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Hilfsfrachter "Rachel Corrie" von israelischen Streitkräften gestürmt

Besatzung leistete keinen Widerstand - UN-Hochkommisssarin Pillay: Abriegelung des Gazastreifens "unrechtmäßig"

"Neues Schiff nimmt Kurs auf Gaza" titelte am 5. Juni noch das "Neue Deutschland" (der Artikel befindet sich weiter unten). Und am selben Tag war es dann schon wieder vorbei. Die Israelische Staatsmacht ließ es sich auch in diesem Fall nicht nehmen, das Solidaritätsschiff zu stoppen und mit bewaffneter Gewalt in einen israelischen Hafen umzuleiten. Denn Israel ist felsenfest davon überzeugt, dass es ein Recht darauf hat, die Blockade gegenüber dem Gazastreifen aufrecht zu erhalten und jeden Widerstand dagegen gewaltsam zu brechen. Am vergangenen Montag (31. Mai) führte das zum Tod von möglicherweise 16 bis 19 Zivilpersonen - über die (end)gültige Zahl der Getöteten gibt es immer noch keine Klarheit; die israelischen Behörden sprechen von neun Toten. Die Militäraktion führte auch zu einer weltweiten Welle der Empörung über diesen brutalen Akt der Staatspiraterie gegen einen friedlichen Hilfskonvoi.

Um die Mittagszeit des 5. Juni kam dann folgende Meldung per e-mail bei uns an:
"Die israelische Besatzungsarmee hat das irische Schiff "Rachel Corrie" auf dem Weg zum Gazastreifen gestürmt. Israelische Besatzungssoldaten hätten ohne Widerstand die Kontrolle über den Frachter übernommen, sagte eine Sprecherin der israelischen Besatzung."

Rachel Corrie

Der Name des Solidaritätsschiffes erinnert an die US-amerikanerische Friedensaktivistin Rachel Corrie. Sie war als Mitglied der Internationalen Solidaritätsbewegung (International Solidarity Movement – ISM) bei einer israelischen Militäraktion im Gazastreifen am 16. März getötet worden. Wie Augenzeugen damals berichteten, stellte sich die 23-jährige Rachel Corrie einem israelischen Bulldozer entgegen, der ein Haus im palästinensischen Flüchtlingslager Rafah einreißen sollte. Sie wurde überfahren und erlag später im Krankenhaus Nadschar ihren Verletzungen. Die israelische Armee sprach von einem "Unfall". Corrie ist das erste Mitglied der Internationalen Solidaritätsgruppen im Westjordanland und Gazastreifen, das bei einem israelischen Einsatz ums Leben kam. Die Gruppen versuchen, als "menschliche Schutzschilde" Zerstörungen in palästinensischen Gebieten zu verhindern. Israel wollte damit Vergeltung für palästinensische Selbstmordangriffe üben. Ein Mitglied der Gruppe, Greg Schnabel aus Chicago, sagte, der Bulldozer habe die Studentin aus dem US-Staat Washington nicht beachtet und sei einmal komplett über sie gefahren. Dann sei er zurückgestoßen und habe Corrie noch einmal überrollt.



Agenturenberichten zufolge spielte sich die "Übernahme" des Schiffes so ab:
"Unsere Soldaten werden bei Ihnen an Bord gehen, wenn Sie sich weigern abzudrehen", hatte Armeesprecherin Avital Leibovitsch am Morgen in einer Funkbotschaft an die Besatzung der "Rachel Corrie" gesagt. Die Armee sei "bereit, unsere Waffen zu benutzen, um uns zu verteidigen, wenn die Notwendigkeit zu spüren ist". Zuvor hatten mehrere Schiffe der israelischen Marine die "Rachel Corrie" abgefangen. Die Besatzung der "Rachel Corrie" leistete keinen Widerstand. An Bord sind unter anderem der ehemalige stellvertretende UN-Generalsekretär Denis Halliday aus Irland und die nordirische Friedensnobelpreisträgerin Mairead Maguire.

Israels Außenminister Avigdor Lieberman hatte immer wieder angekündigt, sein Land werde jeden Versuch unterbinden, die Blockade zu durchbrechen. Israels Regierungssprecher Mark Regev warf den Aktivisten vor, politische und keine humanitären Ziele zu verfolgen. Sie hätten am späten Freitagabend (4. Juni) Vorschläge der israelischen und der irischen Regierung ignoriert, die Güter an Bord des Schiffes den Bewohnern des Gazastreifens auf andere Art und Weise zukommen zu lassen. Daher sei klar, dass sie ein "politisches Statement" abgeben wollten, um das Hamas-Regime zu unterstützen, sagte Regev.

Auch die US-Regierung hatte die Schiffsbesatzung zuvor zur Kursänderung aufgerufen, um eine erneute Eskalation zu vermeiden. Zugleich erklärte ein Präsidialamtssprecher jedoch, die gegenwärtigen Bedingungen der Gaza-Blockade seien nicht tragbar und müssten geändert werden. Die US-Regierung berate mit Israel, der Palästinenser-Regierung und internationalen Partnern über Möglichkeiten, mehr Hilfsgüter in den Gazastreifen zu liefern. UN-Hochkommisssarin Pillay bezeichnete dagegen die Abriegelung des Küstengebiets als unrechtmäßig.

Das Autopsie-Ergebnis der neun türkischen Aktivisten, die am 31. Mai bei der israelischen Erstürmung der Gaza-Hilfsflotte getötet wurden, könnte den Druck auf die Regierung in Jerusalem erhöhen. Bis auf eine Leiche wiesen laut Süddeutscher Zeitung (online) alle Opfer mehrere Wunden von Schüssen aus kurzer Entfernung auf, zitierte die britische Zeitung Guardian aus dem kriminaltechnischen Untersuchungsbericht aus der Türkei. Die israelische Regierung sieht darin aber keinen Widerspruch zu ihrer Darstellung, dass die Soldaten nur aus Notwehr geschossen hätten.

P. Strutynski


Neues Schiff nimmt Kurs auf Gaza

Frachter "Rachel Corrie" mit 20 Aktivisten

Nur wenige Tage nach dem blutigen israelischen Angriff auf einen Gaza-Hilfskonvoi zeichnet sich im Mittelmeer eine neue Konfrontation ab.

Der unter irischer Flagge fahrende Frachter »Rachel Corrie« werde an diesem Samstag versuchen, die Seeblockade zu durchbrechen und Hilfsgüter direkt nach Gaza bringen, kündigte eine Sprecherin an. Der Frachter mit der nordirischen Friedensnobelpreisträgerin Mairead Maguire (66) sowie rund 20 weiteren Aktivisten an Bord befand sich am Freitag rund 250 Kilometer vor der Küste Israels in internationalen Gewässern. Die Aktivisten an Bord wollten nach eigenen Angaben unter keinen Umständen das Angebot Israels annehmen und die Hilfsgüter im Hafen von Aschdod löschen.

Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat angekündigt, dass Israel eine Verletzung der Seeblockade vor dem Gaza-Streifen nicht tolerieren werde. Bei der Erstürmung der Gaza-Solidaritätsflotte hatten israelische Soldaten am Montag neun Menschen getötet, acht Türken und einen US-Bürger türkischer Herkunft.

Die türkische Regierung will aus Protest gegen den Angriff ihre Kontakte mit Israel nun begrenzen. »Wir meinen es ernst. Es wird keine neuen Kooperationen geben. Die Kontakte werden reduziert«, sagte Vizeregierungschef Bülent Arinc am Freitag in Ankara.

Türkische Ermittler sammeln unterdessen Beweise für Strafverfahren gegen die Verantwortlichen des israelischen Angriffs. Die Staatsanwaltschaft in Ankara habe Aussagen von verletzten Aktivisten angefordert, berichteten türkische Medien am Freitag. Außerdem gebe es medizinische Untersuchungen, die Hinweise auf große Brutalität ergeben hätten.

Die türkischen Ermittler gehen dem Verdacht auf Entführung, Totschlag und Freiheitsberaubung nach. Auch der israelische Ministerpräsident Netanjahu, Verteidigungsminister Ehud Barak und Generalstabschef Gabi Aschkenasi könnten für den Angriff juristisch verantwortlich gemacht werden, schrieb die Zeitung »Radikal« am Freitag.

Der in der Türkei populäre islamische Prediger Fethullah Gülen übte dagegen Kritik an den Organisatoren des Hilfskonvois für den Gaza-Streifen. Dem »Wall Street Journal« vom Freitag sagte Gülen, Hilfslieferungen ohne Zustimmung Israels seien »eine Herausforderung der Autorität, die keine Früchte tragen wird«.

* Aus: Neues Deutschland, 5. Juni 2010


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