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Diskussion: Hat Russland eine Mitschuld an der Eskalation im Kaukasus?

Rainder Steenblock spricht von "geteilter Schuld", Jürgen Elsässer bescheinigt Russland, "völkerrechtskonform und friedensstiftend" gehandelt zu haben

Die beiden nachfolgenden Beiträge erschienen am 5. September unter der Rubrik "Debatte" in der Zeitung "Neues Deutschland". Es debattieren: Jürgen Elsässer, Jahrgang 1957, Autor des ND, früher Redakteur bei der Tageszeitung "junge Welt"; Rainder Steenblock, Jahrgang 1948, Europapolitischer Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen.



Die geteilte Schuld

Von Rainder Steenblock

Rainder Steenblock, 1948 in Leer geboren, ist Europapolitischer Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen. 1983 trat er den Grünen bei und war von 1994 bis 1996 erstmals Abgeordneter des Bundestages. Ab 1996 war Rainder Steenblock Minister für Umwelt, Natur und Forsten in Schleswig-Holstein, schied 2000 aus diesem Amt aus und wurde zwei Jahre später erneut in den Bundestag gewählt.

Die Frage nach Schuld am Krieg in Georgien lässt sich - wie meist in solchen Fällen - nicht eindeutig nur einer Seite zuweisen. Vielmehr sollte nach den Interessen und Anteilen der verschiedenen Beteiligten gefragt werden.

Abchasien und Südossetien sind naturgemäß die schwächsten Konfliktpartner. Beide sind weitgehend von russischer Unterstützung abhängig und waren dies von Anbeginn der Konflikte, also seit 1991. Besonders das winzige Südossetien hängt völlig am russischen Tropf - nicht nur wirtschaftlich und militärisch, sondern bis hin zum aus Russland importierten Regierungspersonal. Die Waffenstillstandsabkommen, die Anfang der 90er Jahre zur Stationierung der russischen sogenannten »Friedenstruppen« geführt hatten, zeigen diesen Einfluss deutlich - unter dem Dach der GUS, also ohne aktive Beteiligung von UN oder OSZE, wurden sie zwischen Russland und Georgien ausgehandelt.

Georgien und seine Regierung sind da schon wichtiger. Präsident Saakaschwili, 2004 mit mehr als 90 Prozent gewählt, orientierte sich eindeutig auf die EU, die NATO und die USA. Amerikanische Militärberater kamen ins Land, Georgien rüstete massiv auf. Die bereits 1998 beschlossene Baku-Ceyhan-Pipeline zu Russlands Umgehung bei Öltransporten aus dem Kaspischen Meer in den Westen wurde 2005 in Betrieb genommen. Damit wurde Georgien für die USA nicht nur strategisch, sondern auch ökonomisch interessant. Saakaschwili wurde zum Protegé der Regierung Bush. Er und die USA forderten massiv die Aufnahme des Landes in die NATO.

Was immer Michail Saakaschwili zu dem aussichtslosen und brutalen Versuch getrieben haben mag, Südossetien zurückzuerobern und dabei die Zerstörung von Städten und Dörfern in Kauf zu nehmen - er hat sich massiv verkalkuliert. Dass er der gewaltigen Militärmacht Russlands unterlegen sein würde, war klar. Sollte er mit der zwangsläufigen militärischen Niederlage spekuliert haben, um damit umso erfolgreicher die NATO-Mitgliedschaft einfordern zu können, wäre es mindestens ebenso falsch und verurteilenswert. Er hätte die Einwohner seines Landes zur Geisel eines fragwürdigen Manövers gemacht. Mit ihm als Präsidenten bleibt Georgien eine unkalkulierbare Größe. Saakaschwilis politische Ziele sind weiter entfernt denn je. Denn die Rückgewinnung Abchasiens und Südossetiens ist spätestens jetzt auf unabsehbare Zeit ausgeschlossen.

Ohne militärische Hilfe von USA oder NATO hatte Saakaschwilis militärisches Abenteuer keine Chance, und diese Unterstützung forderte er auch ein. Aber nicht nur die NATO, sondern auch die USA haben sich darauf nicht eingelassen. Eine direkte Konfrontation der USA mit Russland in Georgien hätte natürlich unabsehbare Folgen gehabt.

Die USA haben in Saakaschwili einen ebenso begeisterten wie unberechenbaren Verbündeten gefunden. Verbunden damit ist die Forder- ung nach demokratischen Reformen. Dagegen kann niemand etwas haben. Saakaschwilis entsprechende Versuche sind allerdings nicht weit gediehen. Aber immerhin muss er sich an diesem Anspruch messen lassen. Eine Aggression gegen Russland ist diese amerikanische Einflussnahme nicht, und eine solche mit militärischen Mitteln ist wohl nicht einmal Präsident Bush zuzutrauen. Wer das anders sieht, sollte sich zumindest mit der schlichten Tatsache zufrieden geben, dass die Militärmacht USA weltweit schon jetzt alle Hände voll zu tun hat. Auch die Behauptung des russischen Ministerpräsidenten, Saakaschwilis Angriff auf Zchinwali sollte eine harte russische Reaktion provozieren, um so den Republikaner McCain ins Weiße Haus zu bringen, gehört ins Reich der Verschwörungstheorien. Wie so oft, dürfte die Erklärung viel banaler sein: Seine amerikanischen Verbündeten haben Saakaschwili schlecht beraten, in falscher Erwartung gewiegt oder Saakaschwili hat etwas falsch interpretiert.

Bleibt die Rolle Russlands. Wladimir Putin sah von Beginn an die Westorientierung Georgiens und deren Unterstützung durch USA und EU als offene Provokation an. Nach den baltischen Staaten, die Mitglieder von EU und NATO geworden waren, und der Ukraine driftet ein weiteres Land der traditionellen russischen Einflusszone nach Westen ab. Russland befürchtet eine Einkreisung, mehr noch, die irrationale Vorstellung einer von außen organisierten demokratischen Revolution in Russland gewinnt an Boden.

Diese Wahrnehmung ist zur Kenntnis zu nehmen, auch wenn sie unberechtigt ist. Denn sie ist erklärbar nur unter zwei Voraussetzungen: Sie geht davon aus, dass es ein nicht hinterfragbares Recht Russlands auf Vorherrschaft über sein früheres Kolonialreich gibt. Dazu gehört der südliche Kaukasus, aber z. B. auch das Baltikum. Und sie geht davon aus, dass die Verbreitung demokratischer Standards, wie sie in Europa gelten, einen Angriff auf Russland bedeutet. Beide Voraussetzungen zu akzeptieren ist aus europäischer Sicht natürlich nicht möglich. Sie deuten auf ein vormodernes politisches Verständnis von der Macht des Staates als Wert an sich hin und auf eine Tendenz russischer Außenpolitik, die an die Zeiten der Breshnew-Doktrin von der nur begrenzten Souveränität der Staaten im sowjetischen Machtbereich erinnert.

Schon in Südossetien und Abchasien selbst handelte Russland weniger als Friedenstruppe denn als Ordnungsmacht. Der jetzige Ministerpräsident Putin hat, als er dieses Amt bereits einmal innehatte, 1999 im Hinblick auf Tsche-tschenien ähnlich gedacht, geredet und gehandelt wie jetzt. Mit äußerster Massivität und Brutalität nutzte er diverse Anlässe für die Vernichtung jeden möglichen Widerstands in einem störenden kleinen Land. Damals war es Tschetschenien, ein Teil Russlands. Heute ist es Georgien, ein souveräner Staat. Mit dem Schutz Südossetiens und russischer StaatsbürgerInnen - ohnehin ein Argument auf rechtswidriger Grundlage - ist die Invasion in Georgien nicht mehr zu begründen. Auch die unverhohlene Erklärung, Georgien sei »bestraft« worden, hat natürlich keinerlei rechtliche Rechtfertigung. Der offensichtliche Wunsch schließlich, mit der militärischen und politischen Schwächung Saakaschwilis den USA und der EU den russischen Hegemonieanspruch im Kaukasus demonstrieren zu wollen, ist ebenfalls keine akzeptable Begründung.

Insgesamt zeigt das russische Vorgehen, dass in Moskau -- entgegen seiner Verkündungen -- keinerlei Interesse am Völkerrecht als zu schützendem Wert besteht. Es ist allenfalls eines von mehreren nutzbaren Instrumenten zur Durchsetzung von Interessen mit allen Mitteln.


Völkerrechtskonform und friedensstiftend

Von Jürgen Elsässer

Jürgen Elsässer, 1957 geboren, ist seit April dieses Jahres regelmäßiger Autor dieser Zeitung. Er arbeitete früher als Redakteur bei der Tageszeitung »junge Welt«, der Monatszeitschrift »konkret« und war an der Gründung der Zeitungsprojektes »Jungle Word« beteiligt. Außerdem war Elsässer Mitarbeiter der Linksfraktion für den BND-Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestags. In Kürze erscheint von ihm das Buch »Terrorziel Europa: Das gefährliche Doppelspiel der Geheimdienste«.

Der 8. August 2008 war eine entscheidende Zäsur für die Weltpolitik, vergleichbar mit dem 9. November 1989 und dem 11. September 2001. Der nächtliche Terrorangriff Georgiens auf Südossetien markiert den Versuch der brutalsten Kräfte im NATO-Pakt, nach den Aggressionen gegen muslimische Staaten in den vergangenen Jahren eine zweite Front zu eröffnen - gegen Russland. Dass Moskau zur Verteidigung der Angegriffenen noch am selben Tag Truppen schickte und die Invasoren binnen Kürze verjagte, symbolisiert das Scheitern dieser Absichten. Für die USA war es ein Debakel wie die Schweinebucht-Invasion auf Kuba 1961.

Die Hetze der etablierten Parteien einschließlich der Grünen und der nahezu gleichgeschalteten Medien erinnert an die finstersten Tage des Kalten Krieges. Umstandslos werden russische Panzer in der georgischen Stadt Gori mit sowjetischen Panzern in Prag vor 40 Jahren gleichgesetzt. Kein anderer als Peter Scholl-Latour, in den Zeiten der Systemkonfrontation immer ein zuverlässiger Antikommunist, machte bei »Maischberger« auf den riesigen Unterschied aufmerksam: »In Ossetien kamen die Russen nicht als Feinde, sondern als Befreier!« Und auch der letzte SU-Präsident Michail Gorbatschow, den weder Freund noch Feind mit der Politik seiner Vorgänger identifizieren, wies im US-Fernsehen solche Vergleiche zurück: »Das sind alles Lügen, vom Anfang bis zum Ende. (...) Es besteht kein Zweifel, dass Georgien das alles angefangen hat. (...) Auf diesen ersten Schritt von Georgien mussten zusätzliche (russische) Truppen nach Südossetien geschickt werden.«

Solche glasklaren Positionen sind aus der Linkspartei selten zu hören. Stattdessen winden sich einige im Einerseits-Andererseits, nur um nicht in den Geruch der Moskau-Nähe zu kommen. So schrieb Helmut Scholz, Mitglied des Parteivorstandes und Leiter des Bereichs Internationale Politik: »Die Anwendung militärischer Gewalt von georgischer wie von russischer Seite war und bleibt gleichermaßen rechtswidrig, unverhältnismäßig und zur Beilegung des bestehenden Konfliktes ungeeignet.« Das Papier stammt vom 18. August, zehn Tage nach Kriegsbeginn. Zu diesem Zeitpunkt hätte Scholz wissen müssen, dass Russen und Georgier keineswegs »gleichermaßen« vorgegangen waren. Nur Letztere hatten - nach vorheriger betrügerischer Ausrufung eines Waffenstillstands - Städte und Dörfer mit modernisierten Stalinorgeln eingeäschert; nur Letztere hatten die Russen in der GUS-mandatierten Friedenstruppe gezielt unter Beschuss genommen; nur Letztere hatten bei ihrem Vormarsch Kirchen, in die sich Zivilisten geflüchtet hatten, angezündet und in Keller, wo die Verängstigten Unterschlupf gesucht hatten, Handgranaten geworfen. Die Südosseten sprechen von 1692 Toten, die Georgier zählten 143 Opfer im Militär und 73 unter Zivilisten.

Auch Norman Paech, der verdiente Völkerrechtler in der Bundestagsfraktion der LINKEN, führt den Leser in die Irre, wenn er das russische Eingreifen als »eine klassische 'humanitäre Intervention'« definiert, »die sich jedoch nach all den Diskussionen um die Bombardierung Ex-Jugoslawiens im Frühjahr 1999 aus 'humanitären' Gründen auf sehr dünnem völkerrechtlichen Eis bewegt«. Paech ignoriert dabei, dass zum Zeitpunkt des NATO-Angriffs 1999 Kosovo noch ein integraler Bestandteil eines souveränen Staates war, während Südossetien seit 1992 eine international garantierte De-facto-Eigenständigkeit genoss. Diesen Status erhielt Kosovo erst nach dem Sieg der NATO über Jugoslawien. Ab Juni 1999 gehörte Kosovo de jure immer noch zu Serbien wie Südossetien zu Georgien, aber in beiden Fällen wurde die Proto-Staatlichkeit durch völkerrechtlich mandatierte Truppen gesichert. Man stelle sich einen Augenblick vor, was geschehen wäre, wenn Serbien seinen Rechtsanspruch auf Kosovo in der Folge so artikuliert hätte wie Georgien auf Südossetien. Wie selbstverständlich hätte die NATO zurückgeschlagen, und Belgrad wäre bestimmt nicht so geschont worden wie Tbilissi.

Besser als Paech bringt die Sache Daniel Erasmus-Khan auf den Punkt, laut »Spiegel« einer der renommiertesten deutschen Völkerrechtler. Immerhin vertrat er die Bundesrepublik Deutschland bereits vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Der »Spiegel« fragt: »Russland (...) durfte also Südossetien zu Hilfe eilen, obwohl es noch Teil Georgiens ist?« Antwort Khan: »Ja. Ein solches kollektives Selbstverteidigungsrecht greift grundsätzlich auch zugunsten von De-facto-Regimen.« Der »Spiegel« bohrt weiter: »Mit der Bombardierung des Flughafens von Tiflis, des Hafens der georgischen Stadt Poti am Schwarzen Meer oder dem Vormarsch auf georgisches Gebiet hätte Russland (...) auf jeden Fall gegen Völkerrecht verstoßen?« Khan: »Wenn es der Verteidigung dient, darf man sicher auch mal auf den militärischen Teil des Flughafens von Tiflis eine Bombe werfen, und man darf feindliche Streitkräfte auch mal auf ihrem eigenen Gebiet zurückdrängen, um sich zu schützen. Dauerhaft etwa eine Sicherheitszone einrichten außerhalb Südossetiens oder auch nur jenseits der Waffenstillstandslinie, die ja teilweise sogar innerhalb Südossetiens verlief, dürfte Russland aber völkerrechtlich nicht.« Nota bene: Moskau hat zugesichert, seine Soldaten keineswegs »dauerhaft« außerhalb Südossetiens zu belassen.

Fazit: Zum ersten Mal seit dem Ende der Sowjetunion haben die Russen eine völkerrechtswidrige Aggression des Imperialismus nicht nur beklagt, sondern sauber gestoppt. Darauf darf man gerne ein Fläschchen Moskovskaja trinken.

Beide Artikel aus: Neues Deutschland, 5. September 2008 (Rubrik "Debatte")


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