Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Der Krieg um Südossetien ist - vorläufig - beendet: Interpretationen seines Ergebnisses

Die Positionen der Hauptakteure des Konflikts, Russland und USA/NATO, sind weiterhin unversöhnlich. Analysen und Berichte. Interview mit Außenminister Steinmeier

Im Folgenden dokumentieren wir



Südossetien-Krieg: Ergebnisse und Prognosen

Russland hat die Operation zur Zwangsbefriedung in georgischen Konfliktgebieten beendet

Von Ilja Kramnik *

Die Staatsführung und der Generalstab haben den Abzug der Truppen aus der Konfliktzone bekannt gegeben. Es wäre noch verfrüht, vom Ende des Konflikts zwischen Georgien und den nicht anerkannten Republiken Südossetien und Abchasien zu sprechen, aber ein Fazit aus der russischen Militäroperation lässt sich bereits ziehen. Außerdem können die Ergebnisse mehrerer weltweiter Prozesse zusammengefasst und mögliche Zukunftsszenarien prognostiziert werden.

Die Widersprüche, die sich seit Ende der 90er Jahre zwischen Russland und dem Westen, vor allem den USA, anhäuften, sind aufgebrochen, die Masken der gutmütigen Politkorrektheit und Zusammenarbeit im weltweiten Kampf gegen den Terrorismus sind gefallen, und wir erleben den Anfang einer neuen Spiralwindung der Geschichte. Wiederum ist es die Geschichte der Konfrontation beider Supermächte, von denen jede die Welt nach eigener Fasson umzumodeln versucht.

Wie jede Lawine, begann das Ganze mit einem Sandkorn: einem Versuch Georgiens, auf dem Territorium Südossetiens die "verfassungsmäßige Ordnung" zu schaffen. Diese Operation verdient eine ausführlichere Behandlung. Die vieldeutige Wendung "verfassungsmäßige Ordnung schaffen" kann zu verschiedenen historischen Zeiten einander beinahe diametral entgegen gesetzte Begriffe beinhalten, besitzt jedoch in ihrer Basis einige fundamentale Charakteristika, die jede Operation, die einen solchen Namen für sich beansprucht, aufzuweisen hat.

Inwiefern entsprach die Operation zur Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung, die Georgien in Südossetien durchzuführen versuchte, solchen Charakteristika?

Das erste Charakteristikum ist die selektive Feuerbekämpfung von unrechtmäßig bewaffneten Formationen, wobei Opfer unter der Zivilbevölkerung vermieden werden sollen. Die Realität sieht hier ganz anders aus: Die georgische Artillerie beschoss Zchinwali und die umliegenden Dörfer; bekannt geworden sind zahlreiche Morde an friedlichen Einwohnern und Gewaltausbrüche gegen sie.

Das zweite, nicht minder wichtige Charakteristikum ist die humanitäre Komponente. Das bedeutet, möglichst schnell wieder Ordnung und normale Lebensbedingungen für die Zivilisten herzustellen. Das Vorhandensein dieser Komponente hängt davon ab, ob ein Netz von medizinischen Versorgungsstellen und Feldlazaretten, Lebensmittel- und Wasservorräten sowie von Vorräten an anderen lebensnotwendigen Dingen errichtet wird. In Georgien wurde nichts dergleichen getan.

Insgesamt drängen die Handlungen Georgiens im Vorfeld und während der Invasion in Südossetien den Schluss auf: Das Ziel der georgischen Führung war die Vernichtung der nicht georgischen Bevölkerung Südossetiens oder ihre Vertreibung nach Russland. Solche Handlungen werden im Strafgesetzbuch der Russischen Föderation als Genozid definiert.

Mehr noch, Georgien verstieß direkt gegen internationales Recht, indem es die russischen Friedenskräfte beschoss - sogar die georgischen Friedenssoldaten nahmen daran teil.

Unter Berücksichtigung all dieser Charakteristika war die russische Reaktion auf den Beschuss und die in der Nacht zum 8. August 2008 nachfolgende Invasion der georgischen Truppen absolut legitim: Kampfgruppen der 58. Armee des Nordkaukasischen Militärbezirks rückten vor, um den Friedenstruppen zu helfen. Schon in der Nacht des 8. August erschienen die ersten Nachrichten über Schläge der Luftwaffe gegen die georgischen Truppen. Viele Militärfachleute sind der Meinung, dass die südossetische Bürgerwehr nur deswegen den ersten Sturmangriff auf Zchinwali abwehren konnte.

Nachmittags entfalteten sich die russischen Landstreitkräfte in der Umgegend der Stadt: Die ersten Manövergruppen rückten bis Zchinwali vor und nahmen das Gefecht auf. Sofort kam es zur "Rollenverteilung": In den Ortschaften kämpften die örtlichen Bürgerwehr- und Freiwilligenverbände, während die russischen Truppen nur dann ins Gefecht eingriffen, wenn mehr oder weniger bedeutende georgische Kräfte hinzukamen, denen die Milizen nicht gewachsen waren.

Außerdem übernahm Russland die Bekämpfung der georgischen Artillerie, und seine Fliegerkräfte begannen mit Angriffen gegen die Infrastruktur der Rückwärtigen Dienste Georgiens.

Unterdessen übernahmen russische Spezialeinheiten die Aufgabe, georgische Spezialeinheiten zu neutralisieren. Laut vorliegenden Informationen konnte gerade dank der russischen Spezialeinheiten die Sprengung des Roki-Tunnels durch georgische Saboteure verhindert werden. Durch den Tunnel verläuft die größte Autostraße zwischen Russland und Südossetien. Seine Sprengung hätte die Operation aufs Äußerste erschwert, denn die übrigen Straßen genügen den Ansprüchen nicht.

Die Kämpfe im Raum Zchinwali dauerten drei Tage und Nächte. Am Ausgang des dritten Tages war die georgische Artillerie entweder vernichtet oder zum Räumen ihrer Positionen gezwungen, das georgische Heer verließ die Stadt. Es sei darauf hingewiesen, dass die russische Armee im Zuge der ganzen Operation an mehrere politische Beschränkungen gebunden war, die den Einsatz schwerer Waffen gegen Ortschaften untersagen. Dies erschwerte die Bekämpfung des Gegners beträchtlich.

Im Verlauf der ganzen Operation - inklusive bis zum 12. August - führten die russischen Fliegerkräfte Angriffe gegen die Militärinfrastruktur Georgiens durch und nahmen so den georgischen Streitkräften die Möglichkeit, den Krieg fortzuführen. Bei der Operation wurde auch die Flotte eingesetzt: Schiffe der russischen Schwarzmeerflotte begannen, längs der Küste Abchasiens und Georgiens zu patrouillieren.

Am 11. August hörte die georgische Armee auf, als organisierte Kraft zu bestehen. Die ganze Welt sah die TV-Bilder der Flucht der georgischen Soldaten aus Südossetien, Gori und anderen Gebieten. Die Einheiten flohen südwärts, hauptsächlich in den Raum Tiflis, und ließen die Kampftechnik zurück.

Inzwischen weiteten die russischen Streitkräfte gemeinsam mit abchasischen und südossetischen Formationen die Kampfhandlungen auf das Kernterritorium Georgiens aus, bemächtigten sich der liegen gelassenen Kriegstechnik und zerstörten die letzten Überreste der Militärinfrastruktur.

Am 12. August gab Dmitri Medwedew den Abschluss der Operation bekannt.

Der Fünftagekrieg hat sowohl die Stärken als auch die Schwächen der russischen Armee vor Augen geführt. Positiv einzuschätzen sind einerseits das hohe Tempo des Vorrückens sowie die Methode und Planmäßigkeit der Niederhaltung des georgischen Artilleriebeschusses und der Bekämpfung der Infrastruktur der Rückwärtigen Dienste sowie die Handlungen der russischen Kommando- und Stabsstrukturen auf allen Ebenen.

Andererseits wurde eine Reihe von Mängeln offenbar: die ungenügende Niederhaltung der georgischen Luftverteidigung und Luftwaffe, das Fehlen neuester Waffensysteme und moderner Kampftechnik sowie das schwerfällige System der Nachrichtenübermittlung.

Teilweise gab die russische Militärführung diese Mängel sogar zu. So gestand Generaloberst Nogowizyn, der während der ganzen Operation der Presse zur Verfügung stand, offen, dass der Verlust einer Tu-22MR-Maschine die Mängel in der Gefechtsausbildung der Luftstreikräfte veranschaulichte.

Parallel zur militärischen Operation entfalteten sich der Informations- und der diplomatische Krieg. Die russischen Vertreter bei UNO und Nato, Vitali Tschurkin und Dmitri Rogosin, Außenminister Sergej Lawrow sowie Präsident Dmitri Medwedew und Ministerpräsident Wladimir Putin traten in allen Kanälen auf, um die Rechtmäßigkeit der russischen Reaktion darzulegen.

Dank der praktisch einheitlichen Position der russischen Presse konnte die für die letzten 20 Jahren übliche Niederlage Russlands im Informationskrieg vermieden werden: Anhänger der russischen Position fanden sich selbst in Westeuropa. Bedingungslos unterstützt wurde Georgien nur von den USA, Großbritannien und einigen osteuropäischen Ländern.

Übrigens erschöpfte sich diese Unterstützung in mitfühlenden Äußerungen und in Forderungen an Russland, die Truppen unverzüglich abzuziehen.

Somit ist die ganze Welt Zeuge dessen, dass der Westen in einer so grundsätzlichen Frage wie der "Schutz einer jungen Demokratie" nicht einheitlich und dass in der Politik eine neue geopolitische Realität aufgekommen ist: ein (und sei es auch zeitweiliger) Block von Russland und westeuropäischen Ländern (Deutschland, Frankreich, Italien, zum Teil auch Spanien) steht den USA und einigen osteuropäischen Ländern gegenüber.

Mehr noch, selbst ein eigentlich so traditioneller geopolitischer Gegner wie die Türkei unterstützte Russland. Der türkische Premier, der zu Verhandlungen nach Moskau kam, sprach sich für Russlands Anstrengungen für die Befriedung der Region aus. Etwas später wurde bekannt, dass die Türkei den amerikanischen Kampfschiffen das Einlaufen ins Schwarze Meer vorerst verweigert hat.

Dennoch kann Russland nicht als Sieger des Medienkriegs bezeichnet werden: Viel zu mächtig bleibt der ihm gegenüberstehende Informationsstrom. Auf die Situation passt am ehesten die Einschätzung "Unentschieden".

Es ist schwer genug, die weitere Entwicklung vorherzusagen: Die Positionen der internationalen Hauptakteure - in diesem Fall sind das zweifellos Russland und die USA - erscheinen unversöhnlich. Russland arbeitet offenkundig auf die Anerkennung der staatlichen Unabhängigkeit Südossetiens und Abchasiens hin.

Das Strafverfahren, das die russischen Rechtsschutzorgane laut Genozid-Artikel eingeleitet haben, setzt eine konkrete Verantwortlichkeit der georgischen Seite voraus. In den Konflikt sind auch Nachbarländer einbezogen worden, zum Beispiel die Ukraine, in der sich die politische Krise merklich vertieft.

Obwohl sich in der ständig wechselnden Situation jede Prognose als ungenau, ja am ehesten als falsch erweisen kann, wollen wir versuchen, die allgemeinen Entwicklungstrends zu prognostizieren. Zweifellos hat sich die Welt in den vergangenen zwei Wochen radikal verändert: Die Widersprüche zwischen Russland und den USA, die lange Zeit hinter politisch korrekten Vorhängen verborgen blieben, sind in den Vordergrund getreten.

Weder Russland noch die USA sind zu Zugeständnissen bereit, und von diesem Umstand ausgehend, könnte eine neue Spirale im Kalten Krieg und eine weltweite Gegenüberstellung beider Mächte vorhergesagt werden.

Nachdem Polen als Gegenleistung für seine Belieferung mit modernen Luftverteidigungssystemen zum Schutz vor einem russischen Angriff seine Teilnahme am Projekt zugesagt hat, ist die antirussische Ausrichtung des amerikanischen ABM-Systems offenbar geworden. Die russischen Offiziellen aber haben erneut bestätigt, dass im Falle eines Konflikts die ABM-Anlagen als vorrangiges Ziel gelten würden.

In Georgien ist in absehbarer Zukunft am ehesten ein Machtwechsel zu erwarten: Michail Saakaschwili, der den Krieg verloren und sich auch persönlich nicht von seiner besten Seite gezeigt hat, ist weder in seinem Land noch im Westen populär. Doch sollte man nicht mit einem Sieg der russlandfreundlichen Kräfte rechnen: Gegenwärtig sind ihre Positionen in der georgischen Gesellschaft viel zu schwach, als dass man auf sie ernsthaft Hoffnungen setzen könnte.

Zu erwarten ist wohl auch die Demontage der GUS in ihrer jetzigen Gestalt: Die mit Russland verbündeten Länder werden offenbar ihre Zusammenarbeit im Rahmen der Organisation des Vertrags über Kollektive Sicherheit (OVKS) und der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) intensivieren. Die letztere könnte bald neue Mitglieder bekommen.

Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.

* Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 21. August 2008



Rußland richtet Sicherheitszone ein

Rußland will in Georgien eine sieben Kilometer breite Sicherheitszone um die Region Südossetien einrichten. Dort werde eine doppelte Linie von insgesamt 18 Kontrollstellen eingerichtet, teilte der stellvertretende russische Generalstabschef Anatoli Nogowizyn am Mittwoch mit. Diese Kontrollstellen sollen von 270 Soldaten besetzt werden.

Nach der von der EU vermittelten Waffenstillstandsvereinbarung müssen sich die russischen und georgischen Truppen auf Positionen zurückziehen, die sie vor Beginn des von Tbilissi initiierten Krieges Anfang August innehatten. Der russische Präsident Dmitri Medwedew erklärte, dies werde bis Freitag geschehen. Das Abkommen läßt aber zu, daß russische Truppen auf georgischem Gebiet in einer sieben Kilometer breiten Zone rund um Südossetien bleiben können.

Beim georgischen Versuch, die Regionen Südossetien und Abchasien militärisch zu erobern, wurden 64 russische Soldaten getötet und 323 weitere verwundet, wie Generaloberst Nogowizyn mitteilte. Auf georgischer Seite wurden nach Angaben aus Tbilissi 160 Soldaten getötet, 300 gelten noch als vermißt. Die Zahl der getöteten Zivilpersonen in Georgien ist weiter unklar. Vertreter der Regierung in Südossetien sprachen am Mittwoch von 1492 Toten. In Den Haag teilte der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, Luis Moreno Ocampo, mit, daß sein Team Informationen über mögliche Kriegsverbrechen in Georgien nachgehe. So würden Hinweise zu Angriffen auf die Zivilbevölkerung geprüft. Rußland hatte Georgien Genozidhandlungen vorgeworfen.

Eine Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrats zum Konflikt im Kaukasus blieb ergebnislos. Der russische UN-Botschafter Witali Tschurkin warf den Mitgliedern des Gremiums Parteilichkeit vor. Der französische Resolutionsentwurf sei unangemessen. Der Aggressor werde als Opfer dargestellt, kritisierte Tschurkin.

Kurz zuvor hatte US-Außenministerin Condoleezza ­Rice Moskau gedroht, international isoliert zu werden: »Rußland wird mehr und mehr zum Geächteten in diesem Konflikt.« (AP/AFP/jW)

* Aus: junge Welt, 21. August 2008

Noch einmal abgeschrieben

Am 21. August 2008 veröffentlichte die "junge Welt" unter der Rubrik "Abgeschrieben" Auszüge aus einem Artikel, der einen Tag davor in der FAZ erschienen war (Dmitri Rogosin: "Aufs Haupt geschlagen"). Der Autor: Dmitri Rogosin, Ständiger Vertreter Rußlands bei der NATO. Wir schreiben im Folgenden einen Auszug ab:

Auszug aus Dmitri Rogosin: "Aufs Haupt geschlagen"

(...) Im Kaukasus gibt es außer Georgien noch zwei souveräne Staaten, zwischen denen schon 15 Jahre lang ein Konflikt herrscht; außerdem ist er viel ernster als die zwei kleineren Konflikte in Georgien. Aber im Unterschied zum Präsidenten Georgiens vermeiden die armenische und die aserbaidschanische Führung eine unnötige Zuspitzung des Konflikts und strengen sich statt dessen an, die Wirtschaft zu entwickeln. Das führt zu dem Ergebnis, daß die Wirtschaft schnell wächst und das Lebensniveau sich verbessert. Dabei unterhalten Baku und Eriwan normale Beziehungen zu allen Partnern -- mit Rußland, Europa und den Vereinigten Staaten.
Und was ist los mit Georgien? Der Staat, der vor kurzem einer der wohlhabenden der Region war, hat sich in 15 Jahren noch nicht aus der tiefen Krise befreit. Vielmehr hat Georgien alles getan, um aufzurüsten -- auch gegen das eigene Volk. Der von Beratern in den vergangenen vier Jahren trainierten Armee samt ihren modernen Waffen, die sich Georgien angesichts seiner Haushaltslage eigentlich nicht leisten kann, wurde in wenigen Stunden aufs Haupt geschlagen -- in einem Gegenangriff auf ein dummes Abenteuer.
(...)
Für Millionen Russen ist das Geschehen in Georgien und Südossetien keine abstrakte Angelegenheit, sondern es berührt sie auch privat. Aber im Westen interessiert sich wahrscheinlich niemand für die Einzelheiten dieser Geschichte, und in Georgien unterrichtet man Geschichte mittlerweile auf eine ganz andere, speziell auf den georgischen Führer ausgerichtete Weise. Niemand erinnert sich daran, daß es eigentlich Rußland war, das eine lange Zeit die Unabhängigkeit und Integrität des georgischen Landes gewährleistete. Niemand erinnert sich auch daran, daß die Georgier seit dem 15. Jahrhundert nach einem russischen Protektorat strebten.
Hätte Georgien den Weg der Nachbarn Armenien und Aserbaidschan gewählt, hätte es die Chance gehabt, die jahrhundertealten Vorurteile der Abchasen und Osseten zu überwinden. Heute, in unserer Zeit, ist diese Chance verspielt. Wer den abenteuerlustigen Saakaschwili inspiriert hat, den militärischen Weg einzuschlagen, ihm Waffen geliefert und auf Nachbarn gehetzt hat, der hat auch das Recht, den Ruhm des »Verlierers« mit ihm zu teilen.




"Ein sehr fragiler Waffenstillstand"

Bundesaußenminister Steinmeier im Interview zu Georgien mit der Welt am Sonntag
18.08.2008

Herr Minister, Ihr russischer Amtskollege Lawrow empfiehlt, das „Gerede“ über die territoriale Unversehrtheit Georgiens zu „vergessen“. Es sei „unmöglich“, Südossetien und Abchasien bei Georgien zu belassen.

Alle Beiträge, die wir im Namen der internationalen Staatengemeinschaft und im Rahmen der EU zur Stabilisierung im Kaukasus leisten, orientieren sich am Völkerrecht. Darum bleibt die territoriale Integrität Georgiens Grundlage unserer Politik. Das haben wir unseren Gesprächspartnern in Tiflis ebenso wie in Moskau oder in Abchasien deutlich gemacht. Moskau hat diese Position in der Vergangenheit wiederholt bestätigt. Ich gehe davon aus, dass sich daran nichts geändert hat.

Geändert haben sich die Fakten. Die georgischen Truppen wurden aus Südossetien und Abchasien gedrängt. Ist damit nicht die territoriale Integrität verloren?

Kein Zweifel, der Einfluss Georgiens in den beiden Regionen ist nach der aktuellen Auseinandersetzung gemindert. Gleichwohl bleibt das Völkerrecht unsere gemeinsame Basis. Und das heißt: territoriale Integrität. Das bleibt unsere Position, darüber waren wir uns auch bei der Diskussion im EU-Kreis einig.

Wie stabil ist der Waffenstillstand?

Der aktuelle Zustand ist höchst fragil, der Waffenstillstand sehr zerbrechlich. Darum müssen wir - Bundesregierung wie EU - jetzt alles tun, was zur Stabilität führt und den Menschen in der Region wieder Sicherheit geben kann. Wir brauchen einen dauerhaften Waffenstillstand werden, von dem aus wieder politische Gespräche aufgenommen werden können. Es ist deshalb ein ermutigendes Zeichen, dass beide Seiten die Vereinbarung über eine Waffenruhe unterzeichnet haben.

Es gibt unterschiedliche Ansichten über die Schuld an den Kämpfen. Gerhard Schröder sieht „als auslösendes Moment“ den Einmarsch des „Hasardeurs“ Saakaschwili nach Südossetien an. Teilen Sie seine Sicht?

In der jetzigen Situation sehe ich meine Aufgabe nicht darin, eine Chronologie der Eskalation zu schreiben und daraus Vorwürfe an die eine oder andere Seite zu abzuleiten. Fest steht, dass der Konflikt eine lange Vorgeschichte hat. In unseren Gesprächen mit der russischen Seite haben wir aber auch sehr deutlich darauf hingewiesen, dass sie nach Ausbruch der Feindseligkeiten mit den Bombardements und dem Bodeneinsatz auf georgischem Kerngebiet eine Grenze überschritten hat.

Sie selbst haben unlängst in Abchasien Ihren Friedensplan diskutiert. War die Eskalation absehbar?

In Abchasien habe ich erleben müssen, wie kompromisslos und unversöhnlich die Konfliktparteien übereinander redeten. Darum habe ich mir keine Illusionen gemacht über die Brisanz des Konflikts, auch wenn der konkrete Ausbruch der Kampfhandlungen um Südossetien so nicht vorherzusehen war. Wegen der verhärteten Fronten sah mein Plan für Abchasien vor, die Statusfrage erst in einer dritten Phase anzugehen.

Davor muss Vertrauensbildung stehen. Ich würde mir sehr wünschen, dass der Waffengang zwischen Georgien und Russland bei den Menschen in der Region zu der Erkenntnis geführt hat, dass es keine Alternative zur Verständigung gibt und daher unser Friedensplan nun doch noch eine Chance bekommt.

Aber Ihr Abchasien-Plan ist doch wohl gescheitert: In der ersten Stufe sah er das Ende der Gewalt vor. Wir erlebten das genaue Gegenteil.

Die Situation ist ungleich schwieriger geworden, keine Frage. Aber die Elemente des Plans und ihre Reihenfolge - Gewaltverzicht, Vertrauensbildung und Wiederaufbau, Statusverhandlungen - bleiben richtig. Ich werde mich auch weiter dafür einsetzen, die Konfliktparteien zurück an den Verhandlungstisch zu bringen.

In Südossetien wie Abchasien finden offenkundig „ethnische Säuberungen“ in Form der massenhaften Flucht und Vertreibung statt.

Dass die Konfliktparteien versucht haben, Fakten zu schaffen und politische Lösungen in ihrem jeweiligen Sinne vorzubereiten, ist offenkundig und für die betroffenen Menschen schlimm. Darum gehört zu unserem Abchasien-Plan ein Rückkehrrecht für die Flüchtlinge. Die Kriegsereignisse haben das Problem vergrößert. Zehntausende sind aus Südossetien nach Nordossetien geflüchtet und leben dort in notdürftigen Lagern. Georgische Flüchtlinge sind zum Teil aus Südossetien, zum größeren Teil aus dem grenznahen Raum Georgiens geflüchtet, andere aus Abchasien. Um diese Menschen müssen wir uns kümmern. Darum haben wir uns im Kreis der EU-Außenminister in einem ersten Schritt zur humanitären Hilfe verpflichtet. Die Bundesregierung hat zunächst eine Million Euro zur Verfügung gestellt, die EU-Kommission drei Millionen, andere Mitglieder helfen ebenfalls.

Was kann Europa außerdem tun? Nur Beobachter schicken? Oder immerhin eine Friedenstruppe?

Erste Antwort: Europa kann etwas tun. Die Vermittlung von Präsident Sarkozy und seinem Außenminister Kouchner, die von anderen EU-Staaten, darunter Deutschland, unterstützt wurde, hat zur Einstellung der Kampfhandlungen beigetragen....

....die EU hat das erwirkt? Die Kampfhandlungen wurden doch wohl gestoppt, weil Russland seine Kriegsziele erreicht hatte.

Aus meinen vielen Telefonaten seit Ausbruch der Kriegshandlungen weiß ich, wie schwierig es war, die Waffen zum Schweigen zu bringen. Deshalb sollten wir den Vermittlungserfolg der französischen Ratspräsidentschaft und der EU nicht klein reden.

Aber die Europäer streiten. Polen und Balten forderten mehr Solidarität mit Tiflis, Sarkozy äußert Verständnis für Moskau.

Die EU-Außenminister haben sich in den jetzt entscheidenden Punkten auf eine gemeinsame Position geeinigt. Das Festhalten an der territorialen Integrität Georgiens steht für niemanden zur Debatte. Daneben haben wir uns zunächst auf zwei Dinge konzentriert.

Erstens darauf, wie wir schnell und wirksam humanitäre Hilfe leisten können. Zweitens waren wir uns einig, dass die EU weiter eine wichtige Rolle bei der Stabilisierung in der Region spielen muss. Das kann als verstärkte Monitoring-Mission von OSZE-Beobachtern erfolgen, die den Waffenstillstand überprüfen. Hier sollte sich Deutschland einer Beteiligung nach meiner Überzeugung nicht entziehen. Ob es darüber hinaus zu einem internationalen Peace-Keeping kommt, hängt nicht so sehr von der EU ab, sondern von der Zustimmung der Konfliktparteien und der Frage eines entsprechenden Mandats der Vereinten Nationen.

Muss die EU ihre Russland-Politik nicht grundsätzlich überdenken?

Gerade die Russland-Politik mit allen ihren Aspekten haben wir doch immer wieder sehr intensiv und gewissenhaft diskutiert. Deshalb rate ich, hier keine Schnellschüsse abzugeben, etwa durch Aussetzung der Verhandlungen über ein Partnerschafts- und Kooperationsabkommen. Das würde doch bedeuten, dass ein solches Abkommen für die EU weniger wichtig wäre als für Russland. Oder hinsichtlich Russlands Aufnahme in die Welthandelsgesellschaft WTO: Daran haben wir ein ebenso großes Interesse wie Russland selbst. Auch der Dialog im NATO-Russland-Rat bleibt unverzichtbar. Denn wir brauchen offene Gesprächskanäle – nach Tiflis und nach Moskau.

* Quelle: Website des Auswärtigen Amtes; www.auswaertiges-amt.de


Zurück zur Georgien-Seite

Zur Russland-Seite

Zur NATO-Seite

Zur Seite "Deutsche Außenpolitik

Zurück zur Homepage