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Georgien: Staatskrise - Umsturz

Chronik: Bewegende Tage in Georgien - Agenturmeldungen und Kommentare

Im Folgenden dokumentieren wir ausgewählte Agenturmeldungen über das Geschehen in Georgien nach der - offenbar manipulierten - Parlamentswahl am 2. November 2003.


Gut eine Woche nach der Parlamentswahl gab es immer noch kein verlässliches Wahlergebnis. Im Georgein-Dossier der Süddeutschen Zeitung kann man hierüber u.a. folgendes lesen:

(...) Die zentrale Wahlkommission, die die Auszählung zeitweise unterbrochen hatte, veröffentlichte am Sonntag (9. November) neue Zahlen, die sich aber nur auf neun Zehntel der 2.870 Wahllokale bezogen. Das regierungstreue Parteienbündnis „Für ein neues Georgien“ führe demnach mit 21,1 Prozent der Stimmen, hieß es. Dahinter lägen die Regionalpartei der Teilrepublik Adscharien mit 19,6 Prozent, Saakaschwilis Nationale Bewegung mit 18,2 Prozent und die oppositionelle Arbeitspartei mit 12,1 Prozent.
In 27 Wahlbezirken müsse die Abstimmung wiederholt werden, teilte die Zentrale Wahlkommission am Montag in der Hauptstadt Tiflis mit. Grund seien Verstöße gegen die Wahlordnung sowie andere Vergehen. Die Gegner von Präsident Eduard Schewardnadse fordern seit Tagen eine landesweite Wiederholung der Wahl vom 2. November.
Nach Straßenprotesten tausender Anhänger der Opposition beruhigte sich die Lage in Tiflis am Montagmorgen (10. November). Die Hauptstadt Tiflis wurde am Sonntag (9. November) von schwer bewaffneten Einsatzkräften gesichert. Mit Straßensperren überall im Lande verhinderte die Polizei, dass die Demonstrationen in der Hauptstadt noch mehr Zulauf erhielten. „Die Lage ist praktisch außer Kontrolle geraten“, sagte Verteidigungsminister David Tewsadse dem Fernsehsender Mse. Er rechne zwar nicht mit einer gewaltsamen Auflösung der Proteste. „Niemand weiß, wie sich die Ereignisse entwickeln, aber die Streitkräfte werden alles tun, was ihnen die Verfassung vorschreibt“, fügte Tewsadse hinzu. In der Nacht hatten Unbekannte ein leeres Wahlkampfbüro des bei der Auszählung von neun Zehnteln der Stimmen führenden Regierungsbündnisses "Für ein neues Georgien" (21,1 Prozent) mit Maschinenpistolen beschossen.
Auch ein Krisengespräch Schewardnadses mit Oppositionspolitikern war am Sonntagabend ohne Ergebnis geblieben. Es liege nicht in seiner Kompetenz, die Wahl vom 2. November wie gefordert zu annullieren, erklärte Schewardnadse seinen Gegnern nach Angaben der russischen Agentur Ria-Nowosti. Der radikale Oppositionsführer Michail Saakaschwili brach das Gespräch vorzeitig ab und fuhr zurück ins Zentrum der Hauptstadt. Dort erklärte er vor mehreren tausend Demonstranten, Schewardnadse führe das Land in einen Bürgerkrieg und sei verantwortlich für alles weitere, was nun geschehe.
Parlamentspräsidentin Burdschanadse sagte, der Präsident habe keine Antworten auf wichtige Fragen gegeben und keinerlei Ideen, wie die Krisensituation zu beenden sei.
SZ-online (www.sueddeutsche.de)

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Nach tagelangen Demonstrationen und anderen Protesten in der Bevölkerung gegen das Regime Schewardnadse spitzte sich die Lage am 22. November zu, nachdem Demonstranten das Parlament in Tiflis besetzt hatten. Die Nachrichtenagenturen berichten darüber u.a.:

20. November
Das gültige Wahlergebnis hatte die Zentrale Wahlkommission am 20. November veröffentlicht. Danach sind sechs Parteien in dem 150 Sitze starken Parlament vertreten. Schewardnadses Partei Neues Georgien hält 38 und die mit ihr neuerdings verbündete Wiedergeburtsunion 33 Mandate. Die linke Arbeiterpartei und die Neue Rechte, die sich am Boykott nicht beteiligten, haben 20 respektive 12 Mandate, die Nationalbewegung 33 und die Burdschanadse-Demokraten 15. Die Wahlkommission hatte außerdem entschieden, alle Stimmen, die das in den GUS-Staaten übliche Kästchen "gegen alle Kandidaten" angekreuzt hatten, nicht zu zählen. Die Manipulation ermöglichte der Neuen Rechten den Sprung über die Fünf-Prozent-Hürde.

21. November
Tedo Dschaparidse, Sekretär des georgischen Sicherheitsrates, sprach am 21. November von "massivem Betrug" bei den Wahlen vom 2. November. Als Ausweg aus der "komplizierten Situation" schlug er baldige Neuwahlen vor.
Die Wahlfälschungen hatten zu wochenlangen Demonstrationen geführt. Das US-Außenministerium, das zuvor Empfehlungen für einen sauberen Wahlverlauf veranlasst hatte, erklärte, das Wahlergebnis entspreche "nicht dem Willen des Volkes". Präsident Schewardnadse äußerte am 21. November die Hoffnung, dass "die USA ihre Meinung ändern und zur Tagesordnung zurückkehren", berichtete die Internet-Agentur Civil Georgia. Ohne auf den Einwand seines Sicherheitschefs einzugehen, berief Schewardnadse für den 22. November das Parlament zur konstituierenden Sitzung ein. Die stärksten Oppositionsparteien, Nationale Bewegung und Burdschanadse-Demokraten, kündigten einen Boykott der Sitzung an.

Am Nachmittag des 21. November sammelten sich Autokolonnen für Protestfahrten nach Tiflis. Schewardnadse und seine Verbündeten befürchten schwere Unruhen. Aslan Abaschidse, dessen Wiedergeburtsunion in der von ihm autokratisch regierten Region Adscharien über 97 Prozent der Stimmen für sich ermitteln ließ, drohte die Abriegelung seiner Region an, falls "die aktuellen Entwicklungen einen neuen Bürgerkrieg auslösen". Zugleich traten mehrere Schewardnadse-Verbündete von ihren Ämtern zurück, darunter Kulturministerin Sesili Gigiberidse, ihr Ehemann Sasa Schengelija (Chef des Staatsfernsehens) und der Vize-Generalstaatsanwalt Badry Bitsadse, Ehemann der Oppositionsführerin Nino Burdschanadse.

22. November
Die Abgeordneten waren gerade zu ihrer ersten Sitzung seit der umstrittenen Wahl am 2. November zusammengetreten. Die Demonstranten drangen während der Eröffnungsrede von Präsident Eduard Schewardnadse in das Parlamentsgebäude ein. Der Staatschef wurde von seinen Leibwächtern aus den Saal gebracht. „Ich werde nicht gehen, wir halten zusammen“, sagte er vor dem Parlamentsgebäude vor rund 5.000 Anhängern. „Ich werde erst abtreten, wenn meine Amtszeit ausläuft“, sagte er. „So steht es in der Verfassung.“ Anschließend fuhr er von einer schwer bewaffneten Eskorte begleitet davon.
Im Parlament gab es Handgemenge, nachdem Saakaschwili alle regierungstreuen Abgeordneten zum Verlassen des Gebäudes aufgerufen hatte. Anschließend übergab er das Rednerpult Oppositionsführerin Nino Burdschanadse, der Vorsitzenden des letzten Parlaments. „Wir wollten es nicht soweit kommen lassen“, sagte sie. „Aber Schewardnadse hat alle Chancen auf friedliche Verhandlungen vertan.“
„In Georgien hat die samtene Revolution stattgefunden“, sagte Oppositionsführer Michail Saakaschwili nach dem Sturm des Parlaments. „Wir sind gegen Gewalt.“
Außerhalb des Parlamentsgebäudes forderten zehntausende Gegner Schewardnadses seinen Rücktritt. Die Menge drängte sich ungehindert auch zum Amtssitz des Präsidenten durch. Polizisten ließen sich von den Demonstranten umarmen oder nahmen Blumen an.
„Wir geben dem Präsidenten eine letzte Chance“, erklärte Saakaschwili vor tausenden Anhängern auf dem Freiheitsplatz vor dem Parlamentsgebäude. „Entweder kommt er in einer Stunde raus, oder wir kommen zu ihm rein.“ Die permanent größer werdende Menge rief „Verschwinde“ und „Es reicht“, auf Plakaten wurde Schewardnadse für den wirtschaftlichen Niedergang der früheren Sowjetrepublik verantwortlich gemacht.
Schewardnadse sagte zu Reportern, er sei zu einem Dialog bereit, „aber ohne Ultimatum. Das Parlament wurde gewählt, und sollte heute mit der Arbeit beginnen.“ Gleichwohl boykottierten die Abgeordneten der Opposition die Teilnahme an der Sitzung.
SZ-online, FR vom 22. November 2003, verschiedene Agenturmeldungen vom 22.11.2003

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23. November
Am Sonntag, den 23. November, gehen die Auseinandersetzungen weiter und werden heftiger. Schewardnadse ergreift Maßnahmen, die Opposition will offenbar an die Macht, das Militär gibt sich zurückhaltend:

Der georgische Präsident Eduard Schewardnadse hat am Sonntag, 23. November, den Chef des nationalen Sicherheitsrates Georgiens, Tedo Dschaparidse, seines Amtes enthoben, berichtet die Nachrichtenagentur AFP. Sein Nachfolger wird Schewardnadses Vertrauter, der bisherige stellvertretende Staatsminister Ansor Baluaschwili. Dschaparidse hatte am Freitag Betrugsfälle bei der georgischen Parlamentswahl vom 2. November eingeräumt. Es sei zu Manipulation und Betrug bei der Stimmabgabe und bei der Auszählung gekommen, wofür alle Parteien verantwortlich seien, sagte er.

Der georgische Verteidigungsminister David Tewsadse hat den Einsatz der Streitkräfte zur Beendigung der gegenwärtigen Krise ausgeschlossen. Die Armee betrachte es nicht als erforderlich, militärische Gewalt zur Herstellung von Ordnung einzusetzen, sagte Tewsadse am 23. November. Er sagte nicht, auf wessen Seite die Streitkräfte im Machtkampf zwischen der Opposition und Präsident Eduard Schewardnadse stehen. "Die Armee hat keine Befehle vom Oberbefehlshaber zum Einsatz von Gewalt erhalten", sagte Tewsadse. "Die Armee beobachtet die Ereignisse sehr genau und ist bereit, die Eskalation des Chaos zu stoppen und ihre Verpflichtung zu erfüllen", so der Minister. Im Machtkampf mit der Opposition hatte Schewardnadse am 22. November den Notstand ausgerufen. Ein Sprecher des Präsidenten hatte gedroht, die Kontrolle dem Militär zu übergeben, sollte das neu gewählte Parlament die Ausrufung des Notstands nicht binnen 48 Stunden bestätigen.

Eduard Schewardnadse will vor Gesprächen über eine mögliche vorgezogene Präsidentschaftswahl und neuen Parlamentswahlen einen Rückzug der Opposition aus den besetzten Regierungsgebäuden. Das erklärte er am 23. November im unabhängigen Fernsehsender Kanal 9. Die Durchsetzung des am Vortag verhängten Ausnahmezustandes habe sich wegen des Besuchs des russischen Außenministers Igor Iwanow verschoben, sagte Schewardnadse. Zudem entließ Schewardnadse den Leiter des Nationalen Sicherheitsrates Tedo Japaridse, weil dieser mit der Opposition sympathisiert hätte. (Reuters)

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Russland betrachtet die Ereignisse in der früheren Sowjetrepublik mit Sorge und Interesse. Ein neues Bürgerkriegsland in der Nachbarschaft ist das, was man sich am allerwenigsten wünschen kann. Also wurde flugs Außenminister Iwanow nach Tiflis (Tbilissi) geschickt:

Der russische Außenminister Igor Iwanow hat am 23. November das von Anhängern der Opposition belagerte Parlament in der georgischen Hauptstadt Tiflis besucht. Stunden zuvor war Iwanow auf dem Höhepunkt der Krise in Georgien zu Vermittlungen in Tiflis eingetroffen. Nach Gesprächen mit seinem georgischen Kollegen Irakli Menagarischwili und Vertretern der Opposition wollte er auch mit Präsident Eduard Schewardnadse zusammenkommen, der sich nach wie vor den Rücktrittsforderungen der Opposition verweigert.
Unter dem Applaus von Hunderten von Demonstranten schüttelte Iwanow im Parlament einem der führenden Oppositionsvertreter, Surab Schwanija, die Hände. Nach Angaben der russischen Nachrichtenagentur Interfax begrüßte Schwanija den Wunsch Russlands, Georgien aus der Krise zu helfen, "ohne sich in die inneren Angelegenheiten einzumischen".

Fraglich ist, ob Iwanow damit noch die politische Linie vertritt, welche seine eigene Regierung und die der anderen GUS-Staaten am Vortag vorgegegeben hatten. Interessant ist in dem Zusammenhang auch die Rückendeckung, die Schewardnadse nicht nur von Putin, sondern auch vom US-Außenminister Powell erhalten hat:

Russland und andere ehemalige Sowjetstaaten haben am Samstag (22. November) das Vorgehen der Opposition in Georgien zur Übernahme der Macht von Präsident Eduard Schewardnadse als "nicht akzeptabel" kritisiert. "Den Berichten aus Georgien nach zu urteilen sind verschiedene politische Kräfte bereit, in dem Land mit nicht verfassungsgemäßen Mitteln die Macht zu ergreifen. Dies ist für jeden demokratischen Staat zweifellos nicht akzeptabel", erklärte der ukrainische Präsident Leonid Kutschma im Namen der Gemeinschaft unabhängiger Staaten (GUS), zu der unter anderem Russland und die Ukraine gehören. Die zwölf GUS-Staaten seien bereit, bei der Vermittlung zwischen den Parteien zu helfen, hieß es in der Erklärung.
Der georgische Präsident Eduard Schewardnadse hat am 22. November mit US-Außenminister Colin Powell und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin telefoniert. Powell habe sich besorgt über die "nicht verfassungsgemäße Lage" in Georgien gezeigt, teilte die Präsidentschaft in Tiflis am Abend mit. Zudem habe der US-Außenminister eine baldige Reise nach Georgien angekündigt. Putin äußerte den Angaben zufolge ebenfalls Besorgnis und drückte seine Hoffnung auf eine "friedliche Lösung im Rahmen der Verfassung" aus.

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Die Vermittlungsbemühungen können nicht erfolgreich gewesen sein. Denn die Opposition in Georgien hat ein Angebot Präsident Eduard Schewardnadses zu Gesprächen rundweg abgelehnt. Es sei "zu spät" für solche Gespräche, sagte Oppositionsführer Michail Saakaschwili in Tiflis.

Saakaschwili und die Oppositionsführerin Nino Burdschanadse haben am 23. November Tausende Anhänger zum Marsch auf das Innenministerium aufgerufen. So sollte verhindert werden, dass Präsident Eduard Schewardnadse dort das Parlament zusammentreten lasse. "Heute ist der Tag der Entscheidung", hatte Saakaschwili Demonstranten vor dem Parlament in der Hauptstadt Tiflis zuvor zugerufen. "Das Volk muss alle Macht in Georgien in die eigenen Hände nehmen. Schewardnadse beabsichtigt, das Parlament im Innenministerium zusammentreten zu lassen. Wenn das geschieht, sollten einige tausend Menschen dorthin gehen und das Innenministerium friedlich besetzen."

Rücktritt
Der georgische Präsident Eduard Schewardnadse hat sich am 23. November dem Druck wochenlanger Proteste gebeugt und seinen Rücktritt erklärt. "Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass dies mit Blutvergießen enden könnte, falls ich meine Rechte ausnutze", sagte er im georgischen Fernsehen. Auf die Frage, wohin er gehe, sagte er: "Nach Hause." Oppositionsführer Michail Saakaschwili bezeichnete Schewardnadses Entscheidung für einen Machtwechsel als mutigen Akt. "Mit seinem Rücktritt hat er verhindert, dass in diesem Land Blut vergossen wird. Die Geschichte wird ihn freundlich beurteilen." Vor dem Parlament in Tiflis feierten Zehntausende von Demonstranten den Rücktritt des 75-Jährigen.

Kommentare

Die "junge Welt" mokierte sich über Zeitungsmeldungen, wonach Schewardnadse sich eine Villa in Baden-Baden gekauft habe ("Domizil für Wahlfälscher").

Eine schöne Villa in Baden-Baden habe er schon, meldeten am Donnerstag und Freitag Bild sowie Badisches Tagblatt: 30 000 Quadratmeter Grundstück »mit traumhafter Weitsicht und einer Haupthauswohnfläche von 870 Quadratmetern«, erbaut von der Grundig-Witwe Chantal, geschätzter Kaufpreis elf Millionen Euro. Für irgend jemanden muß sich das Verschleudern der DDR an die Bundesrepublik ja lohnen. Eduard Schewardnadse (75), während der Verhandlungen zur »deutschen Einheit« 1990 KPdSU-Politbüromitglied sowie sowjetischer Außenminister und nach Taufe seit 1992 Staatschef von Georgien, hatte außer ein paar Orden bisher nicht viel von seinen Verdiensten beim Ausradieren der DDR. Immerhin erhielt er eine gepanzerte Luxuslimousine aus deutscher Produktion, die ihn vor der Liebe seiner Untertanen schützte. Denen geht es seit der Auflösung der Sowjetunion stetig schlechter, Bürgerkriege und Herrschaft lokaler Autokraten samt Mafia eingeschlossen. Schewardnadse hat es innerhalb eines knappen Jahrzehnts geschafft, aus Georgien – einer der wohlhabendsten Regionen der Sowjetunion – ein mustergültiges Armenhaus zu machen. Das ließ sich mit notorischer Wahlfälschung dauerhaft machen, jetzt haben die Georgier und der Große Bruder keine Lust mehr. Am Donnerstag senkte Washington den Daumen, am Freitag echote Schewardnadses Sicherheitschef beflissen etwas von »massiven Unregelmäßigkeiten«. Noch vor Weihnachten wird der Held der westlichen Demokratie in Baden-Baden samt einem Troß von gut einem Dutzend Begleitern laut Badischem Tagblatt erwartet. Wer mindestens zwei Länder ruiniert, für den ist gesorgt.
junge Welt, 22.11.2003

Hierzu passend die Einladung aus Deutschland vom 23. November:
"Sollte Schewardnadse entscheiden, nach Deutschland kommen zu wollen, so wäre er nicht zuletzt wegen seiner Verdienste um die deutsche Einheit hier willkommen", erklärte der Sprecher der Bundesregierung, Bela Anda, am 23. November in Berlin.
(Süddeutsche Zeitung-online)

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Stefan Koch in der Frankfurter Rundschau sorgt sich weniger um die private Zukunft Schewardnadses als um die Zukunft des Landes. Dabei spielen die eigennutzigen Interessen des Nachbarn Russland und die strategischen Interessen der USA eine große Rolle. In seinem Kommentar heißt es:

(...) Schewardnadse hinterlässt ein zerrissenes und heruntergekommenes Land. Er hat es weder geschafft, den Menschen in seiner Heimat ein anständiges Auskommen zu sichern noch sich gegen die massiven Interessen des Auslandes zur Wehr zu setzen. Die Grenzen, in denen Georgien auf den Landkarten eingetragen ist, sind Makulatur. In Abchasien und Südossetien schert man sich seit Jahren nicht mehr um die Beschlüsse der Zentralregierung. Wer durch Georgien reist, der muss sich mit selbst ernannten Kriegsfürsten herumärgern, die es auf Geld abgesehen haben.
Zu diesem Chaos hat auch Russland beigetragen. Georgien - das ist für den Kreml eine direkte Einflusszone, die am eigenständigen Weg gehindert werden soll. Ohne Scham unterstützte Moskau zunächst die Separatisten in Abchasien. Später wurden die russischen Einheiten in Friedenstruppen umgetauft, die bis heute den Waffenstillstand kontrollieren.
Ein besonderes Ärgernis stellen in den Augen des russischen Präsidenten Wladimir Putin die Transportrouten durch die kleine Kaukasusrepublik dar. Vor allem die Einnahmen für die Durchleitung des Erdöls durch eine neue Pipeline hätte Moskau gern selbst kassiert. Putin weiß, dass es bei diesem Projekt eigentlich um eine anhaltende russisch-amerikanische Auseinandersetzung geht. Schewardnadse, der sich als lachender Dritter gesehen hatte, lud die US-Amerikaner kurzerhand ein, Militärberater in seinem Land zu stationieren. Sie sollen indirekt den Pipelinebau schützen - und die Russen daran hindern, Rebellen aus Tschetschenien auf georgisches Gebiet zu jagen. Washingtons Einfluss hat nicht dazu beigetragen, stabile demokratische Verhältnisse zu schaffen. Stattdessen ist Georgien zum Spielball der Strategen verkommen.
Frankfurter Rundschau, 24.11.2003

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Der Kommentar in der Süddeutschen Zeitung gerät stellenweise zu einem elegischen Abgesang auf die historische Persönlichkeit des zurückgetretenen Präsidenten Schewardnadse. Frank Nienhuysen sieht einen alten Mann, "müde und mit hängenden Schultern", wie es im Titel heißt.

(...) 13 Jahre ist es her, dass Schewardnadse bei einer Sitzung des Volksdeputierten-Kongresses überraschend als sowjetischer Außenminister aufgab, und nun rätselte die Welt wochenlang, warum ausgerechnet er so lange an seinem Präsidentenamt in Georgien festhielt, obwohl er den Rückhalt in der Bevölkerung längst verloren hatte. Müde und mit hängenden Schultern schlich er vor wenigen Tagen durch die Gänge des Parlaments, da machte er bereits den Eindruck eines geschlagenen Mannes. Am Sonntagabend schließlich gab der "kaukasische Fuchs" dem Druck nach. Zwei Jahre vor Ablauf seiner Amtszeit unterzeichnete der Staatschef die Rücktrittsurkunde.
"Die Zukunft gehört der Freiheit", hat Schewardnadse einmal ein Buch genannt, und genau dies verlangte ihm die georgische Opposition mit aller Macht ab. Im Westen genießt der 75-Jährige noch immer den glänzenden Ruf als Mitarchitekt der deutschen Einheit, als politischer Zwilling Michail Gorbatschows bei der Reformierung der verkrusteten Sowjetunion. In seiner Heimat Georgien indes war das Renommee des charismatischen Präsidenten seit langem aufgebraucht. Viele Reformen sind auf halbem Weg stecken geblieben. Nach wie vor ist der junge Kaukasus-Staat eines der ärmsten Länder Europas. (...)
Die Georgier sahen in Schewardnadse nicht mehr den Mann, der all diese Probleme noch hätte lösen können. Im Gegenteil: die Vorwürfe der Korruption und Vetternwirtschaft richteten sich zunehmend auch gegen den Präsidenten selber. Schewardnadses Familie soll an lukrativen Unternehmen beteiligt sein: Seine Tochter Manana kontrolliert weit gehend die Fernseh- und Filmindustrie, der Neffe Nugzar Schewardnadse den Kerosinhandel, der Schwiegersohn hält die Hand über das nationale Mobilfunkgeschäft. Auch die Zweifel im Westen an den demokratischen Errungenschaften Georgiens waren zuletzt deutlich gewachsen. Bereits bei der Parlamentswahl vor vier Jahren hatte es Unregelmäßigkeiten gegeben. Nun muss sich Schewardnadse fragen lassen, warum er trotz der Wahlfälschungen vor drei Wochen bis zuletzt schwieg, anstatt sich zum Meinungsführer derjenigen aufzuschwingen, die sich für Neuwahlen aussprachen. Da hat den politischen Fuchs Schewardnadse die Schlauheit verlassen. (...)
SZ, 24.11.2003

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Der Kommentar von Markus Bernath im Wiener "Standard" schlägt einen Bogen von Georgien zu den anderen Kaukasus-Republiken und macht sich zudem Gedanken über den Begriff der "Transformation". Auszüge:

(...) Zehn Jahre nach der Unabhängigkeit wird in den Kaukasus-Republiken das Urteil über die neuen Regierungen gefällt, nicht über die einstigen Kolonialherren aus Moskau.
Die "Transformationsgesellschaften", wie sie hier im Westen euphemistisch in Wirtschaftskammern und Universitätsseminaren genannt werden, formen sich um, und das allein ist schon ein Zeichen des Fehlschlags: Nirgendwo im Kaukasus ist trotz massiver finanzieller und politischer Hilfe des Westens die "Transformation" gelungen, der Weg vom sozialistischen Staatsdirigismus in eine Demokratie, die ihren Bürgern soziale Aufstiegschancen bietet und zugleich rechtsstaatlichen Ansprüchen genügt.
Georgien und Aserbaidschan stellen mit ihrem Maß an Korruption selbst im postsowjetischen Raum Rekorde auf und rangieren laut Transparency International heute in der Kategorie der korruptionsanfälligsten Staaten zusammen mit Angola und Kamerun. Mehr als zehn Jahre nach der Loslösung von Moskau liegen die beiden einst vergleichsweise wohlhabenden Sowjetrepubliken im Kaukasus gemessen am Pro-Kopf-Einkommen ihrer Bürger weit abgeschlagen hinter den anderen europäischen Staaten: rund 650 Dollar in Aserbaidschan, 620 Dollar in Georgien... (...)
Nun ist der Kaukasus aber nicht irgendeine unbedeutende Ecke in der Welt. Wenn in Regierungskanzleien und Konzernetagen so konzentriert die Karte zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer vermessen wird, dann natürlich wegen der großen Öl- und Gasvorkommen, die künftig in Aserbaidschan gefördert und ab 2006 durch den Kaukasus transportiert werden sollen. Den "großen Korridor von West nach Ost" nennt das die EU-Kommission in Brüssel, die "neue strategische Grenze" sehen Globalisierungskritiker und Verschwörungstheoretiker, von einer Neuauflage des "Great Game" raunten die modernen Ölbarone, als sie 1996 den "Jahrhundertvertrag" mit Baku zur Ausbeutung des Kaspischen Meeres unterschrieben.
(...) Zehn Jahre nach der Unabhängigkeit folgt die Transformation der Transformation verschiedenen Modellen: Aserbaidschans dynastische Machtübergabe von Präsident Haidar Aliew auf seinen Sohn Ilham im Oktober könnte man als konservative Revolution deuten; in Georgien dirigiert der Populist Michail Saakaschwili eine Revolution des Volkes; Armeniens wiedergewählter Staatschef Kotscharian hält ein durch Krieg vergrößertes Staatsgebiet und teilt seine Souveränität de facto nun mehr denn je mit der Schutzmacht Russland.
Diese "Revolutionen" zu verhindern ist dem Westen trotz Einbindung der Kaukasus-Staaten in OSZE, Europäischen Rat und selbst Nato nicht gelungen. Die Auflösung der Wirtschaftsmafia wäre das wünschenswerte Ziel. Es ist eine schwierige Aufgabe, wenn die Hilfsgeber zugleich Geschäftspartner sind.
DER STANDARD, 24.11.2003

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Frank Herold erinnert in der Berliner Zeitung an das Wendejahr 1989, in dem Schewardnadse eine wichtige Rolle für den Westen gespielt hatte. Er hat seine Schuldigkeit getan:

(...) Die Ereignisse in den Straßen von Tiflis sind ein spätes Echo auf die Umwälzungen vom Herbst 1989, sie sind eine Revolution. Die Parallelen sind unübsehbar: Wie damals in der DDR oder auch in Litauen und sehr viel später dann in Serbien wurden dreiste Wahlfälschungen zum Auslöser für den offenen Ausbruch eines latent schon länger vorhandenen Unmuts der Bevölkerung. Selbst die Worte des Wendeherbstes wurden von den Demonstranten in der georgischen Hauptstadt aufgegriffen. Sie riefen: Keine Gewalt! und sprechen wie seinerzeit in Prag von einer Samtenen Revolution. (...)
Schewardnadse ist nicht mehr wichtig, aber er hat noch eine Rolle zu spielen. Er muss seinen weit verzweigten Clan und möglicherweise auch einen Teil der Sicherheitskräfte von unbesonnenen Schritten abhalten. Siegesaussichten können sich diese Leute nicht mehr ausrechnen. Wohl aber sind sie in der Lage, in ihrem Wunsch nach Rache für die Niederlage das Land in einen Bürgerkrieg zu stürzen. Georgien hat das bereits einmal schmerzlich erlebt. Schewardnadse war damals als Retter gerufen worden, und er konnte tatsächlich Frieden bringen. So muss sich dieser Mann, der einmal zu Recht weithin hohen Respekt genoss, auch diesmal einsetzen. Diesen letzten Dienst ist Schewardnadse seinen Landsleuten schuldig.
Berliner Zeitung, 24.11.2003

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Der Kommentator in der Neuen Zürcher Zeiutng (R.M.) lässt noch einmal die Leistungen und Verfehlungen des zurückgetretenen Präsidenten Revue passieren:

(...) Einige Monate nach dem Ende der Sowjetunion war Schewardnadse 1992 in seine inzwischen unabhängig gewordene, aber von Bürgerkriegswirren und Clanrivalitäten tief zerrissene Heimat Georgien zurückgekehrt. Es gelang ihm, das auf seine alte Geschichte und Kultur stolze Land am Südhang des Kaukasus wenigstens streckenweise wieder halbwegs zu stabilisieren. Schewardnadses Methoden der Machtausübung und Machterhaltung hatten zwar in mancher Hinsicht wenig mit exemplarischen demokratischen Spielregeln zu tun. Er scheute, um seine Gegner und Kritiker in Schach zu halten, öfters auch vor jener parteilichen Willkür nicht zurück, die er schon in den siebziger Jahren als loyaler kommunistischer Parteichef Georgiens mit eisernem Besen praktiziert hatte.
Man darf Schewardnadse in den gut elf Jahren seit seiner Rückkehr als dominierende Figur auf der turbulenten georgischen Bühne manche Verdienste um einen zumindest notdürftigen Zusammenhalt der kleinen Kaukasusrepublik mit ihren knapp fünf Millionen Einwohnern attestieren. Allerdings ist es ihm nicht gelungen, die separatistischen Provinzen Abchasien und Adscharien wieder auf eine demokratisch akzeptable Weise in die Republik zu integrieren. Ungelöst bleibt damit auch das Problem jener Zehntausende von georgischen Flüchtlingen, die im Zuge der blutigen Kämpfe um Abchasien von den Separatisten vertrieben worden sind.
Bei allen Schwächen und politischen Sünden genoss Schewardnadse unter einer Mehrheit seiner Landsleute längere Zeit offenkundig beträchtliche Popularität. Seine Wahlsiege 1992 bei der Volkswahl zum Parlamentsvorsitzenden und dann zweimal zum georgischen Staatsoberhaupt (1995 und 2000) wurden kaum ernsthaft in Frage gestellt. Nicht wenig beigetragen zu seiner innenpolitischen Autorität hat dabei sein internationales Prestige als ehemaliger Aussenminister von Gorbatschews Perestroika-Regierung. (...)
Doch in jüngerer Zeit scheint dem alternden Patriarchen im Kaukasus das Gespür für den Volkswillen und die Grenzen des politisch Machbaren mehr und mehr abhanden gekommen zu sein. (...)
Mit seinem vorzeitigen Rücktritt angesichts des Proteststurmes scheint Schewardnadse immerhin ein Abgleiten des Konflikts in mögliche bürgerkriegsähnliche Konfrontationen verhindert zu haben. Hätte der weltbekannte Georgier die demokratischen Spielregeln bei der Parlamentswahl vor drei Wochen besser respektiert, hätte er ein ehrenhafteres Ende seiner schillernden Karriere erleben können.
NZZ, 24.11.2003


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