Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Moskau, steh uns bei

Von Knut Mellenthin *

Mit Massenkundgebungen in Tschinwali und Suchumi haben Zehntausende Südosseten und Abchasen für die Verteidigung ihrer Unabhängigkeit von Georgien demonstriert. Sie unterstützten damit zugleich die langjährige Forderung ihrer Regierungen an Rußland, ihre Eigenstaatlichkeit endlich offiziell anzuerkennen. Der Föderationsrat, das Oberhaus des russischen Parlaments, will sich am Montag (25. August) mit den Anträgen der beiden Republiken befassen.

In Tschinwali, dessen Zentrum durch den georgischen Beschuß mit Raketenwerfern und schwerer Artillerie zu Beginn des Überfalls schwer gezeichnet ist, folgten am Donnerstag abend (21. August) Tausende einem als Reqiem, Totengedenken, bezeichneten Konzert unter freiem Himmel. Geleitet wurde es von dem international bekannten Musiker Waleri Gergiew, der unter anderem Chefdirigent des London Symphony Orchestra und künstlerischer Direktor der Petersburger »Weißen Nächte« ist. Gergiew ist zum Teil ossetischer Abstammung. »Wir sind hier, damit die Welt die Wahrheit erfährt«, sagte der Dirigent vor Beginn des Konzerts. »Wir sind verpflichtet, jener zu gedenken, die durch die georgische Aggression eines tragischen Todes gestorben sind.«

Unterdessen ging der Abzug der russischen Truppen aus Georgien planmäßig weiter. Die Armee räumte am Freitag (22. August) vormittag ihre Kontrollstationen in der Stadt Gori und an der Gori mit Tbilissi verbindenden Straße. Der Rückzug befinde sich »im Endstadium« und werde bis Tagesende abgeschlossen sein, gab der russische Generalstab bekannt. 500 russische Soldaten sollen für eine noch nicht genau festgelegte Übergangszeit in einer an Südosse­tien grenzenden Pufferzone auf georgischem Gebiet stationiert bleiben, um gegenseitige Übergriffe zu verhindern. Das ist Teil des Waffenstillstandsabkommens. Dennoch gab sich Geor­giens Präsident Michail Saakaschwili wieder einmal trotzig und erklärte, er werde keine Pufferzone zulassen. Ein Sprecher des russischen Generalstabs antwortete darauf am Freitag gelassen: »Wir werden Herrn Saakaschwili wegen der Pufferzone nicht um Erlaubnis oder Rat bitten.«

Ebenfalls am Freitag gab der Generalstab die Absicht bekannt, die Stärke der russischen Friedenstruppe in Abchasien auf 2142 Mann zu reduzieren. Rußland hatte deren Zahl als Reaktion auf georgische Kriegsdrohungen Anfang Mai von 1997 auf 2542 erhöht. Das Waffenstillstandsabkommen vom 22. August 1994 läßt eine maximale Truppenzahl von 3000 zu.

Im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zeichnete sich noch keine Einigung auf eine konsensfähige Resolution ab. Nachdem Frankreich am Dienstag (19. August) einen für die russische Seite inakzeptablen Text vorgelegt hatte, präsentierte der Vertreter Moskaus am Donnerstag (21. Aug.) einen eigenen Entwurf, dessen Wortlaut ausschließlich das vom französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy ausgearbeitete und vermittelte russisch-georgische Waffenstillstandsabkommen wiedergibt.

Demgegenüber bestanden die USA, Großbritannien und Frankreich zunächst darauf, daß die Resolution ein Bekenntnis zur »territorialen Integrität« Georgiens, also zur Zwangszugehörigkeit von Abchasien und Südossetien, enthalten müsse. Inzwischen haben sie ihren Widerstand gegen den russischen Entwurf anscheinend darauf reduziert, »Klarstellungen« zu verlangen, die das Sechs-Punkte-Abkommen zum Waffenstillstand nicht enthält. Dabei geht es vor allem um die Frage, wie lange russische Truppen in der Pufferzone stationiert bleiben sollen.

* Aus: junge Welt, 23. August 2008

Kommentar

Doppelte Standards

FAZ gegen Kosovo-Vergleiche

Von Werner Pirker **


Kosovo – der falsche Vergleich, lautet die Überschrift des sich auf den Konflikt um Südossetien beziehenden Leitartikels in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom Freitag. Das ist auch in der jW schon des öfteren festgestellt worden – bei einer freilich total entgegengesetzten Bewertung der beiden Konflikte.

Die »Unterschiede in der Sache« werden von FAZ-Autor Reinhard Müller dahingehend ausgelegt, daß es sich bei den NATO-Luftangriffen auf Jugoslawien 1999 um eine humanitäre Intervention gehandelt habe, während das russische Eingreifen in den kriegerischen Konflikt Georgiens mit Südossetien ein völkerrechtswidriger Überfall gewesen sei. Der FAZ-Autor geht davon aus, daß die Situation im Kosovo vor Beginn der NATO-Intervention einer humanitären Katastrophe entsprochen habe, deren Abwendung sofortiges Handeln erfordert hätte. Zwar habe die »Verhinderung eines Genozids« in Folge der russischen Veto-Politik ohne Ermächtigung des Sicherheitsrates stattgefunden, vorangegangene Beschlüsse dieses Gremiums aber hätten in ihrer Logik ein bewaffnetes Eingreifen durchaus gerechtfertigt.

Ein Gewohnheitsrecht zur Katastrophenverhinderung will Müller daraus nicht abgeleitet wissen. »Die Allianz machte dabei stets den Ausnahmecharakter dieser Intervention deutlich.« Das Gewaltverbot der UNO darf im Ausnahmefall nur von einer Ausnahmeerscheinung wie der NATO umgangen werden. Auch so läßt sich das Völkerrecht interpretieren.

Worin aber bestand die humanitäre Ausnahmesituation im Kosovo, die ein militärisches Eingreifen der Allianz gerechtfertigt haben soll? Hatte es jemals einen Großangriff auf Pristina gegeben, bei dem Mehrfach-Raketenwerfer eingesetzt wurden, deren Zweck in der weiträumigen Verwüstung eines Gebietes besteht? Das ist tatsächlich geschehen – in Tschinwali. Selbst die von den westlichen Kriegsherren erfundenen »serbischen Massaker«, wie die behauptete und inzwischen widerlegte Hinrichtung von Zivilisten in Racak, lassen keinen Vergleich mit dem georgischen Blutrausch bei der versuchten Eroberung Südossetiens zu.

»Zwar ist einem Volk, dem in einem Staat das Existenzrecht verwehrt wird, ein Verbleiben in diesem Staat nicht zuzumuten; das hat ja auch zur Unabhängigkeit des Kosovos geführt«, liest man im FAZ-Kommentar. Zwar hatten die Albaner im Kosovo alle nur denkbaren Minderheitenrechte, doch war ihnen ein Verbleib in Serbien nicht weiter zuzumuten. Den von Belgrad vorgelegten Autonomieplan wiesen sie ungelesen zurück. Für Osseten und Abchasen aber will Herr Müller festgelegt wissen, daß sie kein Recht auf Abtrennung hätten, solange ihnen das Recht auf Autonomie nicht abgesprochen werde. So erweisen sich die von Reinhard Müller behaupteten Unterschiede schlicht als doppelte Standards, während die wirklichen Unterschiede in völliger Verkehrung der Tatsachen dargestellt werden.

** Aus: junge Welt, 23. August 2008




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