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Die Welt nach dem 11. September: "Multilaterale Kooperationskultur" versus amerikanischer "Unilateralismus"

Die fünf großen Friedensforschungsinstitute stellen ihr "Friedensgutachten 2002" vor

Jedes Jahr im Juni geben die führenden Friedensforschungsinstitute in der Bundesrepublik ein "Friedensgutachten" heraus, in dem sie aus wissenschaftlicher Sicht die weltpolitische Lage beurteilen, internationale Konfliktlinien beschreiben und analysieren, nach den Ursachen von Gewalt und Krieg in der Welt fragen und den Frieden fördernde Alternativen aufzeigen. Herausgegeben wird das Gutachten von der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), das diesmal die Federführung innehatte, dem Bonn International Center for Conversion (BICC), dem Institut für Entwicklung und Frieden der Universität Duisburg (INEF), der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft Heidelberg (FEST) und dem Institut für Friedensforschung- und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH).

Das Friedensgutachten 2002 wurde am 6. Juni auf der Bundespressekonferenz in Berlin vorgestellt. Bruno Schoch (HSFK) legte die wesentlichen Anliegen der Herausgeber in einer Pressemitteilung offen, aus der wir im Folgenden das Wichtigste dokumentieren. Weiter unten befindet sich noch das Inhaltsverzeichnis mit ein paar selektiven Hervorhebungen besonders zu beachtender Einzelbeiträge.


Vorstellung des Friedensgutachtens 2002 am 6. Juni 2002 vor der Bundespressekonferenz (Auszüge)

Einmal mehr wurde uns der Schwerpunkt aufgedrängt: Das Friedensgutachten 2002 kreist um den 11. September. Terrorismus gibt es seit langem, aber er ist nicht der immer gle3iche. Terrorismus ist nicht die Krankheit, sondern das Symptom - die Krankheit ist der historisch-gesellschaftliche Zuammenhang, aus dem er erwächst. ... Dass die Selbstmordattentäter bewusst einen Massenmord inszenierten, wirft die bange Frage auf, ob Terroristen in den Besitz von Massenvernichtungswaffen gelangen könnten. Unseren Spezialisten zufolge ist das nicht mit Sicherheit auszuschließen. Das rückt die zivilisatorische Errungenschaft des staatlichen Gewaltmonopols neu ins Bewusstsein. Und es verleht der Forderung nach Rüstungskontrolle und Abrüstung sowie nach Durchsetzung der internationalen Verträge zur Nichtverbreitung neue Dringlichkeit.

So gibt es etwa weltweit rund 250 t militärisches Plutonium und rund 1700 t. HEU (highly enriched uranium). Viele Lagerstätten sind unzureichend gesichert oder gar nicht bekannt. Das Netz der Sicherungen gegen den Schmuggel muss engmaschiger werden. Das sollte uns höhere Kosten wert sein. In Abrüstungshilfe und -verifikation zu investieren statt in die Entwicklung neuer exotischer Kriegsmittel, bringt mehr Sicherheit.

Der UN-Sicherheitsrat hat zur weltweiten Koalition gegen den Terror aufgerufen und alle Staaten zu konkreten Maßnahmen verpflichtet. Die USA setzen auf militärische Terrorismus-Bekämpfung, wie das gigantische Aufrüstungsprogramm der Bush-Administration bezeugt. In der Koalition gegen den Terror geht es ihr in erster Linie um militärische und logistische Hilfen, um Überflug- und Stationierungsrechte.

Was den Krieg in Afghanistan angeht, gelangen wir zu einer gemischten Bilanz. Auf der Habenseite steht, dass die Diktatur der Taliban besiegt und ein Sanktuarium für die Rekrutierung terroristischer Akteure zerstört wurde. Beides ist Voraussetzung dafür, dass das Land nach 22 Jahren krieg zu einem geregelten Gemeinwesen zurückkehren kann. Dem steht auf der Sollseite gegenüber: Weder ist das Netz von Al Qaida zerstört, noch gelang es, seiner Führung habhaft zu werden. Wir haben keine sicheren Informationen über zivile Opfer und Zerstörungen. Und der Krieg ist nicht zu Ende.

In Washington versuchen manche, das Recht auf Selbstverteidigung in eine Präventivstrategie umzudeuten. Der angedrohte Krieg gegen den Irak bedeutete, von vorbeugender Terrorismusabwehr zum krieg gegen mögliche Besitzer von Massenvernichtungswaffen überzugehen. Doch Saddam Hussein begeht keine Aggression - sein Regime mittels Krieg zu beseitigen, wäre bloße Willkür. Mit unabsehbaren Folgen für die Stabilität der Region. Und mit absehbaren, fatalen Folgen für die Weltordnung: Das alte ius ad bellum, in der UN-Charta ausdrücklich verboten, würde restauriert. Wie wenig Kriegsdrohungen aus der Welt sind, belegt das Säbelrasseln zwischen Indien und Pakistan.

Wir gehen auch den internationalen Machtverschiebungen seit dem 11. September nach ... Vier Elemente seien hervorgehoben:
  • Die Pax Americana bestimmt mehr denn je die Weltpolitik. Das Gewicht der Europäer in den transatlantischen Beziehungen hat abgenommen. Die Forderung, die Asymmetrie durch europäisches Aufrüsten zu beseitigen, um mit den USA "auf gleiche Augenhöhe" zu gelangen, zeugt nicht von viel Problemverständnis.
  • Russland ... hat sich nach der von Präsident Putin erklärten Solidarität mit den USA zu deren Sicherheitspartner gewandelt. ... Fraglos entspricht die neue Partnerschaft westeuropäischen Interessen. ...
  • Verändert hat sich auch die NATO. Erstmals macht sie sich ernsthaft Gedanken über eine kooperative europäische Sicherheitsstruktur - eine Forderung, die wir immer wieder erhoben haben. Der neue NATO-Russland-Rat ("Rat der zwanzig") könnte, wenn er kein bloß symbolisches Gremium wird, die Grenzen zwischen kollektiver Verteidigung und kollektiver Sicherheit auf interessante Art verschieben.
  • Nicht zuletzt verändern sich seit dem 11. September auch die Verhältnisse in Deutschland. Der Einsatz der Bundeswehr droht zum normalen Instrument der Außenpolitik zu werden. Nach wie vor leistet sich die Bundesrepublik zu große und zu teure Streitkräfte: Eine Armee, die in Personalnot gerät, wenn 10.000 Soldaten im Ausland tätig sind, ist offenbar falsch organisiert.
Ausgehend davon müssen die Europäer im Kampf gegen den Terrorismus auf nicht-militärische Strategien setzen:
  1. Statt nur den amerikanischen Unilateralismus zu beklagen, muss sich Europa für solide, neu gestaltete transatlantische Beziehungen engagieren. Auf dieser Grundlage sollte es Initiativen zu einer multilateralen Kooperationskultur unter Einbeziehung allerc Weltregionen entwickeln. Ziel bleibt die Verrechtlichung der internationalen Politik. Der IStGH (der Internationale Strafgerichtshof, Anm. von uns) ist ein Beispiel, dass es dazu aus europäischer Sicht keine Alternative gibt.
  2. Positiv beurteilen wir auch, dass die Bundesrepublik insbesondere im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit die Instrumente für zivile Konfliktbearbeitung auszubauen und zu erproben begonnen hat.
  3. Die EU muss in den internationalen Regelwerken wie WTO, IWF, Weltbank usw. ihr Gewicht und ihre Interessen einbringen; und sie muss eigene Initiativen zu einer globalen Strukturpolitik entwickeln. So gewiss es ist, dass sich die strukturellen Ursachen für den Terrorismus nur langfristig beseitigen lassen, so gewiss ist auch, dass sich seine Wurzeln ohne überzeugende Anstrengungen für Gerechtigkeit nicht bekämpfen lasse,
  4. Zwischen Autoritarismus und Repression in den meisten arabischen Staaten und dem islamistischen Terrorismus besteht ein Zusammenhang. Deshalb muss der Westen im eigenen Interesse mehr als bisher für Liberalisierung und Demokratisierung der repressiven Systeme intreten - trotz des Heißhungers nach billiger Energie, der uns kurzsichtig Stabilität vor Demokratisierung stellen lässt. ...
Wie immer beschäftigen wir uns mit ausgewählten regionalen Konflikten. Der Nahostkonflikt zeigt, dass die Reduktion der Politik auf Terrorismusbekämpfung zur Gewalteskalation beiträgt. Es gibt keine Alternative zur Zweistaatenlösung. Heute ist eine internationale Initiative unabdingbar, um ... die Kontrahenten mit Macht zu einem Ende der Gewalt zu drängen. ...

2001 konnte die internationale Politik unter Beweis stellen, dass sie aus ihrem Debakel auf dem Balkan gelernt hat. Der Hohe Repräsentant für die GASP war mit seinen robusten Verhandlungen in Mazedonien erfolgreich. Die Entwaffnung der Freischärler übernahm die NATO, unter deren Schutz viele Flüchtlinge zurückkehrten. Die konzertierte Aktion zwischen EU und NATO hat die Gewalteskalation unterbunden. ... Die deutsche Außenpolitik, die den Stabilitätspakt für Südosteuropa initiiet hat, muss dafür sorgen, dass Interesse und Hilfe der EU für die Befriedung des Balkans nicht erlahmen. Wenn das gelingt, könnte der Stabilitätspakt Modellcharakter auch für andere Krisenregionen bekommen.


Aus dem Inhaltsverzeichnis:

Stellungnahme "Zur gegenwärtigen Situation"
(enthält u.a. Empfehlungen an die Bundesregierung)

Einzelanalysen
  • u.a. sechs Beiträge zum Thema "Terrorismus", darunter sehr lesenswert: Jochen Hippler über die Quellen und Ursachen politischer Gewalt
  • sieben Beiträge zu den Folgen des 11. September, darunter eine kritische Abrechnung mit der deutschen Außenopolitik durch Reinhard Mutz ("Ein Tabu fällt") und der deutschen Innenpolitik durch Hans- J. Gießmann ("Mit der Stange im Nebel - Die Bundesregierung verschärft die innere Sicherheit")
  • sieben Beiträge, die sich kritisch mit der rein militärischen Terrorbekämpfung befassen und zivile Alternativen aufzeigen;
    besonders hervorzuheben sind die Beiträge von Herbert Wulf ("Mit Militär gegen Terrorismus"), Michael Brzoska (über "wirtschaftliche Aspekte neuer Aufrüstungsrunden"), Nicole Deitelhof (über den Internationalen Strafgerichtshof, der auch "ohne die USA" kommt) und von Angelika Spelten und Volker Böge (Konzepte, Maßnahmenn und Perspektiven ziviler Konfliktbearbeitung)
  • sechs Beiträge über regionale Konflikte
    herausragend die Beiträge von Margret Johannsen ("Der israelisch-palästinensische Krieg"), von Corinna Hauswedell (über den Nordirland-Konflikt) und von Renée Ernst/Kiflemariam Gebrewold über den Kleinwaffenbedarf und -handel am Horn von Afrika ("Tausche Kamel gegen Kalaschnikows")(Vgl. hierzu auch den Bericht über das SALKIGAD-Projekt.)
Zeittafel
Wie immer enthält die Zeittafel eine Chronologie wichtiger Ereignisse, unterteilt nach Regionen (Europa, Afrika, Vorderer und Mittlerer Orient, Asien/Ozeanien, Amerika) und verschiedenen Sachbereichen (Internatioonalen Organisationen, Rüstung/Abrüstung, Kriegsverbrecherprozesse, Konfliktbewältigung, Globalisierung)

Friedensgutachten 2002, herausgegeben von Bruno Schoch, Corinna Hauswedell, Christoph Weller, Ulrich Ratsch und Reinhard Mutz; LIT Verlag, Münster-Hamburg 2002
310 Seiten, Euro 12,90 (ISBN 3-8258-6000-8)


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