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Kriegsplanung: Das erste Opfer ist die Demokratie

München zeigt bei der Sicherheitskonferenz das falsche Gesicht

Von Peter Strutynski

Als ich am Samstagabend, den 2. Februar, von Wien kommend (ich hatte dort am Westbahnhof noch die vielen Menschen losgehen sehen, die anlässlich des zweiten Jahrestages der schwarz-braunen österreichischen Regierung für eine demokratische, soziale und friedliche Alternative demonstriert haben) in den Münchner Hauptbahnhof einfuhr, wurde ich schlagartig daran erinnert, dass dieses Wochenende auch in München kein normales Wochenende war. Der Südausgang war gerade von Sicherheitsbeamten der Bahn abgesperrt worden. Reisende mussten den gegenüberliegenden Ausgang benutzen. Als ich eine uniformierte Angestellte der BSG fragte, was es denn mit dieser Maßnahme auf sich hatte, sagte sie mir - durchaus glaubwürdig! -, sie sei gerade erst hierher kommandiert worden und wüsste gar nicht, was los sei. Da ich durchaus im Bilde war, worum es gehen könnte, war ich natürlich sofort in Sorge um jene Menschen, die an diesem Wochenende ihren berechtigten Protest gegen die in München tagende "Sicherheitskonferenz" zum Ausdruck bringen wollten, dies aber polizeilicherseits nicht durften.

Gewalt herbei geredet

Es hat ja schon so oft funktioniert: Politik, Polizei und Medien reden inbrünstig chaotische Zustände, Gewaltexzesse und "Randale" herbei, um sich selbst als mutige Verteidiger von Ruhe und Ordnung in Szene setzen zu können. Geradezu gesetzmäßig kommt es zu den erwarteten Ausschreitungen und die Ordnungskräfte greifen zum Schutz der verängstigten schweigenden Mehrheit durch. Nach den peinlichen Enthüllungen um die V-Leute im NPD-Verbotsverfahren lässt sich erahnen, welche Energie von verdeckt arbeitenden Ordnungskräften und Geheimdienstlern (z.B. Verfassungsschutz) ausgeht, wenn es darum geht, unliebsame "linke" Demonstrationen und andere Aktionen durch gezielte Provokationen ins Zwielicht der Gewaltbereitschaft zu bringen.

Die Szenerie war im Vorfeld der Münchner Sicherheitskonferenz Anfang Februar 2002 nicht viel anders. Bis zu 3.000 "gewaltbereite Chaoten" der autonomen Szene wurden nach "Erkenntnissen" des Verfassungsschutzes ausgemacht, die aus der ganzen Bundesrepublik und dem Ausland in die Stadt kommen wollten, um hier genuesische Verhältnisse zu schaffen. Ganz abgesehen davon, dass nach Berichten unabhängiger Medien und Zeugen die Hauptverantwortung für die gewalttätigen Auseinandersetzungen nicht auf der Seite der Demonstranten, sondern der Staatsgewalt lag, sollte der Verweis auf Genua die Bevölkerung einschüchtern und darauf einstimmen, dass die Obrigkeit auch zur Ergreifung repressiver Maßnahmen gezwungen sein könnte.

Was könnte eine Eskalation besser anheizen als ein Demonstrationsverbot? Ein Verbot zudem, das aller Erfahrung nach gar nicht mehr greifen würde, da viele Demonstranten tatsächlich von weit her kamen und ihre Fahrt nach München geplant hatten, als über das Verbot noch gar nicht entschieden war, sie also davon ausgehen mussten, dass sie ihre Recht auf Demonstrationsfreiheit auch ausüben könnten. (Also doch Demonstrations"touristen"? Nun, wenn man die Gewerkschafter aus Mannheim, die Friedensbewegten aus Düsseldorf, Bremen oder Hamburg so nennen möchte, bitte!) Neben dem Verbot jeglicher Demonstration wurden auch Veranstaltungen in öffentlichen Einrichtungen - die ebenfalls schon länger geplant waren - verboten. Nicht direkt freilich, sondern durch die Androhung nachteiliger Folgen, falls die städtischen Einrichtungen die Veranstaltungen nicht absagen würden. München zeigt sich von seiner armseligsten Seite: Alles, was auch nur in den Geruch kam, globalisierungs- oder militarisierungskritisch zu sein, wurde mit einem Maulkorb belegt. Die Münchner Sicherheitskonferenz, eine Erfindung übrigens der CSU, sollte mit ihren knapp 300 Politikern und Militärs aus rund 40 Staaten unbehelligt und unwidersprochen im ehrwürdigen "Bayerischen Hof" zelebriert werden. Der SPD-Oberbürgermeister der Stadt tat alles, um den hohen Herren (es wurden nur ganz wenige Damen gesichtet) ihren Aufenthalt in der Stadt so angenehm wie möglich zu machen.

Scharping-Lamm versus Wolf(owitz)

Dieses Entgegenkommen haben die Strategen der Weltpolitik weidlich ausgenutzt. Was aus den Konferenzräumen in die Öffentlichkeit drang - einige Reden liegen gedruckt vor (wir haben einiges auch schon auf unserer Homepage veröffentlicht) und konnten auch am Bildschirm verfolgt werden -, war derart martialisch, dass sich eigentlich der Verfassungsschutz, wenn er seine Aufgaben nur ernst nähme, dafür hätte interessieren müssen. Der deutsche Verteidigungsminister gehörte noch zu den friedlichsten Teilnehmern. Neben der Rede des stellvertretenden US-Verteidigungsministers Wolfowitz musste sich sein Referat ausnehmen wie ein pazifistisches Glaubensbekenntnis neben einer Kommandeursansprache vor der offenen Feldschlacht. Insofern machte es durchaus Sinn, dass sich die Staatsmänner darüber ausgetauscht haben, wie sie sich die militärische Verteidigung der "zivilisierten" Welt gegen den Terrorismus vorstellen. Eines muss nämlich jedem Beobachter klar geworden sein: Die USA haben mit ihrer Art der Terrorbekämpfung, mit ihrer Art, die halbe Welt mit Krieg zu überziehen, wenn sie es für nötig halten, ein Beispiel gegeben, dem andere Staaten nur zu gerne folgen werden. Originalton Wolfowitz: "Die beste Verteidigung ist ein guter Angriff." Russland praktiziert seinen Krieg gegen den tschetschenischen "Terror" mit ungeschminkterer Härte als zuvor, Indien nimmt nun ganz selbstverständlich das Recht für sich in Anspruch, kaschmirische "Terroristen" auch auf pakistanischem Boden zu verfolgen, und die philippinische Präsidentin Arroyo setzt ihren Bürgerkrieg gegen die "Moros" mit großem militärischen Aufwand und US-amerikanischer Unterstützung fort. Viele Staaten, darunter an führender Position die USA, Großbritannien und die Bundesrepublik, haben ihre Gesetze zur "Inneren Sicherheit" in Windeseile derart zulasten der Freiheit und der Demokratie geändert, dass der Verdacht nahe liegt, hier seien keine Maßnahmen gegen den Terrorismus, sondern eine allgemeine "Vorsorge" gegen demokratische Oppositionsbewegungen getroffen worden. (Vgl. hierzu den Bericht der "Reporter ohne Grenzen" vom Januar 2002.)

Deutlich geworden sind bei der Konferenz aber auch Widersprüche innerhalb der "weltweiten Allianz gegen den Terror", wie das von den USA nach dem 11. September zusammengezimmerte Bündnis heißt. Insbesondere zwischen USA und Europa bzw. zwischen USA und NATO sind unterschiedliche Meinungen und Strategien aufgebrochen. Die Nachrichtenagentur Reuters kommentiert dies u.a. folgendermaßen: "Auf der Konferenz wurde erneut deutlich, dass sich die USA in der nach den Anschlägen vom 11. September von Bush initiierten Anti-Terror-Koalition nur bedingt militärisch auf ihre europäischen NATO-Partner stützen können und wollen. Das Bündnis hatte im Afghanistan-Krieg keine aktive Rolle gespielt. NATO-Generalsekretär George Robertson hatte kritisiert, in der NATO gebe es zwischen den USA und Europa ein zunehmendes technologisches Gefälle. Die USA bemängeln, dass vor allem Deutschland zu wenig Geld für den Umbau der Bundeswehr zu einer flexiblen Hochtechnologie-Armee ausgebe. Scharping wies den Vorwurf mangelnder Anstrengungen der Europäer zurück." Damit hat er zweifellos Recht. Denn was für die Bundeswehr im Haushalt 2002 beschlossen und für die kommenden Jahre vorgesehen ist, bewegt sich über die 50-Mrd-DM-Marke hinaus (26 Mrd. €) und entspricht damit einer Größenordnung, wie sie zuletzt noch während des Kalten Krieges Mitte der 80er Jahre erreicht worden war. Und das bei einer um gut ein Drittel verkleinerten Armee! Aus US-amerikanischer Sicht sind das allerdings Peanuts. Der Militärhaushalt 2001/2002 beträgt dort - einschließlich der nach dem 11. September bewilligten Sondermittel - 364 Mrd. US-Dollar; für das kommende Haushaltsjahr hat Präsident Bush eine weitere Aufstockung um 48 Mrd. Dollar beantragt. Mehr als ein Drittel aller Rüstungsausgaben der Welt entfallen auf die USA.

Aus der Rede von US-Präsident Bush am 29. Januar (Bericht zur Lage der Nation)
"Afghanistan hat bewiesen, dass man mit teuren Präzisionswaffen den Feind besiegt und Unschuldige verschont, und wir brauchen mehr davon. Wir müssen alte Flugzeuge ersetzen und unser Militär beweglicher machen, damit wir unsere Truppen schnell und sicher überall auf der Welt stationieren können. Unsere Männer und Frauen in Uniform verdienen die besten Waffen, die beste Ausrüstung, die beste Ausbildung - und sie verdienen auch eine weitere Erhöhung ihres Solds.
Meine Haushaltsvorlage sieht die größte Steigerung der Verteidigungsausgaben seit zwanzig Jahren vor - weil der Preis der Freiheit und Sicherheit zwar hoch, aber nie zu hoch ist. Was immer es kostet, unser Land zu verteidigen, wir werden zahlen."



Konstantin Wecker bewundert friedliche und fröhliche Demonstranten

München gab am ersten Februarwochenende einen Vorgeschmack darauf, dass neben der Wahrheit die Demokratie zum ersten Opfer der Militarisierung gehört. 3.500 Ordnungskräfte von Polizei und Bundesgrenzschutz, zusammengezogen aus dem ganzen Bundesgebiet, verwandelten die Stadt in eine belagerte Festung. Der Kostenaufwand beläuft sich nach einer Berechnung der Poizeigewerkschaft auf zwei bis drei Millionen Euro. Als sich sowohl am Freitagabend (1. Februar) als auch am Samstagnachmittag Tausende von Kriegsgegnern, NATO- und Globalisierungskritikern zusammenfanden, um ihren Protest gegen die Inhalte der Konferenz und gegen das totale Demonstrationsverbot friedlich zum Ausdruck zu bringen, schlugen die Ordnungskräfte zu: Buchstäblich, indem sie hin und wieder von ihrem Knüppel Gebrauch machten (eine 70-jährige Frau liegt mit einer Gehirnblutung immer noch im Krankenhaus), aber meistens im übertragenen Sinn, indem sie die kritische Menge mal trennte, mal zusammentrieb, immer wieder einkesselte und verhaftete (rund 800 Personen - darunter auch die Organisatoren des "Bündnisses gegen die NATO-Konferenz" - wurden in "Gewahrsam" genommen, in einer Art "Vorbeugehaft", heute heißt das "Unterbindungsgewahrsam").

Eines allerdings ist den Ordnungshütern nicht gelungen: Den friedlichen Protest in seinem Kern zu erschüttern und einzelne der insgesamt 10.000 Demonstranten (so viele dürften es an den beiden Tagen gewesen sein) zu irgendwelchen unbesonnenen Handlungen zu provozieren. Der bayerische Innenminister Günter Beckstein und der Münchner Polizeipräsident werden das im nachhinein als Erfolg ihres massiven Auftretens verbuchen. Beckstein behauptete: "Die bayerische Linie hat sich hervorragend bewährt", intensive Vorkontrollen und die massive Polizeipräsenz hätten trotz eines "erheblichen Potenzials an Gewalttätern" Ausschreitungen verhindert. Die NATO-kritischen Demonstranten sehen das genau anders herum: Die Polizei habe alles getan, "um Gewalt zu provozieren". Das sei ihr aber nicht gelungen. Worin lag die Provokation? Ein taz-Korrespondent schilderte z.B. folgende Episode: "Kein Fenster ging zu Bruch. Es gab keine Gewalt. Trotzdem kesselte die Polizei am Samstagabend 250 Jugendliche fünf Stunden lang ein, als sie gemeinsam zur Abschlussveranstaltung durch die Straßen zogen. Selbst eingeschlossen glich das Verhalten der Friedensaktivisten einem Happening. Sie sangen gut gelaunt: 'That is what democracy looks like'. Dann wurden sie abgeführt." (taz, 04.02.2002) Der über die Grenzen Münchens hinaus bekannte Musiker Konstantin Wecker kommentierte die Demonstrationen so: Er bewundere die Jugendlichen, die "angesichts dieser martialischen Übermacht ruhig und sogar fröhlich geblieben sind". (Zit. nach: Süddeutsche Zeitung, 04.02.2002)

Fazit

Das totale Demonstrationsverbot während der Dauer der Münchner Sicherheitskonferenz wird ein juristisches Nachspiel haben. Die Organisatoren des Bündnisses gegen die Konferenz wollen gerichtlich feststellen lassen, dass es keinerlei stichfeste Begründung für das Verbot gab. Notfalls werde man nach Auskunft der Anwältin Angelika Lex bis zum Bundesverfassungsgericht gehen. Dauerthema wird das diktatorische Vorgehen der Stadt und des Landes aber auch bleiben, weil es vermutlich zu Dutzenden von Verfahren gegen Demonstranten kommen wird, die wegen angeblichen "Widerstands gegen die Staatsgewalt" festgenommen wurden. Und das obrigkeitsstaatliche Auftreten des Oberbürgermeisters Christian Ude (SPD) wird im Wahlkampf (im März stehen Neuwahlen an) eine große Rolle spielen. Das "Bündnis gegen die NATO-Konferenz" sieht in Äußerungen von Ude, in denen er nachträglich die Inhalte mancher Konferenzbeiträge als allzu kriegerisch kritisiert, ein Zeichen dafür, dass der Oberbürgermeister doch kalte Füße bekommen habe (vgl. die Presseerklärung des Bündnisses vom 8. Februar 2002 ). Er und sein grüner Koalitionspartner im Rathaus haben offenbar Angst, Stimmen auf der Linken zu verlieren. Ob er sich für das städtische Fehlverhalten öffentlich entschuldigen wird, steht dahin. Zu einem besonders skandalösen Vorfall wird er hoffentlich Stellung nehmen: Am Samstagabend war das Gewerkschaftshaus, in dem eine Gegenveranstaltung stattfand, von der Polizei stundenlang umstellt und abgeriegelt worden. So etwas gab es zuletzt am 1. Mai 1933.

In München ist die Demokratie schwer geschädigt worden. Die "Weltstadt mit Herz", regiert von einem SPD-Oberbürgermeister und einer rot-grünen Rathausmehrheit hat sich von ihrer dunklen, miefigen Seite gezeigt. Assistiert wurde sie dabei von einer CSU-Landesregierung, deren Chef das bayerische Modell gern auf ganz Deutschland übertragen möchte. Auf der anderen Seite des Atlantiks, in der am 11. September so schwer getroffenen Metropole New York, konnten am selben Wochenende anlässlich des Weltwirtschaftsforums (es war von Davos nach New York verlegt worden) Tausende Menschen frei und friedlich ihre Globalisierungs- und Kapitalismuskritik in Demonstrationen, Gegenkonferenzen und Happenings vortragen. Diese Stadt hat das selbstverständliche Recht auf Meinungsfreiheit respektiert - und auch dort kam es zu keinen Gewaltakten auf Seiten der Demonstranten. München dagegen hat verloren - nicht nur das "Herz, sondern auch den Verstand", wie Oliver Hinz in der taz kommentierte. Es wird lange dauern, bis die Stadt den Rückfall ins Provinzielle überwunden hat. Im nächsten Jahr wird die Sicherheitskonferenz wieder stattfinden. Ein zugelassener, offener und noch breiterer Protest gegen die Kriegsstrategen könnte helfen, der Stadt wieder etwas von ihrer Würde und Weltoffenheit zurückzugeben.


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