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Regierungswechsel in Tbilissi

Nach dem Wahlsieg der georgischen Opposition drängen USA und EU auf "nationale Einheit" und Zusammenarbeit mit bisherigen Machthabern

Von Knut Mellenthin *

Georgien steht nach dem unerwartet deutlichen Wahlsieg der Opposition vor Auseinandersetzungen um einen möglichst reibungslosen Machtwechsel. Der Führer des erfolgreichen Sechs-Parteien-Bündnisses Georgischer Traum, Bidzina Iwanischwili, hat den seit Januar 2004 amtierenden Präsidenten Michail Saakaschwili am Dienstag aufgerufen, seinen Rücktritt zu erklären und die regulär erst im Oktober 2013 fällige Präsidentenwahl vorzuziehen. Der mit Saakaschwili eng verbundene Sekretär des Nationalen Sicherheitsrats, Giga Bokeria, erklärte daraufhin umgehend, daß ein Rücktritts des Präsidenten nicht in Frage komme. Er versprach gleichzeitig, daß Saakaschwili das Wahlergebnis respektieren und Iwanischwili die Bildung einer Regierung ermöglichen werde, deren Chef laut Verfassung vom Präsidenten ernannt werden muß.

Iwanischwili wiederum stellte am Mittwoch klar, daß der Rücktritt des Präsidenten weder ein »Ultimatum« noch eine »politische Forderung« des von ihm geführten Bündnisses sei. Er sei zum Dialog mit Saakaschwili und der derzeitigen, ausschließlich von der Nationalbewegung gestellten Regierung bereit. Die Führer beider Lager zeigen damit demonstrative Bereitschaft, sich dem unverblümt geäußerten Wunsch der USA und der Europäischen Union nach einem krisenfreien Übergang und enger Kooperation »im Geist der nationalen Einheit« unterzuordnen. Ungewiß ist, ob damit auch schon Iwanischwilis frühere Ankündigung vom Tisch ist, daß nicht ein einziger Minister der jetzigen Regierung im Amt bleiben werde. Westliche Politiker scheinen vor allem Premier Wano Merabischwili, einen langjährigen Freund und Kampfgefährten Saakaschwilis, in der Regierung halten zu wollen. Spekulation sagen, dass er vielleicht wieder das Innenministerium übernehmen könnte, das er bis zu seiner Ernennung zum Regierungschef seit 2004 geleitet hatte.

Nach Auszählung fast aller Stimmen lag das Oppositionsbündnis am Mittwoch mit 55 Prozent vor der Nationalbewegung, auf die 40 Prozent entfielen. Alle anderen Parteien scheiterten an der Fünf-Prozent-Klausel. 77 der 150 Mandate werden aufgrund dieses Ergebnisses zugeteilt. Die übrigen 73 Abgeordneten werden direkt gewählt. Nach Mitteilung der Zentralen Wahlkommission lagen Vertreter des Georgischen Traums in 38 Wahlbezirken vorn, während Saakaschwilis Partei in den 35 anderen führte. Demnach besteht kein Zweifel, daß die Opposition im künftigen Parlament, dessen Amtseinführung ungefähr in zwei Wochen stattfinden soll, über eine absolute Mehrheit verfügen wird. Noch ist aber nicht klar, ob sie mit mindestens 100 Abgeordneten auch eine Zwei-Drittel-Mehrheit erreichen wird, die für Verfassungsänderungen oder vielleicht doch für ein Amtsenthebungsverfahren gegen den Präsidenten erforderlich wären.

Das Wall Street Journal und andere US-amerikanische Medien, die den Republikanern nahestehen, bezeichnen das Wahlergebnis mit krassen Desinformationen als »Sieg für Putin« und malen das Gespenst einer »prorussischen« Regierung in Tbilissi an die Wand. Tatsächlich hat Iwanischwili, dessen Vermögen auf 6,4 Milliarden Dollar geschätzt wird, seinen Reichtum im Rußland der 1990er Jahre gemacht. Präsident war damals noch nicht Wladimir Putin, sondern der vom Westen gestützte und verhätschelte Boris Jelzin. Niemand, der auch nur entfernt »prorussischer« Neigungen verdächtigt werden könnte, hätte in der von starkem Nationalismus geprägten georgischen Politik eine Chance. Iwanischwili hat zwar versprochen, sich um eine Normalisierung der Beziehungen zu Rußland, »unserem größten Nachbarn«, zu bemühen. Aber dies im Rahmen einer »Strategie«, deren Grundlagen die enge Bindung an den Westen, die militärische Integration in die NATO und »die Wiederherstellung der territorialen Integrität Georgiens«, also die Liquidierung der Selbstständigkeit von Abchasien und Südossetien, sind.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 04. Oktober 2012


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