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"Der georgische Präsident Michail Saakaschwili beging tragischen Fehler"

Weitere Berichte und Pressekommentare zum Krieg in Georgien

Zu den kriegerischen Auseinandersetzungen um Südossetien gibt es nicht enden wollende Berichte und Interpretationen. Wir setzen unsere Berichterstattung heute mit einem Artikel von Rainer Rupp aus der linken Tageszeitung "junge Welt" sowie mit zahlreichen Pressestimmen aus in- und ausländischen Zeitungen fort.



Kreml führt die USA vor

Krieg im Kaukasus: Für Washington droht die Unterstützung Tbilissis zu einer außenpolitischen Katastrophe zu werden. Transatlantische Differenzen

Von Rainer Rupp *

Georgien drängt mit Unterstützung des Westens auf einen Krieg, hat der russische Sonderbotschafter Valeri Kenjaikin bereits Ende April erklärt. Aber wenn sich Tbilissi nicht an den Vertrag zur ausschließlich friedlichen Lösung des Konfliktes um die Autonomen Gebiete Abchasien und Südossetien halten werde, werde Rußland entsprechend antworten: »Sollte sich jemand (in Georgien) Hoffnung machen, daß NATO-Soldaten zu Hilfe kommen und dort kämpfen werden, so haben wir Mittel und Wege, darauf zu antworten«, so der Sonderbotschafter. Postwendend verurteilte US-Außenstaatssekretär Matthew Bryza die Anschuldigungen aus Moskau als haltlos. »Wahrscheinlich weiß die russische Seite nicht, was wir tun«, tönte Bryza. »Im Gegenteil, das wissen wir sehr gut«, verlautete aus dem russischen Verteidigungsministerium, denn seit 2002 rüsten die USA die georgischen Streitkräfte auf. Zur Zeit haben sie 1000 US-Marineinfanteristen im Land stationiert.

Vierzehn Tage vor dem georgischen Überfall auf Südossetien hatten US-Truppen an dem georgischen Manöver »Immediate Response« (Prompte Antwort) unweit der russischen Grenze teilgenommen. Kaum zu glauben, daß die georgische Regierung, die ökonomisch, politisch und militärisch am Tropf der USA hängt, nicht in Abstimmung mit Wa­shington den Krieg vom Zaun gebrochen hat. Dennoch, die »prompte Antwort« kam -- von Moskau. Innerhalb kürzester Zeit ist es der russischen Armee gelungen, sich gegen einen von den USA ausgebildeten Gegner effizient durchzusetzen und diesen zum Rückzug zu zwingen.

Die georgische Gewalt hat russische Gegengewalt ausgelöst, und nun ist das Jammern in Tbilissi und Wa­shington groß. Ihr Vabanquespiel, das unbestätigten Berichten zufolge bereits mehrere tausend Tote gefordert hat, ist fehlgeschlagen. Für Georgien wie für die USA drohen weitreichende, strategische Konsequenzen. So befürchteten laut New York Times vom Montag hochrangige US-Diplomaten und Militärs, der Krieg drohe zu einer »außenpolitischen Katastrophe für die USA« zu werden. Wa­shingtons »Prestige und Autorität« im Kaukasus und in Zentralasien würden in Frage gestellt, wenn die USA nicht in der Lage seien, Georgien zu helfen oder den Kreml dazu zu bringen, »das weitere Vordringen der russischen Streitkräfte zu stoppen«. In der Tat erscheinen die USA durch das Georgien-Abenteuer in der Re­gion als Papiertiger. Gleiches gilt für die NATO.

Zugleich können sich die Nationalisten und irrationalen Russenhasser in der georgischen Regierung unter Führung des US-geschulten Präsidenten Michail Saakaschwili auf unabsehbare Zeit die Idee von einem NATO-Beitritt abschminken. Nicht von ungefähr hat sich der Generalsekretär der westlichen Militärallianz, Jaap de Hoop Schaeffer, beeilt, auf eine »dringliche Anfrage« über militärischen Beistand für Georgien als Beitrittskandidaten in spe kategorisch zu antworten, daß die NATO dafür »kein Mandat« hat. US-Präsident George W. Bush hatte im Frühjahr beim NATO-Gipfel in Bukarest auf ein solches Mandat gedrängt, er war damals aber am Widerstand der Europäer, insbesondere der Deutschen, gescheitert. Vor dem Hintergrund des aktuellen Konflikts ist an einen NATO-Beitritt Georgiens vorerst nicht zu denken.

Deutschland und das Gros der EU-Staaten wollen sich ihre auf langfristige Kooperation mit Rußland ausgelegte Energiepolitik nicht von nationalistischen Hitzköpfen in Geor­gien kaputtmachen lassen. Zudem stellt Rußland einen großen und zahlungskräftigen Markt für die europäische Industrie dar, ein weiteres starkes Argument sowohl im innereuropäischen als auch im trans­atlantischen Richtungsstreit gegen die Russophoben, die, wie US-Vizepräsident Dick Cheney oder Präsidentschaftskandidat John McCain, Moskau eine Lehre erteilen wollen. Daher ist es nicht unwahrscheinlich, daß die Folgen des georgischen Angriffs und der russischen Reaktion die transatlantische Kluft in der ­NATO weiter vertiefen wenn. Denn die Interessensgegensätze des europäischen und US-amerikanischen Kapitals klaffen in bezug auf Rußland klaffen immer weiter auseinander.

* Aus: junge Welt, 12. August 2008



Weitere Pressestimmen

Zum Kaukasus-Konflikt zwischen Russland und Georgien zitierte der Deutschlandfunk folgende Pressestimmen:

Die spanische Zeitung EL PAÍS schreibt:
"Die Entscheidung des georgischen Präsidenten Michail Saakaschwili zur militärischen Intervention in Südossetien war ein tragischer Fehler. Der Staatschef durfte trotz aller Provokationen der Separatisten das Recht nicht in die eigene Hand nehmen. Das gewaltsame Vorgehen gegen Ossetien ist nicht zu rechtfertigen. Die Entscheidung stellt aber obendrein auch einen politischen Fehler dar. Und daraus versucht Russlands Ministerpräsident Wladimir Putin nun, Kapital zu schlagen", kommentiert EL PAÍS aus Madrid.

In der Zeitung JIEFANG RIBAO aus Shanghai ist zu lesen:
"Saakaschwili hatte fälschlicherweise angenommen, er könne mit den USA und dem Westen im Rücken Moskau nach seiner Pfeife tanzen lassen. Doch er hat nicht die Notwendigkeit gesehen, die Vor- und Nachteile seiner Handlungen für die USA und den Westen sorgfältig abzuwägen. Zwar sind diese immer weiter in den strategischen Einflussbereich Russlands vorgedrungen, aber eine militärische Intervention war gar nicht in ihrem Sinne. Denn die passt überhaupt nicht zu der heutigen Zeit, in der man auf Ausgleich bedacht ist und versucht, Konflikte auf dem Verhandlungswege zu lösen", erläutert JIEFANG RIBAO aus Shanghai.

"Dieser Krieg war von beiden Seiten gewollt und provoziert", findet dagegen die tschechische Zeitung HOSPODARSKE NOVINY. Und weiter heißt es:
"Die Regierung in Tiflis geht dabei allerdings recht unerfahren vor. Ein Krieg gegen einen mächtigeren Nachbarn ist sicherlich nicht die geschickteste Art und Weise, die Integrität seines Territoriums zu verteidigen. Denn die Bemühungen, in Georgien eine Demokratie westlichen Typs zu errichten und den NATO-Beitritt zu erreichen, sind Russland ein Dorn im Auge", betont HOSPODARSKE NOVINY aus Prag.

Die niederländische Zeitung TROUW betont:
"Der Verlauf der Kämpfe zeigt nur, wie Recht die Balten, Polen, Georgier, Ukrainer und andere direkte Nachbarn Russlands haben. Nur die feste Integration im Westen, einschließlich der NATO-Mitgliedschaft, bietet Schutz gegen russische Einmischung."

Die österreichische Zeitung DER STANDARD überlegt:
"Wäre Georgien schon NATO-Mitglied, wie es vor allem die USAwollten, dann hätte die Allianz jetzt einen Verteidigungsfall.Amerikaner, Deutsche, Kanadier, Spanier - sie alle müssten den Georgiern zu Hilfe eilen und die anlaufende Invasion der Kaukasusrepublik zu beenden versuchen. Man kann es aber auch weiterdenken: Wäre Georgien Mitglied der Nato - kommenden Dezember wollten die Nato-Minister über den Beitrittsplan beraten -, wäre es gar nicht erst zu dem Krieg gekommen. Russland hätte nicht gewagt, Georgien anzugreifen, und Saakaschwili hätte es sich zweimal überlegt - mit freundlicher Nachhilfe des Westens -, ob er die anderen NATO-Staaten in einen Konflikt um eine winzige Separatistenprovinz ziehen darf", glaubt DER STANDARD aus Wien.

Die russische Zeitung KOMMERSANT stellt fest:
"Aus Moskau kommen bereits unzweideutige Warnungen. Sollte der Westen versuchen, Russland an der Durchführung seiner Mission in Georgien zu hindern, wird Moskau seine Positionen zu anderen, für den Westen wesentlich wichtigeren Fragen drastisch verschärfen. Sollte es dazu kommen, wird es ein schnelles Ende der Kriegshandlungen in Georgien nicht geben, und es droht zugleich eine ernsthafte Abkühlung der Ost-West- Beziehungen", notiert der KOMMERSANT aus Moskau.

Die in Sankt Petersburg erscheinende Zeitung DELOWOJ PETERBURG zieht dieses Fazit:
"Es bestehen keine Zweifel, dass unsere Militärmaschinerie Georgien zum Frieden zwingen wird. Denn die Kräfte sind ja ungleich. Doch unser Ziel werden wir trotzdem nicht erreichen. Denn wir haben uns ein wütendes kleines, aber stolzes Land zum Feind gemacht. Und im Gegensatz zu Tschetschenien haben wir viel weniger Möglichkeiten, auf diese Situation Einfluss zu nehmen. Wer auch immer diesen neuen Krieg angefangen hat, es zeigt sich noch einmal, dass wir unseren Standpunkt an die internationale Staatengemeinschaft nicht herantragen können. Denn in der ganzen Welt werden wir zurecht für Aggressoren gehalten", meint das russische Blatt DELOWOJ PETERBURG.

Die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG kritisiert:
"Von Verhältnismäßigkeit im Sinne der vielen Theoretiker und Völkerrechtler kann keine Rede sein. Der brutale Einsatz von Kampfbombern und Raketen gegen georgisches Territorium und Wohnhäuser von Zivilisten als Antwort auf - wahrscheinlich provozierte - Übergriffe gegen russische sogenannte Friedenssoldaten zeigt dies überdeutlich. Verhältnismäßig ist das Vorgehen in russischen Augen dagegen schon: eine bewusst überproportionale Reaktion, um dem Nachbarn eine Lektion zu erteilen, die dieser nicht vergisst. Und um dem Westen vorzuzeigen, dass seine Macht enge Grenzen hat", konstatiert die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG.

Die polnische Zeitung RZECZPOSPOLITA sieht es ganz ähnlich:
"Russland zeigt offen das Bedürfnis, seinen einstigen Großmacht-Status zurückzuerlangen. Die Leichtigkeit, mit der die russische Führung die Entscheidung über die Bombardierung georgischer Städte getroffen hat, muss schlimmste Erinnerungen wecken. Gerade deshalb entschlossen sich die baltischen Länder, die Ukraine und Aserbaidschan blitzartig zu diplomatischer Zusammenarbeit. Innerhalb der deutschen Regierung kann man eine beunruhigende Spaltung der Positionen zum georgisch-russischen Konflikt beobachten. Die deutlich pro-russische Deklaration des deutschen Außenministeriums und die wesentlich gemäßigteren Äußerungen aus dem Kanzleramt geben zu denken", unterstreicht RZECZPOSPOLITA aus Warschau.

Das SYDSVENSKA DAGBLADET aus Malmö ergänzt:
"Europa ist in der Georgien-Frage gespalten, und erst am Mittwoch wollen die EU-Außenminister formell über die Krise diskutieren. Mit Hinblick auf das bisherige Auftreten der Union gegenüber Russland besteht wenig Anlass zu Optimismus -- zu groß ist die Abhängigkeit von russischen Energielieferungen. Trotzdem muss die EU deutlich machen, dass sie das militärische Vorgehen Russlands gegen sein Nachbarland nicht akzeptiert, und ein mögliches Druckmittel wäre die Frage der Abschaffung des Visumzwangs für russische Bürger", schlägt die schwedische Zeitung SYDSVENSKA DAGBLADET vor.

Was heute in Georgien passiert, könnte sich morgen auch in Estland abspielen, fürchtet die dortige Zeitung POSTIMEES:
"Nicht nur Estland, sondern auch die anderen NATO-Neumitglieder müssen ihre Versprechen an Georgien halten, und die Regierungen müssen Russland klar machen, dass die Allianz auf keinen Fall unterschätzt werden darf. Estland sollte sich auf keinen Fall der Hoffnung hingeben, dass uns nicht dasselbe wiederfahren könnte wie Georgien. Russland hat bereits mehrfach deutlich gemacht, dass es seine Bürger überall schützen will, und in der letzten Zeit waren wieder häufig Klagen aus Moskau zu hören, in Estland würden Russen benachteiligt", mahnt POSTIMEES aus Tallinn.

Abschließend noch ein Blick in die italienische Zeitung CORRIERE DELLA SERA. Das Blatt schreibt nach dem Auftakt der Olympischen Wettkämpfe in Peking:
"Wenn wir der Meinung sind, dass das chinesische Regime so 'furchtbar' ist, dann müssten wir China generell boykottieren und nicht nur die Olympischen Spiele. Aber dafür scheint die Zeit nicht reif zu sein, wenn man die politischen Besuche auf höchster Ebene betrachtet, mit Hunderten von Unternehmern im Schlepptau. Die Partie mit Peking hat gerade erst begonnen. Und sie wird lang sein. Die wahre Herausforderung spielt sich nicht in einem futuristischen Stadion in der Hauptstadt ab. Diese Partie wird stattdessen nach den Regeln der internationalen Wirtschaft gespielt, nach sozialen und umweltgerechten Kriterien. Hier müssen wir versuchen, den Sieg zu erringen."

Alle Kommentare aus: Deutschlandfunk, 11. August 2008; http://www.dradio.de

Waffenstillstand als Kriegstaktik

Von Knut Mellenthin *

Der Krieg im Kaukasus ging auch am Montag weiter. Obwohl die georgische Führung am Sonntag einen Waffenstillstand verkündet hatte, setzten ihre Streitkräfte die Zerstörung der südossetischen Hauptstadt Tschinwali durch schwere Artillerie und angeblich auch durch Luftangriffe fort. Auch vor dem Beginn des Großangriffs in der Nacht zum Freitag voriger Woche hatte Georgien die Welt durch Ankündigung eines Waffenstillstands zu täuschen versucht. Präsident Michail Saakaschwili unterzeichnete am Montag mittag einen weiteren Waffenstillstandsvorschlag, der von der EU gemacht worden war, während aus Tschinwali und Umgebung anhaltender Beschuß gemeldet wurde.

Südöstlich der gleichfalls von Georgien abgefallenen Republik Abchasien sollen russische Friedenstruppen unterdessen die Kontrolle über die Stadt Zugdidi übernommen haben. Sie liegt in der sogenannten Sicherheitszone beiderseits der Grenze, die aufgrund des Waffenstillstandsabkommens von 1994 entmilitarisiert sein soll und von einer GUS-Friedenstruppe überwacht wird. Georgien hatte schon vor Monaten begonnen, dort Truppen zu stationieren. Die abchasischen Streitkräfte gaben die Einkesselung der georgischen Truppen bekannt, die seit Sommer 2006 vertragswidrig das Obere Kodori-Tal besetzt halten.

Rußlands Regierungschef Wladimir Putin hat am Montag die Entscheidung der USA kritisiert, die bisher im Irak stationierten 2000 georgischen Soldaten in ihr Heimatland auszufliegen. Es handelt sich um die kampfstärksten Einheiten der georgischen Armee, die jetzt an die Front geschickt werden sollen. Putin beschuldigte die USA, mit dem Transport dieser Truppen unmittelbar in den Krieg einzugreifen. Der georgischen Führung warf der frühere russische Präsident die Tötung von über 1000 südossetischen Zivilisten und die totale Zerstörung zahlreicher Dörfer als Kriegsverbrechen vor.

* Aus: junge Welt, 12. August 2008 (Kommentar)




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