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Schwerer Abschied vom Lats

Euro-Skeptiker sind in Lettland noch in der Mehrheit

Von Toms Ancitis, Riga *

Lettland führt im kommenden Jahr den Euro ein, obwohl die Mehrheit der Bevölkerung den Lats behalten will. Doch Regierung und Parlament sind befugt, die Entscheidung zu treffen, ohne die Meinung des Volkes zu berücksichtigen.

Getlini ist ein Paradies für Möwen. Dort am Rande der lettischen Hauptstadt Riga liegt die größte Mülldeponie des Landes. Die gierigen Vögel umkreisen die riesigen Bulldozer, die den Abfall zusammenpressen. Im Frühling nächsten Jahres könnten dort, wo heute Verpackungsmüll und Nahrungsabfälle landen, auch die zuvor zu einer Papiermasse geschredderten Lats enden – die Reste der nationalen Währung. Denn ab kommendem Jahr wird in Lettland mit Euro bezahlt.

Die EU-Finanzminister haben dem Beitritt Lettlands zur Eurozone ab 1. Januar 2014 in dieser Woche zugestimmt. Wir werden also das 18. Mitglied der Europäischen Währungsunion sein. Ministerpräsident Valdis Dombrovskis sprach von einem guten Tag für Lettland und ganz Europa. Und Finanzminister Andris Vilks feierte den Beschluss als »Wendepunkt in der Geschichte« und »Abschluss der Integration Lettlands in Europa«.

Die Mehrheit der Bevölkerung teilt diese Begeisterung nicht. Laut jüngster Umfrage des Marktforschungsunternehmens SKDS unterstützten nur 22 Prozent der Einwohner Lettlands die Übernahme der Gemeinschaftswährung. Rund 53 Prozent sprachen sich gegen den Währungswechsel aus. Das Eurobarometer weist etwas mehr Freunde des Euros aus, aber die Zahl der Gegner ist in jedem Falle größer. Bei der letzten Erhebung äußerten sich 55 Prozent als Skeptiker, 42 Prozent als Befürworter.

Janis Oslejs, Eigentümer der Firma Primekss, bewertet die Einführung des Euros als »großen Fehler«. Er exportiert eine neue, Beton sparende Bautechnologie. Die Firma wächst, der Umsatz steigt. Bei einem Beitritt zur Eurozone ginge es seiner Firma sogar noch ein wenig besser: Der Währungsumtausch entfällt, Kredite werden günstiger. Doch Oslejs sagt voraus, dass der Euro langfristig zum Schaden für Lettland wird. Alle Länder, die der Eurozone mit einem Leistungsbilanzdefizit beitraten, wie Spanien oder Griechenland, erlebten später einen wirtschaftlichen Absturz, betont Oslejs. Auch Lettland hat zurzeit eine negative Leistungsbilanz: »Wir haben keinen starken Produktionssektor, deswegen wird uns das Gleiche passieren, was in Südeuropa geschehen ist.«

Marina Golubenko denkt ähnlich. Die 54-Jährige verkauft im Rigaer Zentralmarkt Blumen und hat keine Ahnung von »Investitionen«, »Leistungsbilanzen« und »Defiziten«. Sie fürchtet nur eines: Preissteigerungen. »Die Preise werden bestimmt steigen, genauso wie in den anderen Ländern nach der Euro-Einführung. Dabei ist das Leben heute schon teuer genug. Warum können wir nicht weiter den Lats benutzen?«

Die Frage Euro oder Lats sei zu wichtig, als dass sie nur von der Regierung entschieden werden könnte, sie bedürfe einer Volksabstimmung, findet Iveta Grigule, Parlamentsabgeordnete des oppositionellen Bündnisses von Grünen und Landwirten: »Die Regierung tut, als gäbe es kein Volk in Lettland, sondern nur die regierenden Parteien.« Grigule hat eine Unterschriftensammlung für ein Referendum über den Euro in Gang gesetzt. Eine solche Volksabstimmung durchzusetzen, ist allerdings sehr kompliziert. Regierungsnahe Juristen argumentieren, es gebe gar keine rechtliche Grundlage, denn das Volk habe darüber bereits beim Referendum über den EU-Beitritt 2003 abgestimmt. Der Beitrittsvertrag enthielt einen Passus, wonach der Euro eingeführt wird, sobald Lettland die Konvergenzkriterien erfüllt. Die Euro-Gegner meinen jedoch, das sei nicht korrekt: Vor dem damaligen Referendum sei die Bevölkerung über die möglichen Folgen nicht ausreichend aufgeklärt worden. Die Wähler hätten gar nicht gewusst, dass sie gleichzeitig auch für den Euro stimmen. »Damals habe ich nicht über den Euro abgestimmt, denn diese Frage war mir auf dem Stimmzettel nicht gestellt worden«, sagt Iveta Grigule. »Es stimmt allerdings: Im Maastrichtvertrag, der vor Lettlands EU-Beitritt abgeschlossen wurde, ist erwähnt, dass neue Mitgliedsländer auch den Beitritt zur Eurozone akzeptieren. Aber da wurde keine bestimmte Frist genannt. Es heißt einfach ›irgendwann‹.« Außerdem sei der Euro heute angesichts der Euro-Krise ein anderer als die gemeinsame Währung vor zehn Jahren.

Doch selbst wenn es eine juristische Grundlage für ein Referendum gibt – dessen Durchsetzung bleibt schwierig. Das Recht zur Initiative und zur Entscheidung über »wesentliche Änderungen der Bedingungen des lettischen EU-Beitritts« besitzen laut Verfassung nur die Abgeordneten, nicht das Volk. Und die Mehrheit der Abgeordneten hat im Januar für die Euro-Einführung gestimmt.

Schon damals versuchte Iveta Grigule, die Unterschriften eines Drittels der Parlamentsabgeordneten zu sammeln, wodurch die Verkündung des Gesetzes blockiert und der Staatspräsident veranlasst worden wäre, die Frage in einer Volksabstimmung entscheiden zu lassen. Allerdings war das nicht gelungen. Jetzt sind die Euro-Skeptiker gezwungen, einen hürdenreichen Weg zu gehen. Sie müssen gleich zwei Referenden durchsetzen: eines über eine Verfassungsänderung und danach ein zweites über den Euro. Das ist bis Ende dieses Jahres schon rein zeitlich unmöglich. Aber Iveta Grigule ist hartnäckig: »Wenn uns das erste Referendum gelingt, könnten wir theoretisch im nächsten Jahr ein weiteres Referendum über den Austritt aus der Eurozone veranlassen.«

Finanzminister Andris Vilks erteilte solchen Überlegungen jedoch bereits eine Absage: »Auch wenn ein Referendum stattfindet, wird es nur beratenden Charakter haben und gar nichts ändern, weil die Entscheidung über Lettlands Weg in die Eurozone schon vor vielen Jahren getroffen worden ist.« Regierungschef Valdis Dombrovskis findet die Idee ebenfalls unvernünftig. Er ist vielmehr überzeugt: »Wir schaffen es, dass die Mehrheit der Bevölkerung bis Januar den Euro unterstützt.« Erreichen will die Regierung das durch eine »Aufklärungskampagne«. Die EU hat dafür bereits Fördermittel bewilligt.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 13. Juli 2013


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