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Zahnlos in Brüssel

Kaum Sanktionen gegen Moskau / Schwere Vorwürfe gegen Georgien

Von Olaf Standke *

Es fehlte nicht an starken Worten vor dem heutigen Krisengipfel zum Kaukasus-Konflikt. Doch konkrete Maßnahmen gegen Russland sind vom EU-Treffen kaum zu erwarten.

Gordon Brown lehnte sich weit aus dem Fenster. Der unter starkem innenpolitischen Druck stehende britische Premierminister forderte in der Sonntagsausgabe des Londoner »Observer« eine »radikale« Überprüfung der EU-Beziehungen zu Russland. Der Kreml müsse mit einer »entschlossenen Antwort« der Europäischen Union auf sein »gefährliches und inakzeptables« Vorgehen rechnen. Andere fügten den üblichen Drohungen mit der Suspendierung Moskaus vom exklusiven G8-Club neue hinzu. Prags Außenminister Karel Schwarzenberg etwa hält einen Boykott der Olympischen Winterspiele 2014 im russischen Sotschi für sinnvoll. Er erwartet, dass die EU heute eine »klare, feste, einheitliche Stellungnahme« zum Konflikt abgibt.

Doch viele Beobachter bezweifeln genau das. Denn auch am Vorabend des Sondergipfels in Brüssel war die Uneinigkeit über das weitere Vorgehen unübersehbar. Im Unterschied zu Brown bemühte sich zum Beispiel Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier um verbale Entspannung und rief zu Besonnenheit auf. Allerdings darf man mit Spannung erwarten, wie Kanzlerin Angela Merkel dann ihre Vereinbarung mit Lech Kaczynski einhalten will, in Brüssel gemeinsam vorzugehen. Polens Präsident gehört zu jenen, die in den vergangenen Wochen immer wieder Öl ins Feuer gossen. Wie aus Warschau zu hören war, betone der jetzt gemeinsam erarbeitete Plan die »territoriale Unversehrtheit Georgiens« sowie die Notwendigkeit eines Rückzugs der russischen Truppen. Präsident Dmitri Medwedjew wies Vorwürfe zurück, man habe nach wie vor Soldaten im georgischen Kernland stationiert und verstoße damit gegen den von der EU vermittelten Sechs-Punkte-Plan zur Beilegung der Krise. Moskau setzt sich zugleich für eine höhere Zahl von OSZE-Beobachtern ein.

Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit gilt auch als Quelle von überaus unangenehmen Nachrichten für Georgiens Präsident Michail Saakaschwili und seine Verbündeten in der EU. OSZE-Militärbeobachter sollen berichtetet haben, dass Tbilissi den Militärschlag gegen die abtrünnige Provinz Südossetien langfristig intensiv vorbereitete und der Angriff schon begann, bevor russische Panzer überhaupt den Roki-Tunnel nach Südossetien befuhren. In ihren Reports sei von möglichen georgischen Kriegsverbrechen die Rede, so habe man südossetische Zivilisten im Schlaf angreifen lassen. OSZE-Sprecher Martin Nesirky leugnete zwar derartige Berichte. Westliche Diplomaten in Tbilissi sehen aber die Gefahr, dass angesichts einer breiten antirussischen Front die »ernsten Fehler« Saakaschwilis im Konflikt zunehmend unberücksichtigt bleiben.

Moskau setzt offiziell auf einen »konstruktiven Dialog« mit der EU. Man geht nicht davon aus, dass die von Georgien, einigen osteuropäischen Mitgliedstaaten und am Wochenende auch vom Chef des auswärtigen Ausschusses im Europaparlament, Jacek Saryusz-Wolski, geforderten Sanktionen beschlossen werden. Die französische EU-Ratspräsidentschaft hatte das bisher ausgeschlossen. Der polnische EU-Abgeordnete will auch die im Juli gestarteten Verhandlungen über ein neues Partnerschaftsabkommen stoppen; der Gipfel solle deshalb das im September geplante nächste Treffen annullieren.

Wirtschaftlicher Boykott jedenfalls würde nicht nur Moskau treffen. Allein die Abhängigkeit der EU von den russischen Ressourcen ist groß, die Union bezieht 42 Prozent ihrer Gas- und 33 Prozent ihrer Rohöleinfuhren aus dem Osten. Westliche Unternehmer in Moskau warnen angesichts des gewinnbringenden Marktes vor Sanktionen, zumal sie Arbeitsplätze in Westeuropa gefährden würden.

* Aus: Neues Deutschland, 1. September 2008


Chaosgipfel in Brüssel

Von Arnold Schölzel **

Am Wochenende wurden Abwiegeln, Schönreden und Wegducken Leitlinien in der EU-Politik gegenüber Rußland. Abgestellt werden konnte die Kakophonie damit nicht. Worauf sich der heute in Brüssel stattfindende EU-Sondergipfel -- der erste seit dem Irak-Krieg 2003 -- verständigen soll, blieb unklar. Georgiens Präsident Michail Saakaschwili kann sich als einen Erfolg seines US-inspirierten Feldzuges eine Mehrfachspaltung der 27-Staaten-Vereinigung an die Fahne heften.

Die deutsche Bundesregierung und die französische Ratspräsidentschaft bemühten sich ganz im Interesse, die eigene Vormachtstellung zu retten, am stärksten um Tünche. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), die noch vor einer Woche mit scharfmacherischen Äußerungen aufgefallen war, ließ nun verbreiten, sie werbe für eine gemeinsame Haltung der EU. Als Beleg durften Presseagenturen über ein Telefongespräch mit Polens Präsident Lech Kaczynski berichten, in dem sich beide auf einen Plan für einen Ausweg aus der Krise geeinigt hätten. Ein »ranghoher« Beamter des polnischen Präsidentenbüros wurde von AFP mit den Worten zitiert, der Plan betone die »territo­riale Unversehrtheit Georgiens« sowie die Notwendigkeit eines Rückzugs der russischen Truppen. Ob das den russophoben Gelüsten vor allem der osteuropäischen EU-Mitglieder genügt, ist fraglich. Jedenfalls ertönte der Ruf nach »Strafmaßnahmen« gegen Rußland am Wochenende nicht nur aus Georgien.

Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) trug die gegenwärtige Hauptmaxime der Berliner Außenpolitik bis auf den Landesparteitag der brandenburgischen Sozialdemokraten am Sonntag in Königs Wusterhausen. Er wies dort zunächst beiden Seiten, Rußland wie Georgien, Verantwortung für die Lage zu und forderte die westlichen Staaten auf, trotz des »kritikwürdigenVerhaltens Rußlands« nicht alle Türen nach Moskau zuzuschlagen. Sicherheit in Europa sei nur mit und nicht gegen Rußland zu erreichen. Steinmeier räumte zugleich ein, es sei derzeit »in Europa nicht leicht, mit einer solchen Linie mehrheitsfähig zu sein«. Die hübsche Formulierung verband der designierte Spitzenkandidat der Brandenburg-SPD für die Bundestagswahlen mit einer indirekten Kritik an den EU-Partnern wegen ihres unterschiedlichen Herangehens an den Konflikt: »Ich bin erstaunt und geschockt zugleich, wie schnell und wie leichtfertig die Gespenster des Kalten Krieges wieder wachgerufen werden.« Plötzlich stehe die gesamte Sicherheitsarchitektur Europas auf dem Spiel. Er arbeite dafür, daß »nach soviel Leichtfertigkeit auf beiden Seiten die Eskalationsspirale wieder gestoppt« werde.

Einfach dürfte das nicht sein, denn Saakaschwili und seine Anhänger in der EU erhielten am selben Tag massive Unterstützung von einem europäischen Schwergewicht. Großbritanniens Premier Gordon Brown blieb der klassischen Linie Londons treu, jede EU-Krise nach Möglichkeit zu befördern. In einem am Sonntag im britischen Observer veröffentlichten Artikel forderte er die EU-Mitgliedsländer zu einer einheitlichen Energiepolitik gegenüber Rußland auf. Die Gemeinschaft müsse ihr Verhältnis zu Moskau von Grund auf überdenken. Die Staaten sollten ihre gemeinsame Verhandlungsmacht nutzen, statt sich verzweifelt um getrennte Vereinbarungen zu bemühen. Die EU-Mitglieder sollten sich anderen Öl- und Gasproduzenten zuwenden und eine Pipeline vom Kaspischen Meer durch die Türkei erwägen, um die Abhängigkeit von Rußland zu reduzieren.

Klar ist demnach nur eins: Das deutsch-französische EU-Krisenmanagement steht vor einer seiner größten Bewährungsproben.

** Aus: junge Welt, 1. September 2008


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