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Neue Kampfansage

Antisemitismus und "blinder Israel-Haß": Bartsch und Co. pflichten Vorwürfen des Zentralrats der Juden gegen die Linke bei und stellen ihre Partei vor die "Zerreißprobe"

Von Rüdiger Göbel *

Die Antisemitismuskampagne gegen Die Linke droht die Partei zu spalten und damit die einzige parlamentarische Opposition zu Krieg und Sozialabbau auszuschalten. An der (selbst)zerstörerischen Operation wirken führende Genossen mit, allen voran der stellvertretende Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag, Dietmar Bartsch. Am Dienstag dankte er via Mitteldeutsche Zeitung dem Präsidenten des Zentralratsrats der Juden, Dieter Graumann, für dessen Schelte über die Linke. Graumann hatte in der Süddeutschen Zeitung (Montagausgabe) behauptet, in der Partei seien Antisemitismus und ein »geradezu pathologischer, blindwütiger Israel-Haß« verankert. »Der alte antizionistische Geist der DDR spukt noch in der Partei.« Während Linke-Chef Klaus Ernst dies umgehend als »Diffamierung« zurückwies und den Zentralratspräsidenten aufforderte, »die Niederungen der Parteipolitik schnell wieder zu verlassen«, wartete Bartsch mit der Meinung auf, Graumann habe der Linken »etwas ins Stammbuch geschrieben, das wir sehr, sehr ernst nehmen sollten«. Die Partei habe an dieser Stelle ein Problem, auf das sie mit der jüngsten Resolution der Fraktion angemessen reagiert habe. Die darin eingenommene Position müsse sie jetzt auch halten, so Bartsch. Die Entschließung vom 7. Juni untersagt den Fraktionsmitgliedern und -mitarbeitern unter anderem eine Beteiligung an der in dieser Woche startenden Free-Gaza-Hilfsflotte.

Sachsen-Anhalts Linke-Landeschef Matthias Höhn, sonst immer stramm an der Seite von Bartsch, weist dagegen Graumanns Kritik zurück: »Wir haben in der Partei zum Teil unterschiedliche Positionen zum Nahost-Konflikt«, sagte er der Mitteldeutschen Zeitung. »Aber pathologische Israel-Hasser haben wir nicht.« Eine Grenze sei das Existenzrecht Israels. »Ich kenne niemanden, der das in Abrede stellt.« Der Linksfraktionschef in Sachsen-Anhalt, Wulf Gallert, sagte der Zeitung: »Wir müssen uns nicht alle Schuhe anziehen, die man versucht, uns anzuziehen.« Allerdings sei bei dem Thema in letzter Zeit »nicht immer die notwendige Sensibilität aufgebracht worden«. Insofern sei die Resolution der Bundestagsfraktion richtig gewesen.

Gestützt wird Bartsch von Parteivize Halina Wawzyniak, die Graumanns Attacke auf die Linke nicht etwa zurückweist wie ihr Vorsitzender Ernst, sondern laut Spiegel online als »wenig hilfreich« für eine Klärung der Antisemitismusdebatte wertet, also nicht danebengehend. Auch Linke-Schatzmeister Raju Sharma kann die Kritik des Zentralrats der Juden »nur zu gut verstehen«. Vertretern des linken Parteiflügels attestiert Sharma fehlendes Gespür in ihrer Haltung zu Israel: »Wenn in meiner Partei die israelische Regierung kritisiert wird, mangelt es häufig an Achtsamkeit. Wir müssen aber auch auf Gefühle des israelischen Volkes Rücksicht nehmen, die sich aus der Geschichte des Landes ergeben«, erklärt Sharma dem Internetportal des Spiegel.

In der aktuellen Printausgabe des Hamburger Magazins unterstellt Bodo Ramelow, Linksfraktionschef in Thüringen, zahlreichen Genossen seiner Partei judenfeindliche Einstellungen. Vielen gehe es in Wirklichkeit gar nicht um das Unrecht an den palästinensischen Menschen im Gazastreifen, »sondern eher um einen ungewünschten Staat Israel, den man unter Vorspiegelung eines internationalistischen Fähnchens am liebsten verschwinden sehen möchte«. Ramelows früherer Mitarbeiter Benjamin Krüger, Begründer der parteiinternen Pro-Israel-Lobby BAK Shalom und mittlerweile vom Büro des Bundestagsabgeordneten Frank Tempel aus gegen Die Linke agierend, assistiert im selben Blatt: »Wir haben ein Antisemitismusproblem.« Sonja Kiesbauer schließlich, beschäftigt bei der Linke-Parlamentarierin Cornelia Möhring, wettert via Facebook nach dem Maulkorbbeschluß vom 7. Juni: »Ist denn den AntisemitInnen in der Fraktion jetzt klar, daß sie politisch unerwünscht sind.«

Zum Entsetzen der als »Realos« bezeichneten Parteirechten will Linksfraktionschef Gregor Gysi in der kommenden Woche einen Beschluß fassen lassen, der sich gegen »die inflationäre Verwendung des Begriffs Antisemitismus« und die einseitige Zustimmung zur Politik Israels, Krieg und Besatzung inklusive, wendet. Schatzmeister Sharma hat bereits angekündigt: »Das würde ich nicht unterstützen – und da wäre ich nicht der einzige.« Gysi agiere in der Antisemitismusdebatte »nur noch wie ein Getriebener«, macht Sharma gegenüber Spiegel online seinen Fraktionschef madig, um dem »Getriebenen« zu empfehlen: »Mit einem neuen Beschluß würde sich Gysi nur selbst schaden. Er sollte darauf unbedingt verzichten.« Fraktionskollege Michael Leutert droht, so werde man »politikunfähig«. Die ohnehin unter Hochspannung stehende Partei stehe dann »vor einer Zerreißprobe«.

Doch warum keine Präzisierung? Wer als Linke-Politiker behauptet, in seiner Partei gebe es Antisemiten, der muß doch eigentlich alles daransetzen, diese schnellstmöglich auszuschließen – oder, wenn er sich mit seinen Diffamierungen partout nicht durchsetzen kann, die Konsequenzen ziehen und selbst gehen. Reaktionen der Parteibasis, Leserbriefspalten und Diskussionen in den Onlineforen zufolge müßte es auf letzteres hinauslaufen, denn kaum jemand ist so dumm, die widerliche Instrumentalisierung von Antisemitismus und Holocaust zur politischen Pfründesicherung nicht zu durchschauen. Das wiederum dürften Bartsch und Co. wissen.

* Aus: junge Welt, 22. Juni 2011

Dokumentiert:

Brief aus Israel

102 jüdische Links-Aktivisten verurteilen Beschluss der LINKS-Fraktion

An die Fraktionsmitglieder der Partei DIE LINKE.

Wir, Linksaktivist_innen von verschiedenen Organisationen und Zusammenhängen aus Israel, kritisieren Euren Fraktionsbeschluss vom 7. Juli. In diesem Beschluss werden zwei grundverschiedene Themen vermischt, die demgegenüber dringend voneinander unterschieden werden müssen, um Antisemitismus in Deutschland und weltweit bekämpfen zu können. Darüber hinaus erhebt der Beschluss ungeheuerliche Anschuldigungen gegen die Zivilgesellschaft in Israel-Palästina und die internationale Solidaritätsbewegungen, die einen gerechten Frieden in unserer Region unterstützen.

Wir sind uns bewusst, dass Antisemitismus, ebenso wie Islamophobie und andere Formen von Rassismus, Sexismus und Homophobie, auch in der europäischen Linken verbreitet sind. Als Mitglieder der Partei DIE LINKE. ist es dringend notwendig, dass Ihr eine klare Stellung zu diesem Thema bezieht und wir unterstützen Eure eindeutige Verurteilung rassistischer und anti-jüdischer Aktivitäten, Ideologien und Diskurse.

Wir vertreten unterschiedliche Meinungen zu offenen Fragen und Strategien im israelischpalästinensischen Konflikt; auch bezüglich jener Punkte, die Teil Eures Beschlusses sind: Die Ein-Staat-Lösung, die Kampagne für Boykott/ Desinvestitionen/ Sanktionen (BDS) und die unterschiedlichen Solidaritätsaktionen zur Durchbrechung der Belagerung des Gaza-Streifens, darunter die „Gaza-Flotilla“.

Nichtsdestotrotz sind wir überzeugt, dass keine dieser Aktionen oder Positionen grundsätzlich etwas mit Antisemitismus zu tun haben. Zu unterstellen – wie in Eurem Beschluss geschehen – dass eine offene Diskussion über diese Themen antisemitisch sei, ist ein Affront gegenüber einer globalen anti-rassistischen Bewegung, die sich gegen die illegale und brutale Politik des Staates Israel gegen die Palästinenser_innen in seinen anerkannten Grenzen, in den besetzten Gebieten und in der Diaspora wendet. Wir zählen uns selbst mit Stolz zu dieser Bewegung.

Wir glauben, dass die Solidarität mit dem palästinensischen Kampf für Unabhängigkeit und Gerechtigkeit nicht nur ein moralischer Imperativ, sondern auch im besten Interesse israelischer Staatsbürger_innen und aller jüdischen Menschen weltweit ist. Das israelische Establishment versucht, sich weltweit als einziger legitimer Vertreter der Jüdinnen und Juden darzustellen. Dieser Anspruch wird in Deutschland und Europa leider meist unhinterfragt akzeptiert. In den letzten Jahren bezeichnete die israelische Regierung zunehmend jede Kritik an ihrer Politik als antisemitisch und instrumentalisierte diese falsche Gleichsetzung, um jegliche politische Auseinandersetzung um die Besatzung zu unterbinden.

Wir bestehen darauf, dass Ihr auch zukünftig Eure klare Opposition zu Antisemitismus ausdrückt und fordern, dass Ihr Solidarität mit den Palästinenser_innen zeigt. Bekennt Euch zu einer offenen Diskussion über die verschiedenen Formen des Widerstands, des Aktivismus und der Solidarität und über die Vorschläge zur möglichen Beendigung des Konflikts, die auf Menschenrechten und Demokratie basieren! Wir glauben, dass sich diese Positionen in keiner Weise widersprechen sondern sich vielmehr zur besten und wirksamsten linken Perspektive zum Konflikt ergänzen.

Wir werden weiter unsere Opposition zu allen Formen von Rassismus und Unterdrückung ausdrücken und hoffen, dass Ihr Euren Beschluss überdenkt – damit wir gemeinsam für einen gerechten Frieden im Nahen-Osten arbeiten können.

Mit solidarischen Grüßen

Abend, Noa; Algazi, Gadi; Aloni, Udi; Angel, Roey; Aronof, Eli; Assaf, Langer; Atai, Daniel; Aviv, Nitzan; Banai, Daphne; Bartal, Yossi; Bartana, Ilil; Basha, Roi; Baskin, Elisha; Baum, Dalit; Beirach, Yoav; Ben-Arie, Ronnen; Berger, Tamar; Bronstein, Eitan; Cantor, Eleanor; Cohn, Alex; Cooperman, Sharona; Dagan, Adi; Dak, Maayan; Daniel, Langer; David, Yossi; Davis, Uri; Dukarevich, Daniel; Eisner, Shiri; Fanya, Hila; Feiler, Dror; Felicia, Chetrit; Freed, Tamar; Glazer, Chaya; Golan, Neta; Goldstein, Basi; Gordon, Uri; Grayevsky, Adar; Greisman, Benjamin; Guthman, Anat; Gvirtz, Amos; Hackbarth, Connie; HaCohen, Ran; Halevi, Yasmine; Halperin, Yuval; Handel, Sarrie; Hefetz, Iris; Hever, Shir; Kahn, Yael; Kaminer, Matan; Kantarowicz, Liad; Kedar, Assaf; King, Tal; Knopova, Yana; Lecker, Carmi; Leibner, Gerardo; Lerer, Yael; Liraz, Adi; Litman, Gabi; Livne, Michal; Loytar, Orit; Maoz, Eilat; Marton, Ruchama; Matar, Anat; Meira, Kaiser; Melzer, Abraham; Micenmacher, Esti; Montserrat, Nuria; Moshe, Chipman; Nathansohn, Regev; Nir, David; Ofer, Graizer; Orlow, Norah; Oz, Hava; Peles, Leiser; Polakow, Shachaf; Politi, Yael; Pudjarny, Einat; Puterman, Yisrael; Raul, Ofir; Razinsky, Hili; Robas, Moshe; Ronel, Assaf; Ronen, Ben; Ronen, Yael; Rose, Timna; Rosin, Yehoshua; Rubin, Dana; Shalom, Sami; Shapira, Yonatan; Shemoelof, Mati; Sivan, Eyal; Snitz, Kobi; Sündermann, Bilha; Wagner, Roy; Warschawsky, Michael; Wolfson, Yossi; Yahni, Sergio; Yaniv, Rotem; Yitzhak, Ezra; Yuval, Kim; Zameret, Shimri; Zohar, Yahav.


Quelle: Website des Instituts für Palästinakunde e.V., Bonn; www.ipk-bonn.de



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