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Münchner Sicherheitskonferenz 2002: "Der 11. September hat alles verändert"

Rede des Stellvertretenden US-Verteidigungsministers Paul Wolfowitz

Im Folgenden dokumentieren wir die Rede des Stellvertretenden Verteidigungsministers Paul Wolfowitz bei der 38. Münchner Konferenz zur Sicherheitspolitik vom 2. Februar 2002.

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Vor zehn Jahren, am Ende des Kalten Kriegs, sagten viele Menschen auf beiden Seiten des Atlantiks, wir bräuchten die NATO nicht mehr. Einige sagten, die Bedrohung sei verschwunden. Andere sagten, das amerikanische Engagement in europäischen Sicherheitsangelegenheiten sei nicht länger erforderlich. Zehn Jahre später ist die NATO weiterhin der Schlüssel für Sicherheit und Stabilität in Europa, vor allem auf dem Balkan. Präsident Bush erklärte bereits letzten Juni in Warschau: "Wir sind zusammen auf den Balkan gegangen, und wir werden zusammen zurückkommen." Und jetzt hat die NATO zum ersten Mal in ihrer Geschichte den Bündnisfall erklärt - nicht wegen eines Angriffs auf Europa, sondern weil die Vereinigten Staaten von Terroristen angegriffen wurden, die vom Ausland aus operieren.

Nach den Anschlägen vom 11. September können diejenigen, die die NATO in Vergessenheit geraten lassen wollten, nicht länger den Wert dieses Bündnisses von Nationen bezweifeln, die sich der Freiheit verschrieben haben. Der andauernde Krieg gegen den Terror unterstreicht, dass unsere transatlantischen Bande nicht veraltet sind Sie sind unerlässlich.

Die Antwort der NATO auf den 11. September beweist, dass dieses Bündnis von Demokratien mit Unsicherheit und unerschlossenem Terrain umgehen kann.

In unserem Krieg gegen den Terror ernten wir die Früchte über 50-jähriger gemeinsamer Planung, Ausbildung und gemeinsamer Operationen im Rahmen der NATO.

Zum ersten Mal in der Geschichte des Bündnisses helfen AWACS der NATO bei der Überwachung des amerikanischen Luftraums, um weitere Terroranschläge zu verhindern. Sieben NATO-AWACS, die vom Luftwaffenstützpunkt Tinker aus starten, patrouillieren den Luftraum über den Vereinigten Staaten und nehmen so unserer eigenen AWACS-Flotte eine beträchtliche Last ab, die durch Einsätze auf zwei Kriegsschauplätzen ziemlich belastet ist. In Afghanistan tragen einzelne NATO-Länder zusammen mit vielen anderen aus der ganzen Welt zu den Kriegsbestrebungen und zum Wiederaufbau nach dem Sturz des Taliban-Regimes bei.

Unsere Partner haben allein nach Afghanistan 3.500 Soldaten zur Operation Enduring Freedom und zur Internationalen Schutztruppe für Afghanistan in Kabul entsandt - das ist nahezu die Hälfte der zurzeit im Land befindlichen 8.000 nichtafghanischen Truppen. Weil wir absichtlich darauf bedacht waren, unsere Präsenz in diesem Land gering zu halten, haben wir tatsächlich sehr viel mehr Hilfsangebote erhalten, als wir bisher annehmen könnten. Aber machen Sie sich keine Sorgen - der Feldzug ist noch lange nicht beendet.

27 Koalitionspartner arbeiten jetzt im Central Command Headquarters der Vereinigten Staaten in Tampa zusammen, und 16 Nationen dienen Seite an Seite auf dem Kriegsschauplatz. Die meisten von ihnen sind NATO-Bündnispartner. Weitere 66 Nationen haben während des Feldzugs Unterstützung in unterschiedlicher Form gewährt. Und ohne die Unterstützung und Hilfe einer Reihe von Ländern in der Region, allen voran Pakistan, hätten wir unmöglich das erreichen können, was wir bisher erreicht haben.

Heute möchte ich mich kurz auf vier Fragen konzentrieren, die von Bedeutung sind, wenn wir die uns heute konfrontierenden Sicherheitsherausforderungen ansprechen:
  • Erstens, was haben wir aus den Ereignissen des 11. September gelernt?
  • Zweitens, was können wir aus dem bisherigen Verlauf des Kriegs gegen den Terrorismus lernen?
  • Drittens, wie können wir die Koalition gegen den Terrorismus ausdehnen, besonders in der muslimischen Welt?
  • Und viertens, wie können wir eine stärkere Sicherheitsgrundlage für das 21. Jahrhundert schaffen?
Viel zu lange hat die internationale Gemeinschaft Terrorismus wie eine hässliche Tatsache des internationalen Lebens behandelt, eine Tatsache mit tragischen und manchmal schrecklichen Konsequenzen, aber eine, mit der wir leben können. Häufig wurde Terrorismus einfach als ein Problem der Strafverfolgung angesehen. Das Ziel war, die Terroristen zu fangen, sie anzuklagen und zu bestrafen in der Hoffnung, damit andere Terroristen abzuschrecken, aber das war nicht der Fall. Es wurde oft von Vergeltung gesprochen, aber selten gehandelt. Und wenn gehandelt wurde, war es häufiger gegen die unteren Chargen der Terroristen gerichtet als gegen diejenigen, die letztlich verantwortlich waren.

Der 11. September hat das alles verändert. An diesem Tag haben wir zu einem enormen Preis gelernt, dass das Problem über Verbrechen und Bestrafung hinausgeht. Die Anschläge dieses Tages demonstrieren nicht nur das Scheitern vorheriger Ansätze, sondern sie unterstreichen auch die Gefahren, denen wir uns gegenübersehen werden, wenn wir weiterhin mit dem Terrorismus leben. Was am 11. September geschah, ist - so schrecklich es auch war - nur ein kleiner Vorgeschmack dessen, was geschehen wird, wenn Terroristen Massenvernichtungswaffen einsetzen.

Unser Ansatz muss sich auf Prävention und nicht nur auf Bestrafung konzentrieren. Wir befinden uns im Krieg. Selbstverteidigung erfordert Prävention und manchmal Präventivmaßnahmen. Man kann sich nicht gegen jede Bedrohung an jedem Ort zu jeder denkbaren Zeit verteidigen. Die einzige Verteidigung gegen den Terrorismus ist, den Krieg zum Feind zu bringen. Der große Vorteil der Terroristen ist ihre Fähigkeit, sich nicht nur in den Bergen Afghanistans, sondern auch in den Städten Europas und der Vereinigten Staaten zu verstecken. Wir müssen sie unbarmherzig jagen, aber wir müssen ihnen auch die Zufluchtsorte verweigern, an denen sie sicher planen und organisieren können, und ihnen die finanziellen und materiellen Ressourcen entziehen, die sie für ihre Einsätze benötigen. Verteidigungsminister Rumsfeld hat gesagt: "Wir müssen den Sumpf austrocknen", in dem sie leben.

Keiner, der die Bilder des 11. September gesehen hat, kann bezweifeln, dass unsere Antwort breit gefächert sein muss. Genauso wenig sollte irgend jemand die sehr viel größere Zerstörung bezweifeln, die Terroristen mit stärkeren Waffen anrichten könnten. Wie Präsident Bush festgestellt hat, deutet das in den Höhlen Afghanistans Gefundene das Ausmaß dessen an, was uns drohen könnte: Diagramme amerikanischer Kernkraft- und Wasserwerke, Karten unserer Städte und Beschreibungen von Wahrzeichen, nicht nur in Amerika, sondern auf der ganzen Welt, zusammen mit detaillierten Anweisungen für die Herstellung von Chemiewaffen.

Seit dem 11. September ist uns klar geworden, was Terroristen mit Verkehrsflugzeugen machen können - etwas, das davor in weiter Ferne liegend und hypothetisch erschien. Wir können es uns nicht leisten zu warten, bis uns klar wird, was Terroristen mit Massenvernichtungswaffen machen können, bevor wir einschreiten, um das zu verhindern.

Angesichts dieser Gefahr müssen die Länder eine Entscheidung treffen. Diejenigen, die für Frieden, Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit eintreten - die große Mehrheit der Länder der Welt - sind mit uns in diesem Kampf zwischen Gut und Böse vereint. Die Länder, die sich dafür entscheiden, Terrorismus zu tolerieren und sich weigern, Maßnahmen dagegen zu ergreifen oder - schlimmer noch - die Länder, die ihn weiterhin unterstützen, werden Konsequenzen zu fürchten haben. Wie Präsident Bush eindeutig klargestellt hat, weiß jetzt jede Nation, dass wir Staaten nicht akzeptieren können und werden, die die Agenten des Terrors finanzieren, ausbilden oder ausrüsten. Sie sind gewarnt worden; sie werden beobachtet, und sie werden zur Rechenschaft gezogen.

Was können wir aus dem bisherigen Verlauf des Kriegs gegen den Terrorismus lernen?

Präsident Bush und Verteidigungsminister Rumsfeld haben wiederholt betont, dass der Krieg gegen den Terrorismus ein langer Kampf werden wird. Obwohl in Afghanistan und bei der Bekämpfung der Terrorzellen weltweit schon sehr viel geleistet worden ist, bleibt selbst dort noch sehr viel zu tun.

Deswegen ist es vielleicht ein wenig vorzeitig, schon Schlussfolgerungen zu ziehen. Dennoch glaube ich, dass bereits wichtige Lektionen aus dem bisherigen Feldzug gezogen werden können.

Von Anfang an hat Verteidigungsminister Rumsfeld die Bedeutung der richtigen Festsetzung der wichtigsten Ziele und der wichtigsten Konzepte der Operation betont. Vor kurzem hat er eine Liste der Konzepte erstellt, die für unsere Aktionen bisher von entscheidender Bedeutung waren. Es ist in der Tat eine lange Liste, aber ich möchte heute einige der wichtigsten Punkte mit Ihnen erörtern.

Eines unserer bedeutendsten Konzepte betrifft das Wesen von Koalitionen in diesem Feldzug und die Idee, dass, "die Mission die Koalition bestimmen muss, und nicht andersherum." Ansonsten wird die Mission, wie der Minister sagt, "auf den niedrigsten gemeinsamen Nenner" reduziert.

Als Nebeneffekt wird es nicht eine einzige Koalition geben, sondern vielmehr verschiedene Koalitionen für verschiedene Missionen, die der Minister als "flexible" Koalitionen bezeichnet.

In der Tat bestand unsere Politik in diesem Krieg darin, von anderen Länder Hilfe anzunehmen auf der für sie am besten geeigneten Basis. Einige werden uns öffentlich zur Seite stehen; andere werden stille und diskrete Formen der Zusammenarbeit wählen. Wir sind uns bewusst, dass es am besten für jedes Land ist, seine Hilfsleistungen selbst festzulegen und nicht wir das tun. Letztlich maximiert das ihre Zusammenarbeit und unsere Effektivität.

Unser vielleicht wichtigster Koalitionspartner ist das afghanische Volk selbst. Wir haben den Wunsch des afghanischen Volks unterstützt, von den Taliban und den ausländischen Terroristen befreit zu werden, die so viel Zerstörung über das Land gebracht haben. Und vom allerersten Tag an haben wir die Betonung auf humanitäre Einsätze als Teil unserer militärischen Bestrebungen gelegt.

Ein weiteres Konzept war, nichts auszuschließen, einschließlich des Einsatzes von Bodentruppen. Von Anfang an war uns klar, dass dies kein antiseptischer "Krieg mit Marschflugkörpern" werden würde. Wir waren zum Einsatz von Bodentruppen bereit, wo und wann es erforderlich war. Dieser Feldzug war militärisch erst wirklich erfolgreich, als wir Sonderbodentruppen einsetzten, die die Effektivität der Luftschläge drastisch verbesserten. Wir sahen mit Gewehren bewaffnete Soldaten zu Pferd mit hochmodernen Kommunikationsmitteln Luftschläge 50 Jahre alter Bomber dirigieren. Als Journalisten Verteidigungsminister Rumsfeld über die Wiedereinführung der Pferdekavallerie aus dem 19. Jahrhundert in einem modernen Krieg befragten, sagte er: "Das ist alles Teil meines Umgestaltungsplans."

Wie können wir die Koalition gegen den Terrorismus ausdehnen, besonders in der muslimischen Welt?

Der Kampf gegen den Terrorismus ist nicht nur der Kampf der westlichen Länder, sondern der Kampf all derer, die sich Frieden und Freiheit auf der Welt wünschen, insbesondere in der muslimischen Welt selbst. Aus meiner eigenen Erfahrung als amerikanischer Botschafter in Indonesien, dem Land mit der größten muslimischen Bevölkerung weltweit, weiß ich, dass die große Mehrheit der Muslime auf der Welt nichts mit den extremen Doktrinen anfangen kann, die von Gruppen wie der Al Qaida und den Taliban vertreten werden. Im Gegenteil, sie verabscheuen den Terrorismus und die Tatsache, dass die Terroristen nicht nur Flugzeuge entführten, sondern auch versuchten, eine der bedeutenden Weltreligionen für ihre Zwecke in Anspruch zu nehmen.

Um den Krieg gegen den Terror zu gewinnen, müssen wir uns an die hunderten von Millionen gemäßigter und toleranter muslimischer Bürger der Welt wenden, auch in der arabischen Welt. Sie stehen im Kampf gegen den Terrorismus an vorderster Front. Indem wir ihnen helfen, sich den Terroristen furchtlos zu widersetzen, helfen wir uns selbst. Und, was ebenso wichtig ist, wir helfen die Grundlagen für eine bessere Welt zu schaffen, nachdem der Kampf gegen den Terror gewonnen ist.

Unser Ziel muss mehr sein als nur der Sieg über die Terroristen und die Zerschlagung der terroristischen Netze. Präsident Bush sagte in seinem Bericht zur Lage der Nation: "...in dieser Zeit des Krieges haben wir eine große Chance, die Welt zu den Werten zu führen, die dauerhaften Frieden mit sich bringen werden... Amerika", sagte der Präsident, "wird die Partei der mutigen Männer und Frauen ergreifen, die für diese Werte auf der ganzen Welt eintreten, einschließlich der islamischen Welt, weil wir ein größeres Ziel als die Beseitigung von Bedrohungen und die Eindämmung von Ressentiments haben. Wir möchten eine gerechte und friedliche Welt über den Krieg gegen den Terror hinaus."

Kein Staatschef hat im Kampf gegen den Terrorismus größere Risiken auf sich genommen als Präsident Muscharaf aus Pakistan, und für kein Land steht in diesem Kampf mehr auf dem Spiel.

Und hier in der NATO haben wir einen Bündnispartner - die Türkei - der ein Beispiel für das Streben der muslimischen Welt nach demokratischem Fortschritt und Wohlstand ist. Auch die Türkei verdient unsere Unterstützung. Diejenigen, die die Türkei wegen ihrer Probleme kritisieren, verwechseln Problematisches mit Grundlegendem, konzentrieren sich zu sehr darauf, wo die Türkei heute steht und ignorieren, in welche Richtung sie sich entwickelt.

Das Grundlegende ist der demokratische Charakter der Türkei. Eine Türkei, die ihre gegenwärtigen Probleme überwinden und die Fortschritte fortsetzen kann, die das Land im Laufe des letzten Jahrhunderts gemacht hat, kann ein Vorbild für die gesamte muslimische Welt werden - ein Beispiel für die Möglichkeit, religiösen Glauben mit modernen säkularen demokratischen Institutionen in Einklang zu bringen.

Indonesien ist ein weiteres wichtiges Beispiel für ein Land, das versucht, eine demokratische Regierung auf einer Kultur der Toleranz aufzubauen.

Und wir benötigen mehr Erfolgsbeispiele in der arabischen Welt selbst. Wenn Länder sich um Fortschritte bemühen, wie Jordanien und Marokko es tun, brauchen sie unsere Unterstützung. Es ist kein Zufall, dass Jordanien heute einen der größten Beiträge zur Koalition in Afghanistan leistet, oder dass König Abdullah den Terrorismus in klaren und von Herzen kommenden Worten verurteilt. Und unsere Unterstützung sollte sich über die Regierungen hinaus auf die "mutigen Männer und Frauen" erstrecken, von denen Präsident Bush sprach.

So schwierig es auch sein mag, inmitten dieser großen Anstrengung an andere Herausforderungen zu denken, müssen wir doch über den Krieg gegen den Terrorismus hinausdenken, wenn wir eine solide Grundlage für Frieden und Sicherheit in diesem Jahrhundert schaffen wollen. Die Stärkung und Erweiterung der NATO und der Aufbau neuer Beziehungen zu Russland sind der Schlüssel zur Schaffung dieser Grundlage in Europa.

Vorigen Juni in Warschau betonte Präsident Bush die Bedeutung der "NATO-Mitgliedschaft für alle Demokratien Europas, die sie anstreben und bereit zur Übernahme der mit dem NATO-Beitritt einhergehenden Pflichten sind." Dies ist heute ebenso wichtig wie vor dem 11. September.

Im Gegensatz zu den düsteren Prophezeiungen, die wir damals - bei der ersten Runde der NATO-Erweiterung - hörten, wurde mit dieser Runde keine neue Mauer durch die Mitte Europas gezogen. Es wurden neue Strukturen aufgebaut, aber diese Strukturen sind Brücken, keine Mauern.

Bei unseren Planungen für den Gipfel in Prag sollten wir auf den Appell von Präsident Bush hören und "nicht berechnen, mit wie wenig wir davonkommen, sondern, wie viel wir tun können, um die Sache der Freiheit voranzubringen". Alle Länder, die die NATO-Mitgliedschaft anstreben, müssen ernsthaft daran arbeiten, die Standards der Mitgliedschaft zu erfüllen, und diese Standards sollten hoch bleiben. Aber die Erfahrung hat gezeigt, dass die Erweiterung der NATO die Sicherheit und Stabilität in ganz Europa gestärkt hat. Alle Länder haben von diesem Prozess profitiert, einschließlich Russlands.

Heute haben wir außerdem die historische Chance, neue Beziehungen zu Russland aufzubauen. Vor kurzem haben die Vereinigten Staaten und Russland einen neuen Dialog aufgenommen, mit dem neue strategische Beziehungen ausgearbeitet werden.

Wir haben eine bewusste Entscheidung getroffen, uns über auf der Bewahrung der gegenseitigen Androhung massiver nuklearer Zerstörung beruhende Beziehungen hinauszubewegen und uns stattdessen auf gemeinsamen Sicherheitsinteressen beruhende Beziehungen hinzubewegen: auf Beziehungen, die zwischen sich nicht mehr als tödliche Rivalen betrachtenden Staaten normal sind. Bei unserer Entwicklung normaler, gesunder Beziehungen konnten wir die Ängste der Vergangenheit beschwichtigen und den radikalen Abbau der nuklearen Streitkräfte - ein Vermächtnis des Kalten Kriegs - planen.

Die NATO als Bündnis spielt eine entscheidende Rolle bei der Integration Russlands in die Rahmenvorgaben der europäischen Sicherheit. In der gemeinsamen Erklärung, die sie bei ihrem Treffen im November in Crawford (Texas) abgaben, bestätigten Präsident Bush und Präsident Putin ihre Entschlossenheit, "mit der NATO bei der Verbesserung, Stärkung und Erweiterung der Beziehungen zwischen der NATO und Russland zusammenzuarbeiten".

Die NATO hat diese Gelegenheit ergriffen, als sie sich entschied, Möglichkeiten der Zusammenarbeit zwischen Russland und einem Bündnis mit 20 Mitgliedern zu finden. Es ist wichtig, mit praktischen, konkreten Formen der Zusammenarbeit zu beginnen, die auf den gemeinsamen Sicherheitsinteressen der NATO und Russlands aufbauen. Während die NATO und Russland wo immer möglich zusammenarbeiten, ist auch die Bewahrung der Fähigkeit der NATO von entscheidender Bedeutung, bei wichtigen Sicherheitsfragen unabhängig zu entscheiden und zu handeln.

Bei der Erweiterung der NATO und beim Aufbau neuer Beziehungen zu Russland dürfen wir allerdings nicht vergessen, dass die NATO im Grunde ein Militärbündnis ist. Die Glaubwürdigkeit und Fähigkeit der NATO, einen Krieg zu verhindern, hängt entscheidend von ihrer militärischen Stärke ab.

Ein Schlüsselziel für den Gipfel in Prag wäre die Einführung einer Agenda für die Umgestaltung des Militärs. Eine Agenda, die tiefgreifende Auswirkungen haben kann. Im Kalten Krieg waren unsere Streitkräfte auf konkrete geographische Ziele gerichtet. Dennoch kam der einzige den Bündnisfall auslösende Angriff in der Geschichte der NATO von einer unerwarteten Quelle, in unerwarteter Form. Das zeigt uns, dass unsere alten Annahmen, unsere alten Pläne und unsere alten Fähigkeiten überholt sind. Bedrohungen, die unter Artikel 5 fallen, können von überall und in vielen Formen kommen .

Statt zu versuchen zu erraten, mit welchem Feind das Bündnis in Jahren oder Jahrzehnten konfrontiert sein wird, oder wo dies geschehen könnte, sollten wir uns auf die Fähigkeiten konzentrieren, die unsere Gegner gegen uns verwenden könnten, auf den Ausgleich der eigenen Schwächen und die Nutzung neuer Fähigkeiten zur Stärkung unserer militärischen Vorteile. Dies ist die Quintessenz einer fähigkeitsorientierten Vorgehensweise bei der Verteidigungsplanung.

Wir befinden uns in einer neuen Zeit, sehen uns neuen Gefahren gegenüber, und wir benötigen neue Fähigkeiten.

Abschließend möchte ich betonen, dass der Kern des Erfolgs der NATO und ihrer Fähigkeit, unter erheblich veränderten Umständen und über eine so lange Zeit eine solch entscheidende Rolle zu übernehmen, nicht nur ihre militärische Stärke ist, sondern es sind auch die Werte, die diesem Bündnis zu Grunde liegen. Was Ronald Reagan einmal den "instinktiven Wunsch eines Menschen nach Freiheit und Selbstbestimmung" nannte, hat in den letzten 20 Jahren außergewöhnliche und wunderbare Veränderungen herbeigeführt - das Ende des Kalten Kriegs und der tragischen Teilung Europas sowie den Untergang totalitärer und autoritärer Regime auf beiden Seiten der Trennlinie des Kalten Kriegs. Und heute ist der Wunsch nach Freiheit eine Macht im Krieg gegen den Terrorismus.

Die Demokratien der Welt regieren mit Rechtsstaatlichkeit und dem Einverständnis des Volkes. Die Taliban regierten - wie andere Tyrannen auch - mit Terror. Es ist kein Zufall, dass jeder Staat, der den Terrorismus unterstützt, auch sein eigenes Volk terrorisiert.

Und das ist eine ihrer grundlegenden Schwächen.

Der Wunsch nach Freiheit und Selbstbestimmung hat das Bündnis seit nunmehr einem halben Jahrhundert zusammengehalten. Präsident Reagan sagte am 40. Jahrestag der Invasion der Alliierten in der Normandie: "Wir sind heute den gleichen Loyalitäten, Traditionen und Überzeugungen verbunden, denen wir [damals] verbunden waren. Wir waren damals auf Ihrer Seite, wir sind heute auf Ihrer Seite. Ihre Hoffnungen sind unsere Hoffnungen, und Ihr Schicksal ist unser Schicksal."

Diese Geisteshaltung ist auch zwanzig Jahre später lebendig und stark. Ich hatte erst vor einigen Tagen die Ehre, Mannschaftsmitglieder des deutschen Zerstörers, der Luetjens zu treffen. Nur zwei Wochen nach dem 11. September bat der Zerstörer Luetjens im Ärmelkanal um Erlaubnis, längsseits der USS Winston Churchill zu gehen. Als die Luetjens nah genug gekommen war, waren die amerikanischen Matrosen zutiefst bewegt, eine amerikanische Flagge auf Halbmast wehen zu sehen. Als sie noch näher kam, konnten unsere Männer die gesamte Mannschaft der Luetjens in ihrer Galauniform an Deck sehen, wo sie ein handgemaltes Schild zeigten, auf dem stand: "Wir stehen an eurer Seite". Ein junger amerikanischer Marineoffizier nannte es "das Bewegendste, was ich in meinem ganzen Leben gesehen habe" und schrieb nach Hause: "...es blieb kein Auge trocken, als sie einige Minuten längsseits lagen, und wir salutierten... Die deutsche Marine hat für diese Mannschaft etwas Unglaubliches getan... Die in ganz Europa und auf der Welt demonstrierte Verbundenheit zu sehen, macht uns alle stolz, hier zu sein und unsere Arbeit zu tun."

Als Bündnis waren wir nie stärker. Wir waren nie geschlossener. Wir waren nie entschlossener, gemeinsam voranzugehen. Lassen Sie uns diese Reise mit dem Versprechen der Matrosen eines Bündnispartners an die Matrosen des anderen machen: "Wir stehen an eurer Seite."

Vielen Dank.

Originaltext: Remarks of Deputy Secretary of Defense Paul Wolfowitz at 38th Munich Conference on Security Policy


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