Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Von der Rosenrevolution zur Dornen-Revolution

Georgien im Ausnahmezustand - Saakaschwili ordnet vorgezogene Wahlen an - Russland protestiert

Zu anhaltenden Krise in Georgien dokumentieren wir im Folgenden eine Reihe von Artikeln, Kommentaren und aktuellen Agenturmeldungen.



Georgien im Ausnahmezustand

Präsident Saakaschwili wähnt Russland hinter seinen Gegnern

Von Irina Wolkowa, Moskau *


Nach gewaltsamen Zusammenstößen zwischen oppositionellen Demonstranten und Sondereinheiten von Polizei und Armee hatte Präsident Michail Saakaschwili am Mittwoch-abend für 15 Tage den Ausnahmezustand über Georgien verhängt. Am Donnerstag setzte er überraschend für den 5. Januar 2008 vorgezogene Präsidentenwahlen an.

Das Parlamentsgebäude und die zentralen Plätze der georgischen Hauptstadt Tbilissi waren am Donnerstag von Militärs abgeriegelt. Schulen und Universitäten sollen bis zum Wochenende geschlossen bleiben. Fünf Tage lang hatte die Opposition vor dem Parlament demonstriert. Zunächst hatte sie nur Parlamentswahlen im Frühjahr 2008 (statt, wie von Saakaschwili verordnet, im Herbst), die Neubesetzung der Wahlkommission, eine Änderung des Wahlrechts und die Freilassung politischer Gefangener gefordert. Weil Saakaschwili die Forderungen ablehnte, verlangten seine Gegner seit dem vergangenen Wochenende auch den sofortigen Rücktritt des Präsidenten. Das Protestmeeting, an dem sich zeitweilig bis zu 100 000 Menschen beteiligten, werde erst beendet, wenn alle Forderungen erfüllt seien, drohte einer der Oppositionsführer, Georgi Chaindrawa. Der war während der »Revolution der Rosen« im November 2003 einer der engsten Mitkämpfer Saakaschwilis und später einer seiner Minister, inzwischen aber gehört er zu den erbitterten Gegnern des Präsidenten und wirft ihm Verrat an der Demokratie und die »Allüren eines Diktators« vor.

Als die Proteste in den sechsten Tag gingen, lagen Saakaschwilis Nerven offenbar blank: Uniformierte gingen am Mittwochmorgen mit Wasserwerfern, Tränengas, Gummigeschossen und Schlagstöcken gegen die Demonstranten vor und lösten die Protestversammlung auf. Über 300 Menschen ließen sich in den Krankenhäusern behandeln. Die Opposition behauptet, die Polizei habe kein Tränen-, sondern eine Art Kampfgas eingesetzt. Die Regierung bestreitet das.

Am späteren Abend stürmten Sicherheitskräfte den oppositionellen Fernsehsender »Imedi-TV«. Er gehört dem Milliardär Badri Patarkazischwili und dem australischen Medienmogul Rupert Murdoch. Patarkazischwili, der vor den Demonstranten erklärt hatte, er würde sein gesamtes Vermögen einsetzen, um das »faschistoide Regime« Saakaschwilis zu stürzen, werden beste Beziehungen zu russischen Oligarchen nachgesagt, sowohl zu kremltreuen als auch zu Putin-Feinden wie Boris Beresowski. Vor allem aus Patarkazischwilis Russland-Verbindungen konstruiert Saakaschwili den Vorwurf, die Drahtzieher der Unruhen säßen in Moskau. Georgiens Botschafter in Russland wurde bereits zu Konsultationen nach Tbilissi beordert, fast zeitgleich wurden drei russische Diplomaten zu unerwünschten Personen erklärt und ausgewiesen.

Seither gehen in Moskau der Wogen der Empörung hoch. Bei den Vorwürfen Georgiens gegen Russland, wetterte Duma-Präsident Boris Gryslow in einem Interview bei Radio »Echo Moskwy«, schwingen Washingtons Geheimdienste den Taktstock. Moskaus Oberbürgermeister Juri Lushkow fordert sogar, Georgiens abtrünnige Schwarzmeer-Region Abchasien unverzüglich als unabhängig anzuerkennen. Sicherheitskräfte haben ihre Posten vor der georgischen Botschaft in Moskau inzwischen deutlich verstärkt.

Dass Moskau die Unruhen angezettelt hat, ist in der Tat wenig wahrscheinlich. Teile der Opposition sind, was das Verhältnis zu Russland betrifft, weitaus radikaler als Saakaschwili. Natürlich verfolgt Moskau die Vorgänge in Georgien höchst interessiert. Einem geschwächten Saakaschwili ließen sich womöglich mehr Kompromisse im Streit um die Zukunft Abchasiens und Südossetiens abringen. Überdies würden Saakaschwilis Paten in Washington bei ihren Bemühungen, sich auf Dauer als dominierende Macht im Südkaukasus einzurichten, erheblich zurückgeworfen.

Mit seiner Entscheidung für vorgezogene Präsidentschaftswahlen am 5. Januar überraschte Saakaschwili am Donnerstagabend (8. November) Freund und Feind. »Das ist ein sehr interessanter Schritt«, sagte der Vorsitzende der Republikanischen Partei, Iwlian Chaindrawa, und wertete ihn als Zugeständnis an die Opposition. Ebenfalls am 5. Januar soll eine Volksabstimmung über den Termin der Parlamentswahl stattfinden.

* Aus: Neues Deutschland, 9. November 2007

Analysen und Kommentare

Die Dornen-Revolution

In Georgien ist der Kompass, der zur Demokratie führt, jetzt unauffindbar. Dass die Opposition ihn gefunden hat, mag man auch nicht glauben.

VON KARL GROBE


Den demokratischen Kompass hat Georgiens Präsident Michail Saakaschwili in den Polizeikasernen deponiert. Am Mittwoch hat der Mann, der mit so großen Freiheits-Vorschusslorbeeren nach der Rosenrevolution ins Amt kam, eine Volksbewegung zusammenschlagen und mit Reizgas ausräuchern lassen. Zur Erinnerung: Die Rosenrevolution Ende 2003 war eine durchaus gewaltfreie Volksbewegung, und der damalige Staatschef Eduard Schewardnadse verließ das Amt ohne Widerstand.

Seit Mittwoch (7. November) ist der Wegweiser zur Demokratie und zu den Zielen der friedlichen Revolution unauffindbar. Es sei denn, die Opposition hätte ihn gefunden. Das ist angesichts ihrer erlauchten Vertreter zweifelhaft. Gewiss, einige haben während der Rosenrevolution Statur gewonnen. Sie haben sich später von Saakaschwili losgesagt oder sind gefeuert worden, aber nicht in erster Linie aus Sorge um die bürgerlichen Freiheiten, die ihr früherer Verbündeter und heutiger Alleinherr mit System beseitigt hat.

An diesen Aktionen war Irakli Okruaschwili nicht unbeteiligt, der "Mann fürs Grobe" als Generalstaatsanwalt, Innen- und bis 2006 Verteidigungsminister. Ein Hardliner, besonders gegen Russland, der sich bedenkenlos unkontrollierbarer Reptilienfonds bediente, um die Armee Nato-fähig zu machen. Und nach einem Schweigejahr unversehens der knallharte Ankläger, der Saakaschwili alles Mögliche bis zur Mordanstiftung vorwarf. Jetzt wendet er sich aus dem Exil wieder ans Volk - über den Sender Imedi, dem eben dieses Volk mehr glaubt als der Konkurrenz. Der Sender war die Stimme des Aufstands, bis Saakaschwili jetzt die Studios stürmen und ihn mitten im Wort verstummen ließ. Der Sender gehört dem reichsten Mann des Landes, Badri Patarkazischwili, der sein Geld dubiosen Russland-Geschäften im Bunde mit Boris Beresowski und Roman Abramowitsch verdankt und in Russland seit 2001 mit Haftbefehl bedroht ist,unter anderem wegen angeblicher Unterschlagung einiger Dollarmillionen. Einem unbestechlichen Schweizer Bundesamt gilt er als Verbindungsmann zwischen kriminellen und legalen "Strukturen". Der Philanthrop Patarkazischwili hilft der Revolution aus Geschäftsinteresse, wie schon 2003.

Die Illusion sollte man nicht hegen, dass unter solcher Führung und einer frustrierten Bevölkerung mit ihrem früheren Idol die reine Demokratie auf unbeflecktem Wege ins Leben gerufen wird. Die Interessen mancher (nicht aller) der Protagonisten richten sich auf Macht, Einfluss und folglich Einkommen. Das Volk ist enttäuscht, weil es bei dem bisher herrschenden Clan gerade dieses Verhalten entdeckte und es ihm nicht mehr nachsieht. Die Zweckallianz zwischen Opportunisten und aus Enttäuschung Opponierenden wird halten, bis sie gewonnen hat. Keinen Tag länger.

Saakaschwili hat Kommunen und Regionen entmachtet. Seine Deregulierungspolitik hat bewirkt, dass die Reichen reicher wurden und die Armen verelenden. Er hat die Justiz so gegängelt, dass sie mit Rechtspflege wenig gemein hat. Grund genug zum Aufruhr. Den Grund beseitigen auch die jetzt vorgezogenen Wahlen nicht. Saakaschwili hat das Wahlrecht so umgebogen, dass die runde Hälfte der Stimmen seiner Partei fast alle regionalen Mandate schenkte. Dieses Wahlrecht gilt weiter.

Aus: Frankfurter Rundschau, 9. November 2007


Vorbild Georgien

Von Detlef D. Pries

Seit Michail Saakaschwili und seine Anhänger im November 2003 das Parlament mit Rosen in den Händen gestürmt und Georgiens damaligen Präsidenten Eduard Schewardnadse zum Rücktritt gezwungen hatten, galt »Rosen-Mischa« als Vorbild aller »bunten« und also demokratischen Revolutionäre. Zwar sprach sich bald herum, dass es in Georgien auch unter Saakaschwili nicht allzu demokratisch zuging, aber »solange wir nur antirussisch sind, verzeiht man uns (im Westen) alles«. So jedenfalls interpretierte der konservative Oppositionspolitiker Kacha Kukava jüngst die Gedanken des Präsidenten. Geradezu reflexartig ortet Saakaschwili die Urheber der Proteste gegen seine autoritäre Herrschaft und die klaffenden Unterschiede zwischen Arm und Reich denn auch in Moskau. Als hätte das Oppositionsbündnis nicht gerade die prowestliche Außenpolitik einschließlich des Rückzugs aus der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) zum Prinzip erhoben. Noch bevor Saakaschwilis Gegner zu Demonstrationen aufriefen, waren sie nach Washington gepilgert, um dort um Vermittlung zu bitten. Die Antwort: Das sei eine innergeorgische Angelegenheit. Und Saakaschwili sah sich ermutigt, diese Angelegenheit zu regeln: Ausschaltung politischer Gegner, gewaltsame Auflösung friedlicher Demonstrationen, Unterdrückung oppositioneller Medien und Verhängung des Ausnahmezustands. Den hatte auch Schewardnadse vor vier Jahren ausgerufen ...

Aus: Neues Deutschland, 9. November 2007


Dornen-Revolution

Ausnahmezustand in Georgien

Von Werner Pirker


Orangen verfaulen, Rosen verblühen – Revolutionen, die in deren Zeichen stattfinden, ist die Kurzlebigkeit ins Programm geschrieben. In Georgien hat das Regime, das aus der »Rosenrevolution« hervorgegangen war, den Ausnahmezustand verhängt, um der Kräfte Herr zu werden, die es einst gerufen hatte. Die Nutznießer des friedlichen Umsturzes von 2003 lassen keinen weiteren friedlichen Umsturz mehr zu. Von den Rosen blieben nur die Dornen.

Die Massenbewegung vor vier Jahren war von den Hoffnungen auf die Überwindung der kaukasischen Mixtur aus postsowjetischen und halbfeudalen Verhältnissen sowie auf eine Annäherung an das westliche Demokratie- und Wohlstandsmodell getragen. Sie ergab sich aus den Wertvorstellungen der intellektuellen Zwischenschichten, die sich mit den elementaren Bedürfnissen der Masse der Bevölkerung nach einer Verbesserung ihrer Lage verbanden. Entscheidend für die gewaltfreie Erlangung der bunten Vorherrschaft war nicht die allgemeine Empörung, sondern die Neuorientierung der Eliten auf einen bedingungslos prowestlichen, neoliberalen Kurs. Damit war das weitere Schicksal der Rosenrevolution vorgegeben.

Das Programm, das dem Umsturz von 2003 zugrunde lag, war nie Gegenstand der öffentlichen Erörterung. Es war ein Programm, das die soziale Degradierung der Mehrheit zum Inhalt hatte. Die Rücksichtslosigkeit seiner Durchsetzung läßt sich an einer Einschätzung der Weltbank erkennen, die Georgien zum Reformland Nummer eins kürte.

Der soziale Rückschritt, der der »demokratischen Wende« folgte, läßt nicht nur die Demokratie, wie sie von oben offenbar gemeint war, in einem zweifelhaften Licht erscheinen. Um den gegen die Mehrheit gerichteten Kurs durchziehen zu können, muß die Demokratie, wie sie die Volksbewegung gemeint hat, zurückgedrängt werden. Die für das kommende Frühjahr vorgesehenen Parlamentswahlen wurden von der Partei um Präsident Michail Saakaschwili auf den Herbst verschoben. Weil Wahlen, wie man das auch hierzulande immer öfters hört, eine lästige Reformblockade darstellen.

Ob zur Abwehr des Terrors wie in Pakistan oder zur Sicherung des Reformweges: Die Ausrufung des Ausnahmezustandes in US-abhängigen Ländern scheint zum »demokratischen« Gewohnheitsrecht geworden zu sein. Aus der bunten Vorherrschaft könnte eine Diktatur der schwarzen Obristen werden. Und in der Gewalt könnt enden, was gewaltfrei begonnen hat. Damals gingen die sozialen Anliegen der Bevölkerung in einer abstrakten Demokratie-Euphorie und Russenfeindlichkeit unter. Heute wird die Demokratie als soziales und das Soziale als demokratisches Anliegen formuliert. Damals ging das friedlich über die Bühne. Heute rüsten die Führer der friedlichen Revolution von damals zum Gewaltschlag gegen eine friedliche Bewegung, die sich in der Tradition der »Rosenrevolution« wähnt, von der Macht aber eines prorussischen Staatsstreiches bezichtigt wird.

Aus: junge Welt, 9. November 2007


Georgien: Regimekritiker Okruaschwili dementiert Beziehungen der Opposition mit Moskau

TIFLIS, 09. November (RIA Novosti). Georgiens Ex-Verteidigungsminister und Regimekritiker Irakli Okruaschwili hat Behauptungen der Führung in Tiflis als falsch zurückgewiesen, dass hinter den Massenprotesten der Opposition Russland stehe.
Das berichtet die Nachrichtenagentur Nowosti-Grusia am Freitag unter Berufung auf ein Interview mit Okruaschwili, das im georgischen Fernsehen ausgestrahlt wurde. "Ich will kein Anwalt Russlands sein, aber hinter den Handlungen der georgischen Opposition stehen keine russischen Kräfte", sagte Okruaschwili.


Russland sieht schwere Krise in Beziehungen mit Georgien

MOSKAU, 09. November (RIA Novosti). Die jüngsten Anschuldigungen der georgischen Führung gegen Russland haben eine schwere Krise in den Beziehungen beider Staaten ausgelöst. Das sagte der russische Vize-Außenminister Grigori Karassin am Freitag in Moskau bei einem Treffen mit dem stellvertretenden georgischen Außenminister, Nikolos Waschakidse.
Zuvor hatte Georgiens Präsident Michail Saakaschwili den russischen Geheimdiensten vorgeworfen, hinter den Massenprotesten der Opposition in Tiflis zu stehen. Es wurden drei russische Diplomaten aus Georgien ausgewiesen.
Russland wies die Anschuldigungen als "Provokation" zurück und erklärte drei Mitarbeiter der georgischen Botschaft in Moskau zu Persona non grata.




Zurück zur Georgien-Seite

Zurück zur Homepage