Die Tiger miauen nur noch
Die Krise trifft die Bevölkerung der baltischen Staaten hart
Jan Jõgis-Laats *
In der EU sind Lettland, Estland und Litauen besonders stark vom Wirtschaftsabschwung betroffen.
Einige Ökonomen halten Haushaltskürzungen und eine Niedriglohnstrategie für unausweichlich.
Die baltischen Länder Estland, Lettland und Litauen, einst die wirtschaftlichen Tiger des EU-Ostens,
stecken tief in der Krise. Zwischen Januar und März brach das Bruttoinlandsprodukt zweistellig ein:
Lettland lag in der EU mit minus 18,6 Prozent am Ende; in Estland schrumpfte die Wirtschaft um
15,6 Prozent, in Litauen um 10,9 Prozent.
Jede Woche verlieren Tausende in den kleinen Staaten ihren Arbeitsplatz. Innerhalb eines Jahres
hat sich die Arbeitslosigkeit mehr als verdoppelt – die Quote lag im März in Lettland bei 16,1; in
Litauen bei 15,5 und in Estland bei 11,1 Prozent. Die Menschen müssen damit rechnen, dass man
im besten Fall vom Arbeitgeber eine Gehaltskürzung verordnet bekommt. Die Steuereinnahmen
sinken drastisch und die Regierungen sind gezwungen, die Haushalte zu kürzen, sonst droht den
kleinen Ökonomien die Pleite.
Lettland musste schon 2008 vom Internationalen Währungsfonds (IWF) und der EU mit einem
Notkredit gerettet werden. Heute hat das Land praktisch eine »IWF-Regierung« – man bekommt die
Gelder nur, wenn der IWF Budgetpläne akzeptiert und die Haushaltskürzungen auch durchgeführt
werden. In dieser Woche diskutierte die lettische Regierung mit einer IWF-Delegation über neue
Bedingungen des Rettungsplans, die ein höheres Haushaltsdefizit erlauben.
In Estland ist die Lage etwas besser, beteuert zumindest die Regierung. Aber auch Beobachter
weisen darauf hin, dass das Land im Unterschied zu seinen südlichen Nachbarn in den fetten
Jahren ansehnliche Reserven angelegt hat. Doch schaltete auch die estnische Regierung Anfang
des Jahres auf einen Sparkurs um, der vor wenigen Tagen eine Regierungskrise ausbrechen ließ.
In Litauen setzt man große Hoffnungen auf die neue Staatspräsidentin, die am vergangenen
Sonntag mit fast 70 Prozent der Stimmen gewählte bisherige EU-Haushaltskommissarin Dalia
Grybauskaite. Sie soll für stabile politische Verhältnisse sorgen. Gleichzeitig hat sie eine harte Linie
bei der Bekämpfung der Krise angekündigt.
Sind die Probleme in den baltischen Staaten nur eine Folge der globalen Krise? Nein, meinen
Beobachter. Einerseits sind die Exportmärkte zusammengebrochen und Kreditlinien ausgetrocknet,
aber andererseits war der vorherige Aufschwung lediglich von einem Boom der Immobilien- und
Bauwirtschaft getragen. Obwohl es schon 2006 und 2007 Warnungen gab, dass »die Party« nicht
ewig weiterlaufen kann, wurde die Welt durch rosarote Brillen betrachtet. »Wir sind doch in der EU
und die Auslandsinvestitionen fließen für immer, so dass nichts Schlimmes passieren kann«, war die
überwältigende Stimmung. Mitte 2008 platzte die Blase dann, und zwar mit unvorstellbarer
Geschwindigkeit. Die globale Finanzkrise bewegte die stark engagierten skandinavischen Banken
dazu, kein neues Geld mehr in die baltischen Ökonomien zu pumpen. Analyst Veikko Maripuu von
der Investmentbank Redgate Capital spricht von der »logischen Folge« eines unausgeglichenen
Wachstums.
Die Krise trifft die Menschen im Alltag hart. Viele müssen es schaffen, mit einem niedrigeren
Haushaltsbudget alle ihre Verpflichtungen zu erfüllen. Arbeitslosengeld wird in den drei Ländern nur
vier bis höchstens zwölf Monate gezahlt. Wenn die Krise lang anhält, ist absehbar, dass viele Leute
in wenigen Monaten die Kredite für ihre teuren Wohnungen oder Häuser nicht mehr abtragen
können. Banken haben zwar bereits für hunderte Kunden die Kredite verlängert und
Zurückzahlungen verzögert, Hunderte haben jedoch ihre Bleibe verloren.
Dass es zu sozialpolitischen Unruhen kommen könnte, glaubt man im Baltikum aber nicht.
»Demonstrationen, Streiks und Ähnliches gehören hier nicht zur politischen Kultur«, meint Andres
Kasekamp, Professor an der Universität Tartu in Estland.
Beobachter aus allen drei Ländern meinen, dass weitere schmerzhafte Kürzungen nötig sein
werden. »Wir müssen wieder wettbewerbsfähig werden«, sagt der Ökonom Morten Hansen von der
Stockholm School of Economics in Riga. Die Länder sollten den Akzent auf relativ billige
Belegschaften setzen, um wieder ausländische Investitionen anzulocken.
* Aus: Neues Deutschland, 22. Mai 2009
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