für Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord und Kriegsverbrechen vor Gericht zu bringen und den Opfern Entschädigungs- oder Wiedergutmachungsleistungen zuzusprechen. Im Dezember jedoch schuf der Regierungsrat ein Statut für ein irakisches Sondergericht, welches gegen Saddam Hussein und andere ehemalige Vertreter des Staates verhandeln soll. Das Gericht kann auch die Todesstrafe verhängen. Ebenfalls im Dezember rief der Regierungsrat einen Ausschuss für Wahrheit und Versöhnung ins Leben.
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Die Menschenrechtslage während des Krieges

Im Zuge der Kriegshandlungen töteten die Streitkräfte der USA und Großbritanniens Hunderte Zivilpersonen. Einige wurden Opfer von Streubomben, andere starben unter ungeklärten Umständen. Nicht detonierte Teilsprengkörper der Streubomben stellten eine Gefahr für die Zivilbevölkerung und insbesondere für Kinder dar.

Während des Krieges griffen die irakischen Streitkräfte zu widerrechtlichen Taktiken, mit denen sie die Zivilbevölkerung gefährdeten. So haben sie Waffen in der unmittelbaren Umgebung von Wohngebieten stationiert oder Zivilkleidung getragen, um Überraschungsangriffe zu starten.

Am 31. März eröffneten Soldaten das Feuer auf ein unbekanntes Fahrzeug, das sich unweit von al-Najaf einer von ihnen errichteten Straßensperre näherte. Dabei wurden zehn der 15 Insassen, unter ihnen Kinder, getötet.

Am 1. April wurden bei einem Bombenangriff auf die südöstlich von Bagdad gelegene Ortschaft al-Hilla nach vorliegenden Meldungen mindestens 33 Zivilpersonen, unter ihnen viele Kinder, getötet. Vermutlich haben die US-amerikanischen Streitkräfte bei ihrem Angriff Streubomben eingesetzt.

Menschenrechtsverletzungen nach dem Ende des Krieges

Exzessive Gewaltanwendung

Zahlreiche Menschen starben vermutlich wegen exzessiver Gewaltanwendung durch die US-Truppen oder wurden unter ungeklärten Umständen erschossen.

Bei mehreren Vorfällen erschossen oder verwundeten US-Soldaten zahlreiche irakische Demonstranten. So wurden am 15. April in Mosul Berichten zufolge sieben Personen erschossen und viele weitere verwundet. Am 29. April starben in Falluja mindestens 15 Menschen an Schusswunden, unter ihnen Kinder. 70 weitere Personen erlitten Verletzungen. Am 18. Juni wurden vor dem Republikanischen Palast in Bagdad zwei Demonstranten erschossen.

Am 14. Mai durchbrachen zwei mit Waffen bestückte Fahrzeuge der US-Armee in Ramadi die um das Haus von Sa’adi Suleiman Ibrahim al-’Ubaydi gezogene Mauer. Die Soldaten prügelten mit ihren Gewehrkolben auf den Mann ein und erschossen ihn, als er zu fliehen versuchte.

Am 26. Juni erschossen US-Soldaten den 12-jährigen Mohammad al-Kubaisi, als sie in der Nähe seines im Gebiet von Hay al-Jihad in Bagdad gelegenen Hauses eine Durchsuchungsaktion durchführten. Als der Junge von der Kugel getroffen wurde, war er gerade dabei, das Bettzeug der Familie auf das Dach des Hauses zu tragen. Nachbarn versuchten noch, ihn rasch in das nahe gelegene Krankhaus zu bringen, wurden jedoch von US-Soldaten unterwegs angehalten und wieder zurückgeschickt. Als sie das Haus der Familie erreichten, war Mohammad al-Kubaisi schon tot. Gegenüber einer Delegation von amnesty international erklärten CPA-Vertreter im Juli, Mohammad al-Kubaisi habe eine Waffe getragen, als er getötet wurde.

Am 17. September wurden ein 14-jähriger Junge erschossen und sechs Menschen verwundet, als US-Soldaten in Falluja das Feuer auf die Gäste einer Hochzeitsfeier eröffneten. Diese hatten zur Feier des Tages Freudenschüsse abgegeben, woraufhin die Soldaten glaubten, sie würden angegriffen.

Am 23. September wurden drei Bauern – ‘Ali Khalaf, Sa’adi Faqri und Salem Khalil – getötet und drei weitere Personen verletzt, als US-amerikanische Truppen in dem nahe Falluja gelegenen Dorf al-Jisr ihr Haus mindestens eine halbe Stunde lang unter Sperrfeuer nahmen. Ein Vertreter der US-Armee erklärte, die Truppen seien angegriffen worden, eine Version, die von den Angehörigen der Toten strikt zurückgewiesen wurde. Noch am Tag des Vorfalls erschienen Berichten zufolge Vertreter der US-Armee bei dem Bauernhaus, machten Fotoaufnahmen und entschuldigten sich bei der Familie.

Inhaftierung ohne Kontakt zur Außenwelt

Sämtliche Personen, die in Gefängnissen und Haftzentren der Koalitionsstreitkräfte – etwa Camp Cropper am Internationalen Flughafen von Bagdad (welcher im Oktober geschlossen wurde), im Abu-Ghraib-Gefängnis oder in den Haftzentren am Flughafen von Habbaniya und in Um Qasr – festgehalten wurden, erhielten unterschiedslos weder die Möglichkeit, Kontakt zu ihren Familien oder Rechtsanwälten aufzunehmen, noch die Gelegenheit, ihre Inhaftierung gerichtlich überprüfen zu lassen. Einige von ihnen wurden mehrere Wochen oder Monate festgehalten, andere offenbar zeitlich unbegrenzt.
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Folterungen und Misshandlungen

Wiederholt wurde über Folterungen und andere Misshandlungen durch die Koalitionsstreitkräfte berichtet. In ihrem Gewahrsam befindliche Personen waren in Zelten untergebracht, in denen sie unter extremer Hitze litten, und wurden nur unzureichend mit Wasser versorgt. Auch die Waschgelegenheiten waren mangelhaft, und als Toiletten standen ihnen nur offene Gräben zur Verfügung. Sie durften ihre Kleidung nicht wechseln, und auch Bücher, Zeitungen, Rundfunkgeräte oder Schreibutensilien waren verboten. Routinemäßig sahen sich die Häftlinge in den ersten 24 Stunden ihres Gewahrsams grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt. Die von den US-Truppen verwendeten Handschellen aus Plastik verursachten ihnen unnötige Schmerzen. Ehemalige Häftlinge erklärten, man habe sie gezwungen, mit dem Gesicht auf dem Boden zu liegen, sie seien mit Handschellen gefesselt worden, man habe ihnen Kapuzen über den Kopf gezogen oder ihnen die Augen verbunden und ihnen weder Wasser noch Nahrung oder die Möglichkeit zum Toilettenbesuch gegeben. Ferner gingen amnesty international Vorwürfe über Folterungen und Misshandlungen durch die Truppen der USA und Großbritanniens zu. Zu den geschilderten Methoden zählten Schlafentzug über lange Zeiträume hinweg; lang anhaltendes Verharren in schmerzhaften Positionen, bisweilen zusammen mit lauter Musik; lang andauerndes Vermummen mit Kapuzen und grelles Licht. Wiederholt soll es auch bei Hausdurchsuchungen zu Übergriffen durch US-Soldaten gekommen sein, darunter Plünderungen und die mutwillige Zerstörung von Eigentum. Praktisch keiner dieser Vorwürfe über Folterungen und Misshandlungen ist hinreichend untersucht worden.

Abdallah Khudhran al-Shamran, ein saudischer Staatsangehöriger, wurde Anfang April, als er von Syrien nach Bagdad reiste, in al-Rutba von US-Soldaten und mit ihnen alliierten Irakern festgenommen. Man brachte ihn an einen unbekannten Ort, wo er nach eigenen Angaben geschlagen, mit Elektroschocks gefoltert und an den Beinen aufgehängt wurde. Außerdem habe man ihm seinen Penis abgebunden und ihn am Schlafen gehindert. Vier Tage lang wurde Abdallah Khudhran al-Shamran an diesem Ort festgehalten und dann in ein Lagerkrankenhaus in Um Qasr verlegt. Dort wurde er verhört und anschließend ohne Geld oder Pass auf freien Fuß gesetzt. Er wandte sich umgehend an einen britischen Soldaten, der ihn wiederum zu einem anderen Haftort brachte. Später verlegte man ihn in ein militärisches Feldkrankenhaus, wo er erneut verhört und gefoltert wurde, dieses Mal, indem man ihn lange Zeit der Sonne aussetzte, ihn in einen Container einsperrte und ihm drohte, ihn hinzurichten.

Auch neun Iraker, die am 14. September von Angehörigen des britischen Militärs in Basra festgenommen worden waren, wurden Berichten zufolge Opfer von Folterungen. Alle neun Männer arbeiteten in einem Hotel in Basra, in dem nach vorliegenden Berichten Waffen gefunden worden waren. Baha‘ al-Maliki, der Rezeptionist des Hotels, starb drei Tage nach seiner Festnahme. Wie es hieß, war sein Leichnam blutverschmiert und mit schweren Blutergüssen bedeckt. Ein anderer Mann, Kefah Taha, wurde in kritischem Zustand in ein Krankenhaus eingewiesen, weil er an Nierenversagen und schweren Prellungen litt.

Gewalt gegen Frauen

Als nach dem Krieg Recht und Ordnung im Irak nicht mehr gewährleistet waren, wurden Frauen und Mädchen zunehmend Opfer gewaltsamer Übergriffe wie Entführung, Vergewaltigung und Mord. Viele Frauen verließen aus Furcht ihre Häuser nicht mehr, und Mädchen wurden am Schulgang gehindert. Frauen, die auf der Straße oder zu Hause Opfer von Gewaltakten geworden waren, hatten praktisch keine Hoffnung auf Hilfe durch die Justiz.

Im Mai wurde in Bagdad die junge Ingenieurin Asma entführt. Sie war mit ihrer Mutter, ihrer Schwester und einem männlichen Angehörigen beim Einkaufen, als sechs Männer begannen, herumzuschießen. Asma wurde gezwungen, einen Wagen zu besteigen, der sie zu einem außerhalb von Bagdad gelegenen Bauernhaus brachte, wo sie wiederholt vergewaltigt wurde. Einen Tag darauf fuhr man sie zurück in die Nähe ihres Elternhauses, wo man sie aus dem Wagen stieß.

Menschenrechtsverstöße durch bewaffnete Gruppen

Von Mai an gab es eine zunehmende Zahl von Anschlägen bewaffneter Gruppen gegen militärische Ziele der USA, irakische Sicherheitsdienste, von Irakern kontrollierte Polizeistationen, Religionsführer oder religiöse Einrichtungen, Medienvertreter, Nichtregierungsorganisationen und UN-Stellen. Bei diesen Anschlägen kamen Hunderte Zivilpersonen ums Leben, unter ihnen ausländische Staatsangehörige.

Im August wurde ein Bombenanschlag auf das UN-Hauptquartier in Bagdad verübt, dem 22 Menschen zum Opfer fielen, unter ihnen Sergio Vieira de Mello, der UN-Sonderbeauftragte im Irak. Im September starben bei einem Bombenanschlag in der Nähe des UN-Hauptquartiers der Selbstmordattentäter und ein Wachmann. 19 weitere Personen wurden verletzt.

Bei einem Autobombenanschlag in al-Najaf im August wurden Ayatollah Muhammad Baqer al-Hakim, Vorsitzender des Schiitischen Obersten Rates für eine Islamische Revolution im Irak, sowie 80 weitere Personen getötet. Mindestens 240 Menschen wurden verletzt.

Im September starb ‘Aqila al-Hashimi, Mitglied des Irakischen Regierungsrates, in einem Krankenhaus, nachdem ihr Fahrzeug wenige Tage zuvor in Bagdad unter Feuer genommen worden war.

Im Oktober forderte ein Bombenanschlag auf das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) zwölf Menschenleben und mindestens 15 Verletzte.
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Auszug aus dem ai Jahresbericht 2004


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