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Zarqawi Superstar, der Phantom-Köpfer von Bagdad

Manche Ungereimtheit und noch mehr Fragen

Normalerweise beteiligen wir uns nicht an Spekulationen und Verschwörungstheorien - von welcher Seite sie auch in die Welt gesetzt werden. Um den Irakkrieg aus völkerrechtlichen und politischen und humanitären Gründen abzulehnen, hätte es nicht der schlimmen Bilder und Befunde über die Folteruntaten in den Besatzungsgefängnissen bedurft. Auf der anderen Seite bedarf es auch keiner Videoaufnahmen von geköpften Gefangenen, um die Grausamkeit und Inhumanität mancher selbst ernannter "Widerstandskämpfer" zur Kenntnis zu nehmen. Der folgende Beitrag, den uns der Autor zur Verfügung gestellt hat, zielt auf einen anderen Sachverhalt: Indem er auf Widersprüchlichkeiten in den Vorgängen um die Köpfung des US-Amerikaners Nicholas Berg hinweist, beleuchtet er die politische Legende, die um den Tötungsakt gestrickt wurde. Es geht offenbar um den angeblichen Top-Terroristen Zarqawi, der - in Ermangelung der Ergreifung des Urvaters aller Topterroristen, Ossama bin Laden - an dessen Stelle getreten ist.


Von Knut Mellenthin

Der derzeit weltweit führende Top-Terrorist, auf dessen Kopf die US-Regierung eine Belohnung von 10 Millionen Dollar ausgesetzt hat, schlachtete eigenhändig. Woher wissen wir das so genau, obwohl er sein Gesicht maskiert hatte und seine Stimme nicht wirklich zu identifizieren war, weil sie gar nicht mit Sicherheit bekannt ist? Weil das Video, das am 11. Mai auf einer islamistischen Website auftauchte und anscheinend die Ermordung des einen Monat zuvor spurlos verschwundenen Amerikaners Nicholas ("Nick") Berg zeigte, den über jeden Zweifel erhabenen Titel trug: "Sheik Abu Musab al-Zarqawi slaughters an American infidel with his own hands."

Zwei Tage später teilte laut New York Times ein CIA-Beamter mit, der maskierte Mann, der im Video dem 26-jährigen Amerikaner mit einem großen Schlachtermesser den Hals durchschneidet, sei "mit hoher "Wahrscheinlichkeit" wirklich Abu Musab al-Zarqawi - "a militant linked to Al-Qaeda who American officials also say has behind some of the deadliest bombing attacks in Iraq" - wie die Zeitung hinzufügte. Auch die auf dem Video zu hörende arabische Stimme sei "sehr vermutlich" die Zarqawis. Das hätte "eine technische Analyse des Videos" ergeben.(NYT, 13. Mai)

Gab es für diese der New York Times anonym erstattete inoffizielle Auskunft eigentlich jemals eine offizielle Bestätigung? Wohl nicht. Die CIA ist nämlich regelmäßig sehr vorsichtig mit solchen Aussagen, beispielsweise zu Tonbändern, auf denen angeblich Bin Laden zu vernehmen ist. Wer einmal naiv geglaubt hatte, für die heutige Technik sei eine Stimme "so eindeutig zu identifizieren wie ein Fingerabdruck", sieht sich enttäuscht auf Wahrscheinlichkeiten und Annahmen verwiesen.

Im Fall Zarqawis ist eine Identifizierung zusätzlich dadurch erschwert - oder, um es genau zu sagen: völlig unmöglich- dass es nur ganz wenige Tonaufnahmen - höchstens ein halbes Dutzend - gibt, auf denen er angeblich zu hören sein soll. Bei allen bestehen Zweifeln, und selbst wenn sich nachweisen ließe, dass es sich immer um dieselbe Stimme handelt, wäre keineswegs sicher, ob es sich wirklich um die des angeblichen Top-Terroristen Zarqawi handelt, der eigentlich Ahmad Fadil al-Khalayleh heißt und 1966 im jordanischen Zarqa geboren wurde, nach dem er seinen nom de guerre gewählt hat. Es existiert ein mehrere Jahre altes Polizeifoto, das Zarqawi zeigen soll, aber kein Video, in dem er beim Sprechen sein Gesicht zeigt.

Spielverderber und Schlaumeier, die es natürlich immer gibt, behaupteten denn auch sofort, der maskierte Halsabschneider auf dem Video sei nie und nimmer Zarqawi:

"Some recent news media reports have suggested that the Arabic-language accent heard on the tape was not consistent with the part of Jordan where Mr. Zarqawi originated. A C.I.A. official would not say exactly how the agency had made its assessment, but indicated that the voice pattern and regional accent heard on the tape had both contributed to the assessment of a 'high probability' that it was Mr. Zarqawi speaking." (NYT, 14. Mai)

Al-Jazeera hatte schon am 13. Mai auf seiner Website von Zweifeln berichtet: Viele, die sich das Video angesehen hätten, seien der Meinung, der Akzent des maskierten Mannes sei weder irakisch noch jordanisch. Einige seien der Meinung, die Stimme könne die eines Ägypters oder sogar eines Iraners sein.

Außerdem, so al-Jazeera, sei Zarqawi nach Aussagen zweier islamistischer Gruppen schon im März ums Leben gekommen. In Falludscha kursiere seit Tagen eine achtseitige Flugschrift, dass Zarqawi während eines amerikanischen Bombenangriffs im nordirakischen Sulaimaniya-Gebirge getötet worden sei. Aber das kann selbstverständlich ein Trick sein - auch wenn in diesem Fall rätselhaft wäre, wer dahinter steckt und welchen Zweck er damit verfolgt. Anzunehmen, dass Zarqawi selbst auf diese Weise seine Spur zu verwischen versucht, ergibt absolut keinen Sinn, wenn man unterstellt, dass er sich gleich darauf wieder auf einem Video präsentiert hat. Und eine amerikanische Desinformation wird es wohl auch nicht sein, denn dort hütet man sich, wie im Fall des wahrscheinlich schon im Dezember 2001 in Afghanistan ums Leben gekommenen Bin Laden, das Huhn, das im propagandistischen Sinn goldene Eier legt, offiziell zu schlachten.

Noch etwas fiel an dem Video auf: Alle amerikanischen Stellen gaben sich bis vor kurzem absolut sicher, dass Zarqawi eine Prothese trägt, seit ihm nach einer in Afghanistan erlittenen Verletzung ein Bein amputiert werden musste. Man behauptete sogar, ganz genau zu wissen, wann und wo die Operation vorgenommen wurde: im Mai 2002 in Bagdad. Das galt bisher als einer der Hauptbeweise für die angebliche enge Zusammenarbeit zwischen Saddam Hussein und al-Kaida, die einer der vorgeschobenen Kriegsgründe war.

Der maskierte Köpfer des Videos hingegen zeigt kein Anzeichen einer Gehbehinderung. Aber auch das lässt sich mit etwas Phantasie erklären: "An American counterterrorism official said Thursday that while intelligence analysts still believed that Mr. Zarqawi had injured his leg and was treated in Iraq, they no longer thought that he had lost a limb." (New York Times, 14. Mai)

Nein, GANZ neu ist diese Erkenntnis der amerikanischen Terrorismus-Bekämpfer nicht. Aber doch FAST neu. Genau am 6. April, dem Tag der Freilassung Bergs nach 13 Tagen Haft in einem amerikanischen Militärgefängnis in Mossul, vier Tage vor seinem spurlosen Verschwinden, gab ein anonymer US-Beamter bekannt, dass Zarqawi zwar im Mai 2002 zur Behandlung einer Beinverletzung in Bagdad gewesen sei, aber das Bein entgegen früheren Berichten nicht amputiert worden sei. "The official would not discuss the reason for the change in assessment." (CNN, 7. Mai)

Das Video von der Ermordung Nick Bergs erinnert stark an ein anderes, das am Tag seines Verschwindens, am 10. April, vom Sender al-Arabiya ausgestrahlt wurde. Zu sehen waren acht maskierte Männer - auf dem Berg-Video sind es fünf. Ein Sprecher erklärte: "Wir sind die Brigaden des Helden und Märtyrers Scheich Ahmed Jassin". Die nach dem von Israel am 22. März ermordeten Hamas-Führer benannte Gruppe, die weder vor noch nach diesem Video in Erscheinung trat, habe - so der Sprecher - 30 ausländische Geiseln in ihrer Gewalt: Japaner, Bulgaren, Israelis, Amerikaner, Spanier und Koreaner. Man werde die Geiseln enthaupten, sofern die US-Streitkräfte die Belagerung von Falludscha nicht einstellten.

Tatsächlich wurde aber außer Nick Berg kein weiterer Entführter auf diese Weise getötet. Vor ihm wurden lediglich zwei andere Geiseln ermordet: Der Italiener Fabrizio Quattrocchi, dessen Tötung durch einen Kopfschuss am 14. April in einem Video dokumentiert wurde, und der am 11. April entführte Däne Henrik Frandsen, dessen Leiche schon am nächsten Tag gefunden wurde. Die meisten der zeitweise über 50 entführten Ausländer kamen durch Vermittlung integrer irakischer Politiker und Geistlicher frei, ohne dass es eine erkennbare Gegenleistung gab. Dazu trug offenbar entscheidend bei, dass alle Sektoren der irakischen Opposition und des bewaffneten Widerstands die Geiselnahmen öffentlich kritisierten.

Nimmt man hinzu, dass zweifellos niemals 30 Ausländer in den Händen einer einzigen Gruppe waren, dass der Name "Brigaden des Helden und Märtyrers Scheich Ahmed Jassin" außer diesem Video nicht verwendet wurde, und dass die angebliche Entführergruppe sich auch unter anderem Namen nicht wieder öffentlich zu Wort meldete, so ist davon auszugehen, dass das Video ein vollständiger Fake war. Von wem es produziert wurde und zu welchem Zweck, ist eine offene Frage.

Zurück zum maskierten Halsabschneider des Berg-Videos. Es gibt keine Gründe, den Amerikanern zu glauben, dass sich unter der Maske der plötzlich wieder zweibeinig gewordene Zarqawi verbarg. Es gibt aber zwei Präzedenzfälle für die Annahme, dass der mit 10 Millionen Dollar dotierte Top-Terrorist Zarqawi erste Wahl ist, wenn die US-Regierung für eine Propagandashow die Hauptrolle des Schurken zu besetzen hat.

Erstes Beispiel: Die Multimedia-Show von Außenminister Colin Powell vorm UNO-Sicherheitsrat am 5. Februar 2003, mit der die US-Regierung pro forma ihre Gründe für den ohnehin schon seit Monaten beschlossenen und vorbereiteten, unmittelbar bevorstehenden Überfall auf den Irak ablieferte. Neben den Massenvernichtungswaffen, von denen nach der Besetzung Iraks nicht eine einzige und nicht einmal ein kleines Restchen gefunden wurde, behandelte ein langer Abschnitt in Powells Vortrag die angebliche Zusammenarbeit Saddam Husseins mit Bin Ladens al-Kaida. Genauer gesagt: mit Zarqawi, der angeblich das zentrale Bindeglied zwischen al-Kaida und Bagdad darstellte.

Mindestens 21 mal fiel der Name Zarqawi in Powells Ansprache an den Sicherheitsrat. Alle wesentlichen Behauptungen waren falsch. So etwa, dass Zarqawi mit Duldung und Unterstützung Saddam Husseins in Bagdad die Zentrale eines internationalen Netzwerks eingerichtet habe und von dort aus terroristische Aktivitäten in Frankreich, Großbritannien, Italien, Deutschland, Russland und Nordafrika steuere.

Besonders intensiv malte Powell aus, dass Zarqawi ein Spezialist für hochtödliche Gifte sei und seine Anhänger vor allem in dieser Technik ausgebildet habe. Für den Propagandazweck ausgezeichnet gewählt, da Gift die Phantasie der Menschen in besonderer Weise beflügelt und sich außerdem mit der Vorstellung von extremer Heimtücke verbindet. Nur: Es gab und gibt keine einzige islamistischen Terroristen zugeschriebene Tat, bei der Gift verwendet wurde.

Zweites Beispiel für den Einsatz von Zarqawis Namen für eine Propagandashow der US-Regierung: Am 9. Februar dieses Jahres veröffentlichte die New York Times Auszüge aus einem auf CD gespeicherten 17-seitigen Brief, dessen Kurier angeblich im Januar von amerikanischen Besatzungsstreitkräften in Bagdad oder von kurdischen Kollaborateuren im Nordirak festgenommen worden war. (Wie immer bei dieser Art lausiger Shows gibt es mehrere Legenden.) Der Kurier habe, so hieß es, gestanden, dass der Autor des Briefes Zarqawi sei und dass der Empfänger die geheime al-Kaida-Zentrale irgendwo im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet sein sollte.

Ein toller Fund! Der New York Times "exklusiv" auf dem Silbertablett serviert von Regierungs- und/oder Geheimdienststellen, die damit klare politische Absichten verfolgten. William Safire, der schamloseste und bissigste Kriegshetzer im durchaus differenzierten Spektrum der Times-Kolumnisten, feierte drei Tage später in einem Kommentar das seltsame Geschenk gebührend ab: Der abgefangene Brief sei der definitive Beweis, dass die kriegsbegründenden Behauptungen über eine ganz enge Zusammenarbeit zwischen Saddam Hussein und al-Kaida allesamt und von Anfang an richtig gewesen seien. Und der Brief zeige darüber hinaus, dass die Amerikaner dabei seien, den Krieg zu gewinnen und dass die Stimmung ihrer Gegner von Niedergeschlagenheit und Ausweglosigkeit gekennzeichnet sei.

Alles absolut zutreffend. In dem Brief stand tatsächlich genau das, was andere Autoren aus der Ecke der verrücktesten und skrupellosesten Kriegstreiber zuvor hineingeschrieben hatten. Die Wirklichkeit im Irak spiegelte sich in diesem Text überhaupt nicht, dafür aber das Wunschdenken und die Propagandathesen der US-Regierung.

In dem 17-seitigen Text bestätigt der angebliche Zarqawi, dass er höchstpersönlich für mindestens 25 der wichtigsten Anschläge im Irak verantwortlich gewesen sei und dass er seine Rolle künftig noch weiter ausbauen wolle. Er bestätigte ferner, dass die Terroristen überwiegend aus dem Ausland eingereiste internationale Mudschaheddin seien. Mit den Irakern selbst sei nämlich wenig anzufangen.

Mit Schmunzeln wird Präsident Bush auch folgende Situationsbeschreibung aus dem Fake-Brief gelesen haben: "America has no intention of leaving, no matter how many wounded nor how bloody it becomes. It is looking to a near future, when it will remain safe in its bases, while handing over control of Iraq to a bastard government with an army and police force that will bring back the time of Husayn and his cohorts. There is no doubt that our field of movement is shrinking and the grip around the throat of the Mujahidin has begun to tighten. With the spread of the army and police, our future is becoming frightening."

Der 30. Juni, an dem die US-Regierung in einer großen Propagandashow eine "souveräne irakische Regierung" ohne wirkliche Macht inthronisieren will, sei - so die Autoren des angeblichen Zarqawi-Briefes - für die Terroristen ein äußerst fatales Datum: "The Americans will continue to control from their bases, but the sons of this land will be the authority. This is the democracy, we will have no pretext." "Our enemy is growing stronger day after day, and its intelligence information increases." Die Zeit laufe den Terroristen davon, und ohne einen Durchbruch vor dem 30. Juni werde ihnen nichts anderes übrig bleiben, als ihre Sachen zu packen und das Land zu verlassen.

Es gebe nur eine Alternative, heißt es in dem Text: Mit massiven Terroranschlägen gegen die Schiiten müsse man diese zur bewaffneten Konfrontation mit der sunnitischen Minderheit provozieren, um ein Erwachen der Sunniten aus ihrer Lethargie herbei zu führen.

Der größte Schwachkopf unter den islamistischen Terroristen kann sich so etwas nicht einfallen lassen. Man hat so etwas, abgesehen von dem "Zarqawi-Brief", noch nie irgendwo gehört oder gelesen. Um auf so etwas zu kommen, bedarf es der perversen Phantasie von Kriegsstrategen, die sich angesichts wachsender Schwierigkeiten ihrer Besatzungspolitik nichts besseres vorstellen können als die Gruppen des Irak in einen hasserfüllten Krieg aller gegen alle zu hetzen. Die wirkliche Entwicklung scheint aber, Inschallah, in die entgegengesetzte Richtung zu gehen.

Den Brief hat Zarqawi nicht geschrieben. Den Amerikaner hat er wahrscheinlich auch nicht geköpft. Aber wer dann? Und für welche Propagandashow wird Zarqawis Name als nächstes eingesetzt werden?

Von Knut Mellenthin erschein zuletzt auf unserer Website:
Madrid und das gläserne "al-Qaida-Terrornetzwerk"
Von Bomben, Schlüsselfiguren, Hauptverdächtigen und anderen Ungereimtheiten (30. März 2004)


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