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Ein Land, das gern Präzedenzfälle schafft

Die Nuklearstreitmacht der USA: Eine Frage der Weltherrschaft

Von Wolfgang Kötter*

In den USA wurde 2002 eine neue Sicherheitsdoktrin verabschiedet, die den Einsatz von Kernwaffen nicht nur für den Verteidigungsfall, sondern auch bei militärischen Handlungen präventiven Charakters ausdrücklich vorsieht. Die entsprechende Anpassung des Nukleararsenals hat zur Entwicklung von "Mininukes", vor allem aber der Stationierung erster Komponenten einer weltraumgestützten Raketenabwehr geführt. Dass andere Atommächte dem nicht passiv zusehen, liegt auf der Hand. - Wir beenden mit diesem Text unsere Serie über die Potenziale und Einsatzdoktrinen der führenden Kernwaffenstaaten.

Als "diplomatischen Knüppel" begrüßte Präsident Harry S. Truman im Sommer 1945 den ersten erfolgreichen Kernwaffentest in der Wüste von Alamogordo. Hatte er doch die Potsdamer Konferenz zur europäischen Nachkriegsordnung extra um etliche Tage verschieben lassen, damit diese Nachricht effektvoll platziert werden konnte. Wenig später, am 6. und 9. August 1945, ließ Truman die neue Waffe erstmals einsetzen und die japanischen Großstädte Hiroshima und Nagasaki auslöschen.

Unumstritten waren diese Atombombenabwürfe in den USA allerdings nicht, sie stießen sowohl bei Admiral Leahy wie auch General Eisenhower auf Widerspruch. Dokumente belegen überdies, dass die Zahlen der bei einer Bodenoffensive gegen den Kriegsgegner Japan zu erwartenden amerikanischen Gefallenen heraufgefälscht wurden, um eine Entscheidung zugunsten der atomaren Option zu provozieren. Dabei zielte der Hiroshima und Nagasaki heimsuchende nukleare Overkill nicht nur darauf, den letzten militärischen Widerstand im Fernen Osten moralisch und physisch zu brechen, vor allem sollte ein Mitspracherecht Stalins für die Nachkriegsordnung in Japan von vornherein ausgeschlossen werden.

Der Atomphysiker Leo Szilard warnte damals: "Ein Land, das den Präzedenzfall schafft, diese neu freigesetzte Naturgewalt zu Vernichtungszwecken einzusetzen, muss vielleicht die Verantwortung dafür übernehmen, einem Zeitalter der Vernichtung von unvorstellbarem Ausmaß Tür und Tor geöffnet zu haben."

Ein Blick auf die Politik der Bush-Administration legt heute den Schluss nahe, dass sie - wie zu Zeiten Trumans - bei einer auf nukleare Überlegenheit gegründeten Vorherrschaft zwei Axiome geltend macht: sie betrachtet die Existenz von Kernwaffen als todsicheren Schutz, und sie will den Gebrauch von Kernwaffen als strategische Option, um eine Pax Americana des 21. Jahrhunderts zu garantieren. Doch sind die USA heute um ein Vielfaches verwundbarer als vor knapp sechs Jahrzehnten. Das für mindestens eine Generation beanspruchte Atomwaffenmonopol währte seinerzeit ganze vier Jahre, der anfängliche Zeitvorsprung gegenüber der Sowjetunion schrumpfte seit Anfang der fünfziger Jahre stetig. Das daraufhin forcierte Wettrüsten verkehrte sogar partielle Technologievorteile in deren Gegenteil. So weigerten sich die USA in den siebziger Jahren, Mehrfachsprengköpfe in die bilateralen Abrüstungsverhandlungen mit der UdSSR einzubeziehen. Eine krasse Fehlentscheidung, wie der damalige Sicherheitsberater Henry Kissinger später einräumte. Denn Moskau zog bald nach und ließ durchblicken, dass die schwereren sowjetischen Raketen eine weitaus größere Anzahl von Mehrfachsprengköpfen befördern konnten als ihr amerikanisches Pendant.

"Mininukes" als robuste Bunkerbrecher

Im Augenblick verfügen die USA über etwa 10.000 nukleare Sprengköpfe, von denen annähernd 7.000 ad hoc einsetzbar sind. Als Trägermittel für die strategischen Atomwaffen dienen 530 landgestützte Interkontinentalraketen, 360 Raketen auf 15 global operierenden Unterseebooten (vgl.: Bulletin of the Atomic Scientists, May/June 2004) und 115 Langstreckenbomber (s. Übersicht). Die USA haben als einzige Atommacht Nuklearwaffen außerhalb der Landesgrenzen stationiert - in Belgien, Deutschland, Großbritannien, Italien, den Niederlanden und in der Türkei. Die deutschen Standorte befinden sich auf dem Bundeswehr-Fliegerhorst Büchel an der Mosel und im pfälzischen Ramstein. Dort werden bis zu 150 Atomwaffen vom Typ B-61 mit einer Sprengkraft von mehreren hundert Hiroshima-Bomben gelagert. Gemäß der sogenannten nuklearen Teilhabe innerhalb der NATO stellt die Bundesrepublik von eigenen Piloten geflogene Tornado-Flugzeuge als Trägersysteme - ein Verstoß gegen den Kernwaffensperrvertrag wie auch das Rechtsgutachten des Internationalen Haager Gerichtshofes (IGH) gegen die Anwendung von Atomwaffen.

Es versteht sich, dass die Vereinigten Staaten bemüht sind, die Zahl der Atommächte so klein wie möglich zu halten, was jahrzehntelang durch den Vertrag über die Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen (NPT) garantiert war. Gegenwärtig jedoch unterliegt das Abkommen akuter Auszehrung, seit die Bush-Administration die bisherige Praxis nach Vertragsverstößen durch Irak, Iran und Libyen sowie dem Vertragsaustritt Nordkoreas für gescheitert hält. Statt eines kooperativen Vorgehens soll künftig einer Verbreitung von Atomwaffen mit einer Politik der "Counter-Proliferation" gewaltsam und präemptiv - notfalls unter Einsatz von Nuklearwaffen - begegnet werden. Zu diesem Zweck wurde die US-Atomwaffenstrategie in der Nuclear Posture Review überprüft und 2002 eine neue Sicherheitsdoktrin verabschiedet, die Einsatzoptionen für Atomwaffen erheblich großzügiger handhabt als bisher.

Nukleare Gegenschläge werden nun nicht mehr allein für den Fall angedroht, dass amerikanisches Territorium mit nichtkonventionellen Waffen angegriffen werden sollte. Ausdrücklich vorgesehen sind präventive Handlungen gegen "Schurkenstaaten" oder "Terrorgruppen", sollte die Vermutung bestehen, dass diese Massenvernichtungswaffen entwickeln, erwerben und möglicherweise anwenden wollen. Dafür werden neue und kleinere Nuklearsprengköpfe in Dienst gestellt - die sogenannten "Mininukes". Die verharmlosende Bezeichnung gilt einem Waffentyp, dessen Sprengkraft zwischen einer und fünf Kilotonnen liegt und damit mehr als hundert mal stärker ist als die Zerstörungswucht konventioneller Bunkerbrecher. "Mininukes" dringen bis zu 50 Meter tief in die Erde ein, explodieren dort und schalten so unterirdische Kommando- und Kontrollzentren wie auch Waffenlager aus. Dank der extremen Hitze der so ausgelösten Kettenreaktion würden selbst eingelagerte chemische und biologische Massenvernichtungswaffen verbrennen. Ein Großteil der Radioaktivität bleibe im Boden, heißt es von amerikanischer Seite, so dass diese Waffenkategorie insgesamt "gebrauchsfähiger" sei und bestenfalls geringe "Kollateralschäden" verursachen könne. Experten bezweifeln das, denn die Explosionen von "Mininukes" würden tonnenweise radioaktiv verseuchten Boden aus dem Krater schleudern, die Umwelt in einem Umkreis von vielen Kilometern verstrahlen und ganze Landstriche einschließlich der dort lebenden Menschen auslöschen. Nach einem zwölfjährigen Moratorium sollen nunmehr diese und andere Arsenale wieder auf dem Versuchsgelände in der Wüste von Nevada erprobt werden, wo die Vorbereitungszeit für eine Wiederaufnahme nuklearer Testexplosionen von 36 auf 18 Monate verkürzt wurde.

Sind allein das schon besorgniserregende Vorgänge, so wird mit der begonnenen Militarisierung des Weltraums klar eine qualitative Zäsur vollzogen. In den nächsten Jahren soll eine ganze Armada von Weltraumwaffen wie präzisionsgesteuerte Killersatelliten, kinetische Energiewaffen, Hyperschallwaffen, Infrarotsensoren und Laserkanonen stationiert werden. Kosmosgestützte Komponenten sind gleichfalls für das Nationale Raketenabwehrsystem vorgesehen, dessen erste Elemente in Alaska installiert werden.

Mythos von der Unverwundbarkeit

Im Zeichen des Antiterrorkampfes stehen Mittel zur Verfügung wie noch nie in der US-Geschichte, selbst wenn die aufgebotenen Waffensysteme gegen mögliche Terroranschläge weitgehend wirkungslos sind. Doch die "Neocons" um Vizepräsident Cheney und Verteidigungsminister Donald Rumsfeld wissen mit dem "9/11-Schock" so umzugehen, dass Abstriche an ihren Rüstungsplänen für jeden wahren Patrioten unvorstellbar erscheinen. Das erklärte Ziel heißt: Unverwundbar und im Feldzug gegen den Terror siegreich sein. Das entscheidende Motiv lautet: Die globale militärische Dominanz im Dienste einer ungebrochenen politischen Hegemonie sichern können.

Im nächsten Jahr werden die US-Militärausgaben auf die astronomische Summe von 441 Milliarden Dollar steigen - fast soviel wie die Rüstungsetats aller übrigen Staaten der Welt zusammen. "Was könnte destabilisierender und dümmer sein, als auf diese Weise Unsicherheit zu verbreiten", warnt der demokratische Senator Robert Byrd. Jetzt würden all jene, die sich bedroht fühlten, erst recht zum eigenen Schutz aufrüsten und all jene, die bereits im Besitz von Massenvernichtungswaffen seien, zur Nachahmung verleitet. Mit Blick auf die enormen Kosten und vielfältigen technischen Mängel einer Nationalen Raketenabwehr meint Philip Coyle vom Center for Defense Information in Washington: "Das ist so, als rolle man ein neues Auto aus der Fabrik, dem die Reifen, das Steuerrad und die Bremsen fehlen - und das noch nie auf offener Straße ausprobiert wurde."

"Seit dem Beginn der Nukleardiplomatie", so das Fazit des Washingtoner Henry L. Stimson Centers, "hat kein US-Präsident eine negativere Bilanz aufzuweisen oder mehr getan, um multilaterale Bemühungen zur Reduzierung und Beseitigung von Massenvernichtungswaffen zu blockieren, als George W. Bush." So manche Hoffnung auf eine Korrektur der US-Außenpolitik richtet sich daher auf einen Wechsel im Weißen Haus nach den Präsidentschaftswahlen am 2. November.

Bisherige Äußerungen des Herausforderers John Kerry bieten freilich wenig Anlass zu übertriebenen Erwartungen. Zwar verspricht er einen "Progressiven Internationalismus" als Alternative zum arroganten Unilateralismus der jetzigen Regierung. Aber auch Kerry lässt keinen Zweifel, gegebenenfalls der geltenden Sicherheitsdoktrin zu folgen, die in einem radikalen Paradigmenwechsel Kernwaffen nicht mehr vorrangig als Mittel der Abschreckung, sondern als Instrument einer präventiven und offensiven Kriegführung definiert. Man muss kein Prophet sein, um davon auszugehen, dass die übrigen Atommächte sich gleichfalls dieser Philosophie annehmen werden, indem sie ihre Arsenale technisch umrüsten und qualitativ aufrüsten - indem sie vor allem ihre Einsatzdoktrinen der veränderten Weltlage anpassen. Da zusätzlich weitere Staaten mehr oder minder offen nach einem eigenen Kernwaffen-Potenzial streben, dürfte das Risiko einer thermonuklearen Konfrontation - trotz der seit 1990 teilweise abgebauten Atomwaffen-Bestände - wieder größer werden.

US-Kernwaffenarsenal 2004

TrägermittelAnzahlZeitraum der
Stationierung
Zahl der
Sprengköpfe
landgestützte
Raketen
(Minuteman III /
MK-12 / MK-12 A / MX)
5301970 - 19861.490
seegestützte
Raketen
(auf den U-Booten
Trident I und II)
3521979 - 19922.730
luftgestützte
Systeme
(an Bord von B-52 /
B- 2)
1151961 - 19941.660
strategische
Sprengköpfe
--5.880
taktische
Sprengköpfe
--1.120
Gesamtzahl--10.000
(3.000 davon
eingelagert)

Quelle: Bulletin of the Atomic Scientists


* Aus: Freitag, 41, 1. Oktober 2004

Die Wochenzeitung "Freitag" veröffentlichte vom Juli bis Oktober 2004 eine Reihe von Beiträgen über die Atomwaffenarsenale und -politik der Kernwaffenstaaten. Es erschienen:

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