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Abchasien im Unabhängigkeitskampf gegen Dschingis Khan bis Saakaschwili

Durch die Zuspitzung des Konflikts um Abchasien verprellt Georgien seine eigenen Freunde in der NATO

Von Pjotr Romanow *

Am Montagabend (28. April) "zitierte" das georgische Fernsehen folgende Erklärung des Nato-Sprechers James Appathurai: "Die Nato-Länder denken, dass die russischen Friedenskräfte aus der Konfliktzone abziehen müssen. In dieser Phase können wir nicht sagen, dass sie durch die Nato-Truppen abgelöst werden, doch erklären wir, dass der Abzug dieser 'Blauhelme' notwendig ist."

Überträgt man diese Worte aus dem Diplomatischen ins Allgemeinverständliche, so bedeuten sie, dass die Nato einem Einmarsch Georgiens nach Abchasien grünes Licht gibt. Wie sonst kann der Vorschlag verstanden werden, aus der Konfliktzone die russischen Friedenstruppen abzuziehen, durch niemanden abzulösen und so einen offenen Korridor für die georgischen Panzer zu schaffen?

Dass Tiflis diesen Wunsch hat, ist verständlich, doch die Nato will eine so offenkundige Verschärfung gegenüber Moskau nicht. Auch sonst werden die Nato-Soldaten erfahrungsgemäß nur sehr ungern dorthin geschickt, wo sich Kugeln verirren können.

Ergebnis: Georgiens Präsident Michail Saakaschwili hat sich eine öffentliche und sehr unangenehme Kopfwäsche zugezogen.

Vom Standpunkt der Nato hat Tiflis eine "schreckliche Entstellung" der Information zugelassen. "Ich möchte betonen, dass diese Mitteilung völlig falsch ist. Ich habe nichts dergleichen gesagt, auch im Nato-Rat wurde nichts dergleichen gesagt", sagte Appathurai bereits am Dienstagmorgen (29. April).

Aber wer schert sich um den Nato-Rat? Um eines Krieges willen lügt Georgien auch sonst. Es sei zum Beispiel daran erinnert, wie Saakaschwili während des Tiflis-Besuchs von George W. Bush, der von Georgiens Geschichte wohl nicht mehr weiß als von den Zulus oder Quechuas, ihm seine eigene, völlig entstellte Version der gewaltsamen Versklavung Georgiens durch die Russen servierte. Dabei ist es ein historischer und dokumentarisch belegter Fakt, dass im Gegenteil Tiflis mehrmals Moskau bat, die Georgier unter die Fittiche zu nehmen und vor dem unausweichlichen Absturz zu retten. Georgien sei eine winzige christliche Insel inmitten eines moslemischen Meeres, das nach dem Fall von Konstantinopel überall ringsum toste.

Die Verantwortung war groß, auch auf Jahrhunderte hinaus, deshalb wies Zar Pawel I. die Bitte des georgischen Herrschers Georgi XII. von 1798 zurück. Pawels Sohn, Zar Alexander I., wollte es ihm gleichtun, aber auf eine Zusage bestand der Staatsrat, der das Argument ins Feld führte, das rechtgläubige Russland sei verpflichtet, seinen Glaubensbrüdern zu helfen.

Die gleiche Verlogenheit zeichnet die Darstellung des Wesens des georgisch-abchasischen Konfliktes aus. Auf jedem noch so kleinen Stück des vom Menschen erschlossenen Festlands überdeckt die Spur eines Menschen tausende Spuren seiner Vorgänger: der moderne Turnschuh den Kommisstiefel, der Damenschuh die Kanonenstiefel eines Okkupanten, die Spur eines römischen Legionärs die eines Barfüßigen usw. So dass der seit Ewigkeiten ausgestoßene Schrei: "Das ist mein Land!", wenn man ernsthaft spricht, immer erst bewiesen werden muss.

Die Abchasen hatten, anders als viele andere Völker, Glück: Sie sind in der Geschichte des Landes, in dem sie leben, wirklich sehr tief verwurzelt. Abchasien war schon im grauen Altertum unabhängig und den Chronisten sehr wohl bekannt als ein an Kolchis (antikes georgisches Königreich) grenzendes Land.

Diese Unabhängigkeit wurde im Laufe von vielen Jahrhunderten mehrmals unterbrochen. Abchasien war zum Beispiel von den Griechen besetzt, es gab dort griechische Kolonien. Dennoch erhebt Athen keinen Anspruch auf das heutige Abchasien. Es wurde von den Mongolen beherrscht, aber auch diese erheben keinen Anspruch. Eine Zeitlang standen die Abchasen unter der Herrschaft von Mithridates. Die Abchasen sind geblieben, Mithridates ist gegangen. Sie gehörten zum Alten Rom, aber Berlusconi beabsichtigt überhaupt nicht, sich die Rüstung eines Legionärs anzulegen. Sie gehörten auch den Türken, die Geschichte ist eben lang, doch auch die Türken wollen nichts von Abchasien.

Viele Male gehörte Abchasien auch zu Russland, mehrmals ging es in seine Obhut freiwillig über. Einmal, im Jahr 1811, wurde es Russland nach dem Friedensvertrag von Bukarest zugeteilt. Aber auch die Russen streben nicht danach, mit Gewalt Abchasien an sich anzuschließen.

Abchasiens Unabhängigkeit ist älter als die georgische, dennoch herrschten auch die Georgier in Abchasien für kurze Zeit, ohne allerdings die Liebe der Abchasen erobert zu haben. Die neueste Geschichte ist noch unangenehmer. Nachdem unter Stalin die Griechen und Armenier aus Abchasien ausgesiedelt worden waren, wurden dorthin über 100 000 Georgier gewaltsam hingebracht. So löste der Georgier Stalin die Nationalfrage: die einen vertrieb er, den anderen schenkte er fremde Häuser. Übrigens wurden den Georgiern zur gleichen Zeit auch die von den Balkaren besiedelten Gebiete sowie die Gegend um den Berg Elbrus übergeben. Ein Teil der Georgier wurde nach Tschetschenien umgesiedelt. Von dort flohen sie später in Eintracht.

Als Ausgangspunkt der heutigen Probleme zwischen Abchasien und Georgien kann der Amtsantritt des ersten georgischen Präsidenten Swiad Gamsachurdija betrachtet werden, eines Intellektuellen, Demokraten und Liberalen nach außen und eines extremen, faschistoid gefärbten Nationalisten im Lande selbst. Gamsachurdija kam aus dem großen sowjetischen Imperium und versuchte sofort, innerhalb Georgiens sein eigenes nationalistisches Mini-Imperium zu schaffen. Er stieß jedoch auf Widerstand. Nach Abchasien konnten nicht einmal die Panzer vorrücken. Die Politik seiner Nachfolger ist lediglich die Fortsetzung desselben Kurses, allerdings unter neuen Bedingungen, mit neuen Gönnern und einer neuen demagogischen Propaganda.

Meiner Ansicht nach ist der jetzige Streit um Abchasien grundsätzlich gegenstandslos. Schon der Nationalist Gamsachurdija gab den Abchasen durch seine Handlungen alle notwendigen Beweise für ihre Unabhängigkeit.

Abchasien verlor seine Unabhängigkeit mehrmals, aber ebenso oft eroberte es sie zurück. Es hat also Übung, zudem sind die Abchasen geduldig. Wenn sie es vermochten, Mithridates, Dschingis Khan und das Alte Rom zu überleben, werden sie auch Saakaschwili überstehen.

Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.

* Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 30. April 2008


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