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Präventiv-Krieg oder Präemptiv-Krieg?

Der Irakkrieg als Beispiel für die "Enthegung des Völkerrechts"

Im Folgenden dokumentieren wir einen Artikel aus der Wochenzeitung "Freitag", der zur Aufklärung über eine Begriffsverwirrung beiträgt: Präventivkrieg und Präemptivkrieg sind nämlich nicht dasselbe, erklärt Ulrich Arnswald, Darmstadt/Heidelberg.


Von Ulrich Arnswald*

Der Irak-Krieg hat nicht die Kriterien eines Präventivkrieges erfüllt. Amerika forderte auch keinen Präventivkrieg, sondern einen Präemptivkrieg. Was ist eigentlich der Unterschied? Erstaunlicherweise liest man darüber nichts, obwohl offensichtlich sein müsste, dass ein Präventivkrieg nicht deckungsgleich mit einem Präemptivkrieg ist.

Während ein Präventivkrieg die Erfüllung von Kriterien fordert, um etwa die unmittelbare Gefahr der beabsichtigten Aggression eines Staates beurteilen zu können, sind Kriterien für einen Präemptivschlag, geschweige denn -krieg, schlichtweg unbekannt. Als Präventivkrieg wäre ein Krieg dann legitimierbar, ginge es um "präventive Selbstverteidigung" gemäß der Caroline-Klausel. Diese beinhaltet, dass keine andere Wahl der Mittel bleibt beziehungsweise die Möglichkeit von Verhandlungen ausgeschöpft ist. Nur gemessen an solchen Kriterien ist ein Präventivkrieg überhaupt denkbar. Da ein bewaffneter Angriff auf die Vereinigten Staaten oder einen Anrainerstaat des Irak, dem die USA dann hätten zur Hilfe kommen können, nicht unmittelbar bevorstand, konnte im Irak-Krieg davon keine Rede sein.

Fazit: Beim Präventivkrieg muss erst einmal eine Aggression stattgefunden haben oder nachweisbar bevorstehen. Unter keinen anderen Vorzeichen darf Gewalt in der internationalen Gemeinschaft ausgeübt werden, auch nicht wegen vorhandener Differenzen in politischen oder religiösen Angelegenheiten oder gar, um einen unliebsamen Diktator durch eine Intervention von außen zu stürzen. Wird keine unmittelbare Kriegsgefahr nachgewiesen, darf es per se auch nicht zu kriegerischen Handlungen gegen einen Staat kommen. Generell müssen drei Grundbedingungen vorhanden sein, um von einer unmittelbaren Bedrohung zu sprechen: eine erkennbar aktive Kriegsvorbereitung; eine sich manifestierende Absicht, einem anderen Staat Schaden zufügen zu wollen - es muss schließlich eine Situation existieren, in der Abwarten statt Kämpfen das Risiko erhöht, Opfer einer Aggression zu werden. Nur wenn diese drei Kriterien erfüllt sind, kann ein Präventivkrieg oder Präventivschlag als legitimiert gelten.

Ein "präemptiver Krieg" - also ein Krieg, der das Aufkommen möglicher Gefahren bereits im Keim ersticken soll - ist völkerrechtlich hingegen gar nicht vorgesehen und somit untersagt. Kurzum, das Völkerrecht kennt weder Präemptivkriege noch -schläge. Der "vorbeugende Militärschlag" ist ein weitgehend neues Konzept, das die US-Amerikaner seit 2002 mit der Bush-Doktrin (National Security Strategy) in internationalen Gremien durchzusetzen suchen. Zwar sah 1995 der Bericht des Strategischen Kommandos der USA (STRATCOM) schon einmal vor, dass die "Reaktion" auf eine Bedrohung präemptiv sein könne. Diese Politik kam aber dann aufgrund von internen Planungen und Regierungsverordnungen nicht zur Geltung.

Es hat übrigens in der Vergangenheit bereits "preemptive strikes" gegeben. Dieser Versuch einer begrifflichen Legitimation folgte dem israelischen Angriff auf einen irakischen Atomreaktor wie der Bombardierung einer mutmaßlichen Giftgasfabrik im Sudan 1998 (s. Übersicht). Während die UN per Resolution die Attacke Israels verurteilten, und die militärstrategische Selbstherrlichkeit der Amerikaner mit einer bis heute unbekannten Zahl an sudanesischen Toten faktisch keiner weiteren Kommentierung bedarf, ist der analoge Versuch zur Rechtfertigung des Irak-Krieges höchst problematisch. Das resultiert nicht nur aus der Tat selbst, sondern dem Umstand, dass die kriegstreibenden Kräfte aus der Doktrin der "preemptive strikes" auch eine völkerrechtlich relevante Rechtfertigung ihres Vorgehens herleiten wollen.

Die Argumente vieler Militärs, die Idee des Präemptivkrieges sei durch die Unmittelbarkeit - sprich: Einsatzschnelligkeit - moderner Waffenträgersysteme begründet, ist größtenteils unstrittig in den Stäben wie in der Politik. Nichtsdestoweniger stellt sich die Frage, wie man derartige Operationen nachprüfbar legitimiert. Während Grenzverletzungen, Generalmobilmachungen, Militärallianzen oder Marineblockaden bei Präventivkriegen als Bedrohung gelten können, ist bei Präemptivkriegen nicht klar, worin rechtfertigende Kriegsgründe bestehen könnten. Präemptivschläge basieren vielmehr auf potenziellen, wenn auch nur vermutbaren Gefahren.

Nicht auf Fakten basierende Beweise sollen Präemptiv-Kriege legitimieren, sondern Intentionen und nicht nachweisbare Aggressionsvermutungen. Diese diffusen Begründungen lassen sich jederzeit missbrauchen, um Vorbeugekriege aus Machtinteresse führen zu können. Es sind keine Kriterienkataloge bekannt, die es erlauben würden, die genannten Kriegsgründe zu hinterfragen und zu überprüfen. Vor allem lässt sich nicht belegen, ob und wann der Einsatz vorhandener Waffen erfolgen könnte und eine präemptive Antwort rechtfertigen würde - der Irak-Feldzugs war exemplarisch dafür.

Das Entscheidende für den Westen sollte daher - selbst noch beim Vorliegen von Evidenz - die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der Mittelwahl sein. Insofern war der deutsche Standpunkt konsequent: Wer immer von der Androhung derselben zu Kriegshandlung übergehen will, schuldet dem Weltsicherheitsrat und der Weltöffentlichkeit neben Beweisen auch den Nachweis, dass sämtliche politischen Bemühungen versagt haben oder chancenlos bleiben werden. Der Irak schien aber vor dem Krieg weniger angriffsfähig denn je. Auch lassen sich die von den Geheimdiensten der kriegführenden Regierungen kolportierten Gefährdungsszenarien bis heute an Ort und Stelle nicht verifizieren.

Der Präemptivkrieg gegen den Irak hat die Normen der Staatengemeinschaft gebrochen. Das Völkerrecht wurde in seiner Bedeutung demonstrative degradiert - was an dessen Stelle treten könnte, ist nicht einmal ansatzweise klar. Der Präemptivkrieg gegen den Irak war insofern primär ein Versuch der USA, über die Begriffshoheit der internationalen Gemeinschaft zu siegen. Diese Enthegung des Völkerrechts ist ein einzigartiges, gefährliches realpolitisches Großexperiment mit unabsehbaren Folgen, die den Interessen der USA selbst großen Schaden zufügen können. Der Irak-Krieg könnte als Präzedenzfall für weitere nicht-legitimierbare Kriege dienen.

* Ulrich Arnswald ist Gründungsdirektor des European Institute for International Affairs in Heidelberg und lehrt an der TU Darmstadt Politische Philosophie. Er ist Mitherausgeber des kürzlich erschienen Buches Die Autonomie des Politischen und die Instrumentalisierung der Ethik, Manutius Verlag, Heidelberg, 2002.



Präemptive Militäraktionen

7. Juni 1981 - Schlag gegen die irakische Kernforschun
Der Angriff der israelischen Luftwaffe auf das irakische Kernforschungszentrum Bagdad-Tuwaitha führt zur Zerstörung des größten von drei Forschungsreaktoren. Damit wird durch Israel ein internationaler Präzedenzfall geschaffen, denn der Irak gehört zu den ersten Ländern, die den Vertrag über die Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen unterzeichnet (1. Juli 1968) und ratifiziert (29. Oktober 1969) haben. Außerdem besteht seit 1972 ein Kontrollabkommen mit der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA).

26. Juni 1993 - Schlag gegen Geheimdienstzentrale
Mit Marschflugkörpern greifen die USA die Geheimdienstzentrale bei Bagdad an. Die Operation ist nach den Worten von Präsident Clinton eine Maßnahme gegen angebliche Pläne des Irak, Clintons Amtsvorgänger George Bush während eines Kuwait-Besuches zu ermorden. Es gibt 60 Opfer unter der Zivilbevölkerung.

20. August 1998 - Schlag gegen eine Fabrik im Sudan und Camps in Afghanistan
Mit 50 tieffliegenden Marschflugkörpern des Typs Tomahawk wird eine Pharmazeutische Fabrik in der Nähe der sudanesischen Hauptstadt Khartum zerstört, die nach Angaben der US-Regierung Komponenten für chemische Waffen produziert haben soll. Die Regierung des Sudan weist diese Behauptungen zurück, spricht von einer Produktionsstätte für Medikamente und fordert eine Untersuchung durch die UNO. Parallel dazu werden mutmaßliche Ausbildungsstätten für terroristische Gruppen in Afghanistan attackiert. Hintergrund sind die Attentate auf die US-Botschaften in Nairobi und Daressalam kurz zuvor. Präsident Clinton am Abend des 20. August 1998: "Heute haben wir zurückgeschlagen."

18. Dezember 1998 - Schlag gegen den Regierungsbezirk von Bagdad
Nachts werden Ministerien, Hospitäler und Wohnviertel von der US-Luftwaffe bombardiert, während britische Flugzeuge Radaranlagen und Militärflugplätze angreifen. Zur Begründung heißt es, der Schlag habe der Entwaffnung des Irak gedient, weil dessen Regierung am 31. Oktober 1998 beschlossen hatte, die Zusammenarbeit mit den UN-Waffen-Inspektoren einzustellen.


Aus: Freitag: Die Ost-West-Wochenzeitung 35, 22. August 2003


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