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Gaza-Hilfsflotte: "Schusswunden in den Rücken oder den Hinterkopf"

Autopsiebericht über die neun getöteten Türken veröffentlicht / Streit um "Auschwitz-Äußerung" / Israel weiter hart in der Sache

Von Karin Leukefeld *

Aus Protest gegen die tödliche israelische Militäroperation gegen sieben Schiffe eines internationalen Hilfskonvois der Free Gaza Bewegung werden schwedische Hafenarbeiter vom 15.-24. Juni israelische Schiffe und israelische Waren nicht löschen. Die Gewerkschaft der Hafenarbeiter hatte den Hilfskonvoi nach Gaza unterstützt, der vor einer Woche in internationalen Gewässern von israelischen Elitekommandos gestürmt worden war. Dessen siebtes Schiff, die "Rachel Corrie", war am Wochenende ebenfalls von der israelischen Armee (IDF) gekapert worden. [Siehe hierzu: Hilfsfrachter "Rachel Corrie" von israelischen Streitkräften gestürmt.] In Sichtweite der Küste von Gaza enterte ein IDF-Kommando den Frachter, der 1200 Tonnen Zement, Rollstühle, Medikamente und Schulmaterial nach Gaza bringen wollte. Trotz mehrfacher Aufforderung hatten sich die 19 Passagiere und Besatzungsmitglieder geweigert, von ihrem Kurs abzuweichen, konnten sich aber gegen die israelischen Kriegsschiffe nicht durchsetzen. Israel hat aus "Sicherheitsgründen" seit drei Jahren eine Rundum-Blockade gegen den Gazastreifen verhängt, palästinensische Fischer werden selbst in ihren nationalen Hoheitsgewässern angegriffen.

Die ersten 7 Passagiere der "Rachel Corrie", ein Kubaner und sechs Malaysier, wurden am Sonntagmorgen (6. Juni) über die Allenby-Brücke nach Jordanien deportiert. Mit ihnen kam auch ein 28-jähriger indonesischer Journalist frei, der bei der Erstürmung des Hilfskonvois am vergangenen Montag durch einen Schuss in den Oberkörper verletzt worden war. Die anderen Passagiere, unter ihnen die irische Friedensnobelpreisträgerin Mairead MaGuire und der frühere UN-Koordinator im Irak, Dennis Halliday, sollten am Montag deportiert werden.

Zehntausende protestierten erneut am Wochenende gegen die Blockade des Gazastreifens. Während in Deutschland die Menschen in Duisburg, Nürnberg und Berlin auf die Straßen gingen, waren auch in Istanbul, Paris und London Zehntausende unterwegs. In Paris riefen die Demonstranten «wir sind alle Palästinenser» und «wir sind alle Kinder von Gaza». In London kündigte George Galloway für die Initiative Viva Palästina an, im September erneut Hilfskonvois per Land und über das Meer nach Gaza zu schicken. Die Initiative Europäische Juden für einen gerechten Frieden in Nahost plant, im Juli ein Boot mit Hilfsgütern nach Gaza zu schicken. Aus dem Libanon soll noch im Juni ein weiteres Schiff mit Hilfsgütern nach Gaza aufbrechen. In Tel Aviv protestierten Anhänger der israelischen Friedensbewegung gegen die Militärintervention gegen die Hilfsschiffe und gegen die Netanjahu-Regierung, sie forderten ein Ende der Besatzung. Dabei kam es zu Auseinandersetzungen mit Regierungsanhängern, die die Friedensaktivisten beleidigten und ihnen Schläge androhten.

Der Autopsiebericht eines forensischen Instituts in Istanbul hat derweil enthüllt, dass die Leichen der 9 Personen, die bei der israelischen Kommandoaktion am vergangenen Montag getötet worden waren, insgesamt 30 Schusswunden aufwiesen. Alle sind türkische Staatsbürger. Fünf Personen seien demnach durch Kopfschüsse aus geringer Entfernung getötet worden. Einige Leichen wiesen bis zu fünf Schusswunden auf, etliche waren in den Rücken oder den Hinterkopf getroffen worden. Nur ein Mann war durch einen Schuss in die Stirn aus größerer Entfernung getötet worden. 8 der Ermordeten hinterlassen neben ihren Ehefrauen zusammen 28 Kinder, das neunte Opfer war ein 19-jähriger Student mit amerikanisch-türkischer Staatsangehörigkeit. Alle Patronen seien 9 mm-Munition gewesen, lediglich eine Patrone hätten sie nie zuvor gesehen, so Haluk Ince von dem Forensischen Institut: "Es war wie ein Container mit vielen verschiedenen Patronen."

Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan erwägt libanesischen Medien zufolge offenbar persönlich dem Gazastreifen einen Besuch abzustatten, um gegen die Blockade zu protestieren. Damit die nächsten Schiffe sicher nach Gaza gelangen, könne gar die türkische Marine zum Einsatz kommen. Die innenpolitische Forderung an Erdogan, die militärischen Beziehungen zu Israel einzustellen, wird allerdings vom türkischen Militär nicht geteilt.

Die türkische Hilfsorganisation IHH (Insani Yardim Vakfi, Stiftung für Hilfe für Menschen), die auch beratendes Mitglied des Sozial-Ökonomischen Rates der Vereinten Nationen ist, hat auf die diffamierende Medienkampagne reagiert, in der ihre Arbeit als "Unterstützung für Terroristen" dargestellt wird. Man wolle die Öffentlichkeit "mit akkuraten Fakten" über IHH versorgen, die seit 15 Jahren Menschen in Not helfe. Ein IHH-Mitarbeiter war bei dem Sturm auf die Mavi Marmara getötet worden. Die Schiffe "hatten ihre Segel weder gegen Israel noch gegen ein anderes Land gesetzt", heißt es in der Erklärung. "Sie setzten Segel für die Menschen von Gaza." (www.ihh.org.tr)

Die israelische Armee hat mittlerweile eingestanden, dass sie Mitschnitte des Funkverkehrs mit der Free Gaza-Flottille und dem Leitschiff Mavi Marmara gefälscht hat. Bei dem von IDF veröffentlichten Funk-Mitschnitt, in dem Personen des Hilfskonvois auf die Aufforderung zu stoppen angeblich antworten: "Geht zurück nach Auschwitz" und "Denkt an den 11.September" sei eine gekürzte Fassung des gesamten Mitschnitts, heißt es in einer IDF-Erklärung. Von welchem Schiff die angebliche "Auschwitz-Äußerung" gemacht worden sei, ließe sich nicht klären. Der ebenfalls veröffentlichte IDF-Video-Mitschnitt enthielt diese Drohungen allerdings nicht. Denis Healey, Kapitän des Free Gaza Bootes Challenger 1 erklärte, die Kommunikation sei von allen Kapitänen der Flotte zu hören gewesen und jeder der spreche sei identifizierbar. Während er das Boot gesteuert habe, habe er diese Äußerungen nicht gehört. (www.freegaza.org)

Die US-Rockband Pixies hat ihr für diese Woche geplantes Konzert in Tel Aviv abgesagt. Ein offizieller Grund wurde nicht genannt, aus Kreisen der Organisatoren verlautete jedoch, die Absage stehe in Zusammenhang mit der tödlichen Militäroperation gegen die Free Gaza Schiffe.

* Eine gekürzte Fassung dieses Beitrags erschien unter dem Titel"Blockade gegen Israel" in der "jungen Welt" vom 7. Juni 2010


Schmeichler Netanjahu

Von Roland Etzel **

Ein deutscher Bundeskanzler äußerte einst, nachdem ihn die öffentliche Meinung deutlich abgestraft hatte, in für ihn ungewohnter Demut: »Wir haben verstanden.« Ähnlich, scheinbar einsichtig, zeigte sich am Wochenende sein israelischer Amtskollege Netanjahu. Diesmal ließ er das Gaza-Hilfsschiff nicht im Morgengrauen von um sich schießenden Elitetruppen entern, sondern am hellen Tag und ohne Waffeneinsatz. Hatte Netanjahu die Besatzung der »Mavi Marmara« vorige Woche noch als »Hassaktivisten« bezeichnet, so schmeichelte er den Leuten von der »Rachel Corrie« gestern, sie seien wahre »Friedensaktivisten«.

Ja, Netanjahu hat verstanden. Er hat zur Kenntnis nehmen müssen, dass selbst die engsten Partner mit seiner Rambo-Politik nicht in Verbindung gebracht werden wollen. Es ist selbst dem Weißen Haus und Downing Street Nr. 10 einfach eine politische Unverfrorenheit zu viel gewesen, obwohl sie vermutlich sogar akzeptieren, dass Israels Regierung in der Sache selbst, also der Blockade, keinen Millimeter weichen will.

Netanjahu verweigert weiter eine neutrale Untersuchung des Schiffsüberfalls, will auch künftig selbstherrlich entscheiden, was Gazas Bevölkerung an zivilen Waren bekommt und nicht zuletzt wer aus dem Ausland sich von den Zuständen im größten Freiluftgefängnis der Erde ein Bild machen darf. Aber diese Willkür wird künftig schwerer durchzusetzen sein.

* Aus: Neues Deutschland, 7. Juni 2010 (Kommentar)


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