Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"So sieht keine Erfolgsstory eines fünfjährigen Militäreinsatzes aus" (Norman Paech)

Der Bundestag debattiert über die Verlängerung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan - Die Reden von Steinmeier, Hoyer, von Klaeden, Paech, Trittin, Klose, Homburger, Ruck und Knoche. Die Liste der NEIN-Stimmen

Am Donnerstag, den 28. September 2006, hat der Bundestag der Fortsetzung des Afghanistan-Einsatzes zugestimmt. Mit Ja haben 492 Abgeordnete, mit Nein 71 Abgeordnete gestimmt, 9 enthielten sich ihrer Stimme. Die Bundesregierung hatte dem Parlament einen Antrag vorgelegt, in dem sie die Zustimmung des Bundestages für eine Fortsetzung bis zum 13. Oktober 2007 beantragt.
Der Gegenantrag der Linksfraktion wurde abgelehnt.
An anderer Stelle haben wir eine Erklärung aus der Friedensbewegung dokumentiert: Friedensbewegung fordert: Bundeswehreinsatz beenden!
Im Folgenden dokumentieren wir Ausschnitte aus der Debatte im Bundestag vom 28. September 2006. Auf Zwischenrufe und Beifallskundgebungen haben wir verzichtet. Gesprochen haben u.a.:

Weitere Redner/innen, die wir aus Platzgründen nicht mehr dokumentieren (und die im übrigen alle die Regierungsposition vertraten) waren: Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) (CDU/CSU), Rainer Arnold (SPD).
Ganz unten dokumentieren wir von der namentlichen Abstimmung die Namen der Abgeordneten, die mit NEIN gestimmt oder sich der Stimme enthalten haben.



Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des Auswärtigen:

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn Sie einen Blick in die heutigen Tageszeitungen werfen, dann sehen Sie, dass es viele mal wieder ganz genau gewusst haben: Afghanistan ist verloren. Das ist ein Teil des Tenors in einem Teil der deutschen Tageszeitungen. Die einen sagen es, weil sie schon immer wussten, dass wir in der Region nichts verloren haben; die anderen sagen es, weil die internationale Staatengemeinschaft mal wieder von Anfang an alles falsch gemacht hat; die Dritten sagen es, weil wir zu viel Militär in Afghanistan haben, und die Vierten sagen es, weil wir zu wenig Militär in Afghanistan haben. Aus meiner Sicht ist das der entscheidende Satz: Afghanistan ist nur dann verloren, wenn wir es aufgeben.

Wahr ist, dass wir alle uns wünschten, nach fünf Jahren Aufbauarbeit weiter zu sein, als wir es sind. Wahr ist auch, dass es Rückschläge gegeben hat und weiterhin geben wird, in einzelnen Regionen sogar Rückwärtsentwicklungen; ich werde gleich darauf zurückkommen. Wahr ist aber auch, dass eine junge Generation, die bis vor fünf Jahren chancen- und bildungslos war, ihre ganze Hoffnung auf uns setzt, nicht allein auf die Deutschen, sondern auf die internationale Staatengemeinschaft. Die Zukunft dieser jungen Generation hängt davon ab, ob wir mit unserem begonnenen Engagement verantwortungsvoll umgehen. Wahr ist am Ende auch, dass es jenseits des Humanitären Gründe dafür gab, dass wir den gefahrvollen Weg nach Afghanistan Seite an Seite mit den anderen Europäern und den Amerikanern angetreten haben.

Es scheint schon ein wenig in Vergessenheit geraten zu sein, dass Afghanistan in den Jahren der Menschen verachtenden Talibanherrschaft zu einer Ausbildungszentrale für den weltweiten Terrorismus geworden war. Die Gefahren, die daraus entstanden sind, waren keineswegs nur virtuell. Wir haben erst vor 14 Tagen - Sie werden sich erinnern - der Opfer des 11. September gedacht. Sie wissen, dass die Blutspur, die aus den afghanischen Ausbildungslagern herausführte, nicht in New York endete, sondern Europa nicht unberührt gelassen hat. Die 22 Jahre Krieg, Bürgerkrieg und Talibanherrschaft haben aber nicht nur eine Trümmerwüste in den Dörfern und Städten hinterlassen; fast schlimmer, weil nur mit großer Ausdauer und viel Geduld wieder herstellbar, ist die Zerstörung, die diese 22 Jahre im Alltagsleben, in den Köpfen und Herzen der Menschen angerichtet haben.

Wie sieht denn die gegenwärtige Situation aus? Viele von Ihnen werden inzwischen in Afghanistan gewesen sein. Zwei Generationen von jungen, qualifizierten Arbeitnehmern, die ausgebildet hätten werden können und müssen, fehlen; sie werden dringend gebraucht. Das Schlimmste an der Zerstörung in den Herzen und Köpfen, von der ich gesprochen habe, ist, dass es lange dauern wird, bis das Vertrauen in die Autorität von staatlichen, von politischen Institutionen - vor allen Dingen in die Polizei - wieder hergestellt sein wird. Auch deshalb werbe ich hier dafür, dass wir den Aufbau, den wir mit der Petersbergkonferenz in Bonn begonnen haben, mit Geduld, aber entschlossen fortsetzen. Das gilt nicht nur für uns, sondern für die ganze internationale Staatengemeinschaft.

Bei aller Sorge über die Entwicklung der Sicherheitslage, vor allen Dingen im Süden des Landes, die natürlich auch ich teile, dürfen wir die Erfolge nicht übersehen. Viele andere werden gleich noch etwas dazu sagen. Ich sage nur: 7 Millionen Mädchen und Jungen, die bis vor fünf Jahren nicht in die Schule gehen durften, haben heute die Möglichkeit, Unterricht zu genießen. Diese Entwicklung geht aber - das ist zuzugeben - sicherlich nicht weit genug. In vielen Teilen des Landes spüren die Menschen noch nichts von unserem Engagement der letzten fünf Jahre. Natürlich bin ich mit vielen von Ihnen darin einig, dass die wachsende Drogenwirtschaft, der zunehmende Drogenanbau und die damit einhergehende Korruption die Stabilisierungserfolge gefährden. Da, wo diese Stabilisierungserfolge ausbleiben, nutzen die Taliban die Chance, um sich wieder als angebliche Beschützer der Bevölkerung aufzuspielen. Sie setzen darauf, dass durch ihre gewaltsamen Aktionen die internationale Staatengemeinschaft in ihrem Engagement ermüdet wird. Wir dürfen uns nicht zurückziehen; das ist meine feste Überzeugung. Wir müssen unsere Anstrengungen fortsetzen und, wenn möglich, verstärken, und zwar auf der Grundlage des "Afghanistan Compact" und entsprechend den Leitlinien des Afghanistanpapiers, über das gerade in den Gremien des Deutschen Bundestages diskutiert wird. Bezogen darauf sind mir vier Punkte wichtig, die ich ganz kurz nennen will: Erstens. Der weitere politische Aufbau muss unter Berücksichtigung der soziokulturellen Gegebenheiten des Landes stattfinden.

Zweitens. Wir wollen und müssen unsere Anstrengungen beim Aufbau und bei der Ausbildung der Polizei - das ist das zentrale Handlungsfeld, für das wir Verantwortung tragen - aufrechterhalten und, wie ich meine, soweit es in unserer Macht steht, sogar verstärken.

Wir sollten uns, wenn wir über unsere erweiterten Möglichkeiten reden, dafür einsetzen - das werde ich tun -, innerhalb der Europäischen Union Partner zu gewinnen, die uns dabei unterstützen.

Drittens bin ich fest davon überzeugt, dass wir einen weiteren Schwerpunkt im Bereich der Bildung setzen sollten. Ich habe es vorhin gesagt: Bürgerkrieg und Talibanherrschaft haben nicht nur die physische, sondern vor allen Dingen auch die intellektuelle Infrastruktur Afghanistans zerstört. Deshalb bin ich froh darüber, dass so viele Schulen wieder aufgebaut und eröffnet werden konnten. Aber das reicht nicht. Es müssen noch viel mehr werden. Auch in diesem Bereich müssen wir uns noch stärker engagieren.

Vierter und letzter Punkt. Es gibt keinen Königsweg zur Lösung des Drogenproblems; das wissen wir alle. Ich verspreche Ihnen aber, dass die Bundesregierung das ihr Mögliche tun wird, um gemeinsam mit der internationalen Staatengemeinschaft künftig gebündelter und damit auch effektiver zu handeln. Das gilt sowohl für die Bekämpfung des Drogenanbaus als auch für die Verbesserung der regionalen Zusammenarbeit und den Aufbau einer gut ausgestatteten afghanischen Grenzpolizei.

Mit Blick auf das, was Deutschland vor allen Dingen im Norden Afghanistans geleistet hat, können wir trotz aller Veränderungen, die ich nicht zu beschönigen versuche, stolz sein. Gerade haben wir auf der NATO-Außenministerkonferenz in New York darüber diskutiert, wie wir das gute Beispiel der zivil-militärischen Zusammenarbeit im Norden Afghanistans auf andere Bereiche übertragen können. Ich finde, das ist eine Auszeichnung für das Engagement, das unsere Soldatinnen und Soldaten wie auch die vielen zivilen Helfer dort leisten.

Ich hoffe auf eine breite Zustimmung zum Antrag der Bundesregierung auf Verlängerung des Mandates um weitere zwölf Monate. Das wäre nicht nur ein starkes Zeichen für die Soldatinnen und Soldaten, sondern auch für die vielen zivilen Helfer in Afghanistan, die dort in einem immer noch sehr schwierigen Umfeld arbeiten.

Ich danke Ihnen.

Dr. Werner Hoyer (FDP):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die FDP-Bundestagsfraktion stimmt dem Antrag der Bundesregierung zu. Wir hielten es angesichts der Tatarenmeldungen, die uns gegenwärtig ereilen, schlicht für unverantwortlich, einfach zum ungeordneten Rückzug zu blasen und die Menschen in Afghanistan, für die auch wir große Verantwortung übernommen haben, jetzt im Stich zu lassen und einfach wegzugehen. Gleichwohl muss ich sagen, dass wir dieses Ja mit großem Bauchgrimmen aussprechen, weil es unseres Erachtens sehr viele Dinge gibt, die uns außerordentlich besorgt machen.

Ich finde übrigens, dass der Kollege Nachtwei seine Überlegungen in einen sehr klugen Entschließungsantrag zu diesem Thema gegossen hat. Ich kann ihm nicht in allen Details zustimmen. Deshalb werden wir uns bei der Abstimmung enthalten. Ich glaube aber, dass in dem Antrag die richtigen Fragen benannt werden. Im Übrigen rate ich dringend dazu, diese Debatte im Bündnis zu führen und nicht auf nationaler Ebene. Hier darf es keine nationalen Alleingänge geben.

Die Diskussion, die wir im Bündnis führen, muss auf den Punkt gebracht werden. Mir gehen die NATO-Parlamentarier-Treffen, an denen ich häufig teilnehme, auf den Keks, da man sich nur wechselseitig versichert, was für eine tolle Arbeit in Afghanistan geleistet wird. Ich bestreite überhaupt nicht, dass die Angehörigen der Bundeswehr, der Polizei und der Entwicklungsdienste hervorragende Arbeit leisten. Dennoch sollten wir einmal eine Bestandsaufnahme machen und uns fragen, wo wir eigentlich stehen sowohl im Kampf gegen den Terrorismus als auch in unserem Bemühen um den Aufbau Afghanistans.

Unser Grundansinnen war, einen substanziellen Beitrag zum Aufbau des Landes zu leisten und dafür einen hoffentlich nur vorübergehend erforderlichen militärischen Schutz anzubieten. Mittlerweile müssen wir leider konzedieren, dass das Bild des sympathisch, von der Bevölkerung mit offenen Armen empfangenen deutschen Soldaten nicht mehr ganz zutreffend ist. Die Tatsache, dass wir ungeheuer viel in den Schutz unserer Soldaten investieren müssen, macht deutlich, dass sich die Situation erheblich verändert hat. Der ISAF-Einsatz hat sich auch im Norden des Landes zu einem veritablen Kampfeinsatz entwickelt.

- Lassen Sie uns einmal die Realität zur Kenntnis nehmen! Natürlich haben die Ereignisse im Norden des Landes eine andere Qualität als das, was im Rahmen von ISAF im Süden und im Rahmen von OEF, Operation Enduring Freedom, insgesamt geschieht. Aber wir dürfen den militärisch-kämpferischen Teil dieses Einsatzes unserer Soldaten nicht kleinreden; denn auch in dieser Hinsicht wird großartige Arbeit geleistet.

Man muss sich aber fragen, ob nicht viele der Anfangserfolge schon weggebröckelt sind bzw. wegzubröckeln drohen. Wir haben riesige Erfolge erzielt. Herr Minister, Sie haben auf die Schülerinnenzahlen hingewiesen; das ist, wie ich finde, in der Tat der größte Erfolg. Aber diese Zahlen sind schon wieder rückläufig. Ist es eigentlich die richtige Strategie, zunächst mit großem Aufwand - er ist übrigens größer, als ihn manche Fachleute für erforderlich halten - Schulen zu bauen, dann aber nicht dafür zu sorgen, dass auch Lehrer finanziert werden, die unterrichten? Hier gibt es in der Tat erhebliche Lücken.

Auch dürfen wir, was in der Vergangenheit geschehen ist, nicht vergessen. Wir müssen uns die Verbindungslinien, die es gegeben hat und die es nach wie vor gibt, vor Augen führen, die Verbindung zwischen den Taliban und der al-Qaida und die Verbindung zu Pakistan. Wenn Pakistan ein Doppelspiel betreibt und die Taliban vielleicht längst wieder als die zukünftigen Herrscher in Afghanistan betrachtet, dann wird der militärische Kampf gegen die Taliban meiner Auffassung nach kaum zu gewinnen sein. In diesem Zusammenhang ist mir eine Formulierung eines hohen Militärs unvergesslich, der neulich sagte: Wir werden nicht notwendigerweise verlieren. - Das ist mir als Begründung eines militärischen Einsatzes, bei dem wir das Leben von Soldaten riskieren, zu wenig.

Wenn das, was ich zu Pakistan gesagt habe, auch nur ansatzweise zutrifft, dann wird das Nation-Building in Afghanistan sehr schwierig. An diesem Punkt sollten wir uns etwas mehr Demut auferlegen. Bisweilen habe ich das Gefühl, dass Nation-Building bei uns wie Blaupausen avantgardistischer Architekturbüros wahrgenommen wird. Ein bisschen mehr Rücksichtnahme auf kulturelle Gegebenheiten und Identitäten würde uns, wie ich glaube, gut tun. Deutschland leistet hier keine schlechte Arbeit. Aber auch diese Debatte müssen wir im Bündnis führen.

Nation-Building wird in Afghanistan nicht dauerhaft sein, wenn die staatlichen Strukturen nicht funktionieren. Das Überpfropfen von formalen Wahlprozessen als Etablierung der Demokratie zu definieren, ist falsch. Ohne ein Mindestmaß an demokratischer Kultur und demokratischer, insbesondere rechtsstaatlicher Absicherung funktioniert Demokratie nicht, ebenso wie keine Marktwirtschaft ohne eine Kartellbehörde und ein Katasteramt, das die Eigentumsrechte sichert, funktionieren kann.

Schließlich komme ich auf einen Schwachpunkt zu sprechen, den auch Sie, Herr Minister, erwähnt haben. Ich bekenne: Auch ich habe keine Blaupause für die Lösung des Drogenproblems. Aber wir können zumindest für uns reklamieren, dass wir das von vornherein gesagt haben. In der Debatte, die wir im Jahre 2003 zu diesem Thema geführt haben, habe ich hier gesagt: Durch die Ausweitung des Einsatzes auf Kunduz und später auf Faizabad schicken wir unsere Soldaten in eine "Mission Impossible", weil sie vor blühenden Mohnfeldern stehen müssen, ohne etwas dagegen unternehmen zu können.

Das Hauptproblem sind aber nicht die Drogenanbauer, die sich in einer ziemlich aussichtslosen Situation befinden. Deswegen ist die Fixierung auf sie nicht ganz richtig. Außerdem hilft man ihnen nicht, indem man ihnen als Nahrungshilfe die Produktionsüberschüsse der Industrieländer schickt, sodass jedes Incentive für eigene Agrarproduktion wegfällt.

Das Hauptproblem sind natürlich die Drogenhändler und diejenigen, die das Zeug weiterverarbeiten. Dort entstehen gigantische Gewinne. Wir wissen, dass mittlerweile mehr als ein Drittel des Sozialprodukts Afghanistans daher rührt. Mindestens 90 Prozent von diesem Drittel landen bei diesen Händlern des Todes. Sie sind mittlerweile in der Lage - nicht nur durch ihre Beziehungen zu Polizeibehörden, Verwaltungen und zu Regierungskreisen, sondern auch dadurch, dass sie die wirtschaftlichen Assets dieses Landes in den Griff bekommen -, die Geschicke dieses Landes weitgehend zu bestimmen. Ich anerkenne die Bemühungen des Bundesaußenministers in seinen Gesprächen mit Präsident Karzai auf diesem Gebiet. Wenn es diesem nicht gelingt, hier einigermaßen durchzugreifen, stehen wir eines Tages möglicherweise vor einem Desaster. Lassen Sie uns deshalb in den nächsten Monaten, unabhängig von einer konkreten Entscheidung über ein Mandat, in aller Ruhe und sehr kritisch, auch selbstkritisch, darüber diskutieren und dann im nächsten Jahr neu entscheiden.

Noch ein letztes Wort zur Operation Enduring Freedom. Ich stelle fest, Herr Bundesminister: Die zuständigen Mitglieder des Auswärtigen Ausschusses bzw. deren Obleute sind, seitdem Sie im Amt sind, noch kein einziges Mal über die deutsche Beteiligung an "Enduring Freedom" vertraulich unterrichtet worden. Ich lege auf die Vertraulichkeit sehr viel Wert; ich glaube, wir müssen mit dem, was wir mitgeteilt bekommen, sehr vorsichtig umgehen. Aber wir müssen als Parlamentarier hier Verantwortung tragen. Dazu benötigen wir ein Mindestmaß an Information.

Eckart von Klaeden (CDU/CSU):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Was von den Vorrednern bereits ausgeführt worden ist, ist richtig. Es hat in den letzten Wochen und Monaten Besorgnis erregende Mitteilungen über die Entwicklung in Afghanistan, die Sicherheitslage, die Steigerung des Drogenanbaus und das Wiedererstarken der Taliban, gegeben. Aber gleichzeitig ist richtig, dass wir auf große Erfolge in der Entwicklung Afghanistans zurückschauen können. Eine Sache macht das besonders deutlich: Die übergroße Mehrheit der afghanischen, muslimischen Bevölkerung begrüßt den Einsatz der NATO, begrüßt das Engagement der internationalen Gemeinschaft, vor allem der Deutschen und unserer Bundeswehr.

Wir müssen uns die Frage stellen, welche Konsequenzen wir aus der Entwicklung der letzten Wochen und Monate ziehen. Ich meine, wir müssen alles tun, um ein Scheitern der Mission der internationalen Gemeinschaft, die auf der Grundlage des internationalen Rechts erfolgt, zu verhindern. Denn welche Konsequenzen hätte ein solches Scheitern? Die Folge wäre eine verheerende Kettenreaktion. Die Mehrheit der afghanischen Bevölkerung, die auf unserer Seite steht, wäre von uns enttäuscht, wenn wir sie im Stich lassen würden, denn sie würde Opfer eines neuen Talibanregimes. Wir würden also zurückfallen in eine Situation, wie sie vor dem 11. September 2001 bestanden hat; möglicherweise wäre sie dann noch schlimmer. Wir müssten damit rechnen, dass sich die Region weiter destabilisierte, dass extremistische Islamisten auch in anderen Ländern Erfolg hätten. Wir müssten damit rechnen, dass so etwas nicht nur auf die Region begrenzt bliebe. Wir müssten weltweit mit einem Erstarken des islamistischen Extremismus rechnen. Das hätte letztlich auch für die Sicherheit in unserem eigenen Land Konsequenzen. Schließlich würde die Glaubwürdigkeit der NATO und der internationalen Organisationen in eine schwere Krise geraten.

Ich will es ganz deutlich sagen: Diejenigen, die sich jetzt für den Abzug der Bundeswehr einsetzen, hätten ein solches Scheitern und die geschilderten Konsequenzen zu verantworten.

Jeder, der heute für den Abzug der Bundeswehr eintritt, muss sich die Frage stellen, ob er sein Verhalten auch zum Maßstab für das Verhalten des gesamten Hauses machen könnte. Ich will niemandem, der heute gegen die Mandatsverlängerung stimmt, unterstellen, dass er das nur deswegen tut, weil er mit der Mehrheit des Hauses für den Einsatz rechnet. Jeder, der dagegen stimmt, muss sich daher klar machen, dass er das herbeiführen würde, was er vorgibt, verhindern zu wollen. Sich heute aus Afghanistan zurückzuziehen, hätte die Qualität eines Selbstmordes aus Angst vor dem Tode. Deswegen ist die Fortsetzung unseres Engagements Voraussetzung für das Gelingen. Das ist aber nicht die einzige Voraussetzung, sondern wir müssen auch über die Konsequenzen der Besorgnis erregenden Entwicklung der letzten Wochen und Monate nachdenken. Dazu werde ich gleich noch etwas ausführen.

Zunächst einmal müssen wir uns doch klar machen, warum wir überhaupt in Afghanistan sind und warum die Bundeswehr am Hindukusch steht. Der wesentliche Grund sind die Gefahren, die vom transnationalen Terrorismus ausgehen und die nach wie vor nicht gebannt sind. Vor zwei Wochen haben wir der Anschläge des 11. September auf das World Trade Center in New York und auch der Opfer, die es im Pentagon und in der Nähe von Pittsburgh gegeben hat, gedacht. "9/11" ist zur Chiffre für den bisherigen Höhepunkt des internationalen Terrorismus geworden. Seitdem hat es eine Serie von Anschlägen auf Einrichtungen der Vereinigten Staaten, auf Einrichtungen anderer Staaten und vor allem auch auf unbeteiligte Zivilisten in Indien, Indonesien, Pakistan, Russland und an vielen Orten der arabischen Welt gegeben, zum Beispiel in Tunesien, wo auch deutsche Touristen den Anschlägen zum Opfer gefallen sind.

Der Ausgangspunkt für diese Anschläge ist al-Qaida und der Ausgangspunkt von al-Qaida liegt wiederum in Afghanistan. Aus Afghanistan haben sich die Metastasen dieses Krebsgeschwürs auf andere Länder ausgebreitet. Das Talibanregime wollte den Schutz für al-Qaida nicht aufgeben und es will heute wieder ein Regime in Afghanistan errichten, das Rückzugs-, Schutz- und Übungsraum für al-Qaida werden kann.

Erst die amerikanische Militärintervention hat das Talibanregime gestürzt und die Ausbildungslager von al-Qaida zerstört. Dieses Regime fiel zwar wie ein Kartenhaus zusammen, aber wir wissen, dass sich die Taliban und mit ihnen al-Qaida in das afghanisch-pakistanische Grenzgebiet zurückgezogen haben. Sie haben einen Großteil ihrer Führungsstrukturen erhalten - mit Mullah Omar an der Spitze.

Aus diesen Rückzugsgebieten haben die Taliban inzwischen ihre Kampagne gestartet, die zu den heftigen Gefechten der letzten Wochen und Monaten geführt hat. Ihre Ziele sind klar, nämlich die Vertreibung der westlichen Soldaten und der Soldaten der internationalen Gemeinschaft sowie der Entwicklungshelfer, die Rückkehr nach Kabul, der Sturz von Präsident Karzai und die Wiedererrichtung eines islamistischen Regimes. Es wäre die Rückkehr in das Jahr 2001 und in die Zeit davor. Fünf Jahre Aufbauarbeit und das Vertrauen der afghanischen Bevölkerung stehen auf dem Spiel.

Mit dem Sturz des Talibanregimes ging 2001 eine Periode von Krieg und Bürgerkrieg zu Ende, die 27 Jahre gedauert hat. Am Beginn dieser Tragödie stand ein kommunistischer Putsch, der später den Einmarsch der Roten Armee nach sich zog. 27 Jahre Krieg und Bürgerkrieg sowie das Talibanregime haben das zuvor schon arme Entwicklungsland in jeder Hinsicht ruiniert. Für einen Vergleich mit Deutschland ist die Zerstörung Deutschlands und Europas nach dem Zweiten Weltkrieg nicht angemessen. Wir müssen den Vergleich mit dem Zustand Europas nach dem Dreißigjährigen Krieg im Jahre 1648 ziehen.

Gemessen an dieser Ausgangslage waren der Optimismus und die Aufbruchstimmung der internationalen Gemeinschaft in den letzten fünf Jahren möglicherweise zu groß. Deswegen ist es wichtig, dass wir unsere Ziele jetzt der Realität anpassen und unsere Anstrengungen erheblich erhöhen, damit wir diese Ziele auch erreichen können.

Ich bin der Bundesregierung und auch - das will ich hier deutlich sagen - unserem Botschafter in Kabul für ihren Einsatz sowie für die realistische und nüchterne Einschätzung der Lage außerordentlich dankbar.

Das ist als eine Ehrenerklärung für unseren Botschafter Hans-Ulrich Seidt zu verstehen; denn ich finde es in einem hohen Maße unfair, unkollegial und unehrlich, Zitate aus einer geheimen Sitzung aus dem Zusammenhang zu reißen, zu entstellen und damit in der Öffentlichkeit einen Eindruck entstehen zu lassen, der weder von dem Botschafter noch von der Bundesregierung noch von den sie tragenden Fraktionen noch von anderen in dem Ausschuss vermittelt worden ist. Man kann die sinnentstellten Zitate aus einer geheimen Sitzung nicht zurechtrücken - das liegt in der Natur einer geheimen Sitzung -, weil man sich sonst selber strafbar machen würde. Deswegen will ich das hier in dieser Deutlichkeit, aber bedauerlicherweise auch in dieser Allgemeinheit so sagen.

Auf unsere großen Erfolge - etwa sieben Millionen Kinder, davon 40 Prozent Mädchen, können heute wieder zur Schule gehen - ist schon hingewiesen worden. Es ist kein Zufall, dass die Taliban vor allem diesen Fortschritt bekämpfen, dass sie Anschläge auf Schulen verüben, dass sie Lehrer umbringen und dass in diesen Tagen die Frauenbeauftragte der südafghanischen Provinz Kandahar ermordet worden ist. Wir sollten auch an diese Menschen denken, die sich unter Einsatz ihres Lebens engagieren. Wir sollten uns klar machen, dass sie uns vertrauen und dass wir sie nicht im Stich lassen dürfen. Ich will hier ganz ausdrücklich unseren Soldatinnen und Soldaten, aber auch den vielen zivilen Helferinnen und Helfern danken, die den Namen unseres Landes nach Afghanistan tragen und unter Einsatz ihres Lebens großartige Arbeit leisten.

Es gibt eine lange und beeindruckende Verbindung Deutschlands zu Afghanistan. Es ist kein Zufall, dass fast die Hälfte der Mitglieder des afghanischen Kabinetts fließend deutsch spricht. Es wird von uns ein besonderer Einsatz erwartet und es wird uns ein besonderes Vertrauen entgegengebracht. Diesem besonderen Vertrauen sollten wir in Zusammenarbeit mit unseren Verbündeten weiterhin gerecht werden.

Was sind die Konsequenzen aus der Besorgnis erregenden Entwicklung? Erstens. Wir müssen in Zusammenarbeit mit unseren Bündnispartnern unser Konzept der Entwicklungshilfe überarbeiten. Ich glaube, dass man zu früh von der Nothilfe auf strukturelle Hilfe umgestiegen ist. Wir müssen uns Gedanken machen, wie das, was in den letzten Wochen und Monaten an Strukturen zerstört worden ist, wieder aufgebaut werden kann. Wir brauchen vor allem eine bessere Koordination der Entwicklungshilfe, die dort von unterschiedlichen Partnern geleistet wird.

Zweitens. Wir brauchen größere Anstrengungen beim Aufbau der Institutionen in diesem Land. Bisher sieht das Konzept so aus, dass unterschiedliche Nationen unterschiedliche Verantwortung übernommen haben: die Briten für die Bekämpfung des Drogenanbaus, wir für den Aufbau der Polizei, die Amerikaner für den Aufbau der Armee, andere für den Aufbau der Infrastruktur und den Aufbau eines Rechtsstaates, für eine korruptionsfreie Administration und für die Entwaffnung der Milizen.

Im Augenblick beginnen die einzelnen Nationen, sich gegenseitig die Verantwortung für die schwierige Entwicklung in den letzten Wochen und Monaten zuzuschieben. Es ist völlig richtig, dass man bei der Bekämpfung des Drogenanbaus nur dann Erfolg haben kann, wenn es gleichzeitig eine gut ausgebildete Polizei gibt. Eine gut ausgebildete Polizei ist auf eine vernünftige Bezahlung und auf eine korruptionsfreie Verwaltung oder eine Verwaltung, die die Korruption in ihren eigenen Reihen zumindest bekämpft, angewiesen. Diese Verwaltung wiederum ist auf ein Sicherheitsumfeld angewiesen, das voraussetzt, dass Milizen entwaffnet worden sind und dass der Aufbau der afghanischen Armee voranschreitet.

Was will ich damit sagen? Das eine hängt mit dem anderen zusammen. Jeder muss sich klar machen, dass der eigene Beitrag und die eigene Aufgabe für das Gelingen des Projekts Afghanistan essenziell sind, dass deswegen alle zusammenarbeiten und ihre Anstrengungen vermehren müssen, ohne mit dem Finger auf den anderen zu weisen.

Drittens. Wir müssen dazu übergehen, auch die Nachbarstaaten Afghanistans stärker einzubeziehen. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir zu einem institutionalisierten Konsultationsprozess kommen können, für den das Nahostquartett oder andere Kontaktgruppen ein Beispiel sein können. Wir müssen dafür sorgen, dass zum Beispiel der Dialog zwischen Afghanistan und Pakistan nicht allein dem amerikanischen Präsidenten überlassen wird.

Wir müssen dafür sorgen, dass die zentralasiatischen Staaten, die ein enormes Interesse an dem Auftrag, den wir in Afghanistan erfüllen, haben und auch einen enormen Beitrag dazu leisten, stärker mit einbezogen werden. Wir müssen auch versuchen, Länder wie Indien und selbst China stärker in diesen Prozess mit einzubeziehen. Es geht auch darum, die Demokratisierung Afghanistans im Rahmen eines institutionellen Prozesses zu begleiten und dabei deutlich zu machen, dass es nicht nur um die Stabilisierung Afghanistans, sondern der gesamten Region geht und dass wir an der Zusammenarbeit mit denjenigen interessiert sind, die bereit sind, in der Region Verantwortung zu übernehmen und eigene Beiträge zu leisten.

Es geht also um drei Aspekte: erstens die Verbesserung und Überprüfung der internationalen Entwicklungshilfe, zweitens die bessere Koordination der jeweiligen Schlüsselaufgaben, die die einzelnen Nationen übernommen haben, und drittens die Institutionalisierung eines Konsolidierungsprozesses. Niemand hat den Stein der Weisen gefunden, was die weitere Entwicklung in Afghanistan angeht. Aber heute schon durch eine Ablehnung unseres weiteren Engagements dafür zu sorgen, dass Afghanistan scheitert, wäre verantwortungslos und letztlich auch mit verheerenden Konsequenzen für die Sicherheit unseres eigenen Landes verbunden. Deswegen brauchen wir die Fortsetzung und Verbesserung unseres Engagements und vor allem auch eine sorgfältige und aufmerksame Begleitung der Arbeit der Bundesregierung durch den Deutschen Bundestag.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

Dr. Norman Paech (DIE LINKE):

Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die heutigen Zeitungsmeldungen stützen Ihre Position überhaupt nicht, Herr Außenminister. Es gibt aber schon seit Wochen und Monaten täglich Meldungen über Anschläge, Selbstmordattentate, Überfälle und Kampfhandlungen. Es ist erstaunlich, dass Sie das zwar offensichtlich mit Sorge erfüllt, aber nicht in Ihrer Entscheidung irritiert, den Einsatz der Bundeswehr immer wieder zu verlängern.

Wir hören von der Bundesregierung seit Monaten nur, dass die Situation in Afghanistan nicht ruhig und nicht stabil ist. Sie preist den Aufbau demokratischer Institutionen, gibt aber fairerweise zu, dass diese - kaum entstanden - schon von Korruption durchzogen sind.

In Ihrer Antwort auf die Anfrage der Linksfraktion versuchen Sie, uns mit einem - ich zitiere - "verbesserten Klima der Sicherheit" zu beruhigen. Das ist - mit Verlaub - eine besonders einfältige Form der Schönrednerei.

Denn aus den Medien erfahren wir täglich, dass sich die Verluste bei den britischen und amerikanischen Truppen drastisch erhöht haben und die Taliban die Kampfformen aus dem Irak übernommen haben und allmählich in den Norden tragen. Insofern ist es nur zu verständlich, dass der Verteidigungsminister immer mehr gepanzerte Fahrzeuge vom Typ Dingo anfordert und der Truppe die Weisung erteilt, diese Fahrzeuge und die Lager nicht mehr zu verlassen.

So sieht keine Erfolgsstory eines fünfjährigen Militäreinsatzes aus, der zu einer Verlängerung drängt.

Die Bundeswehr klagt selbst über eine dramatisch sinkende Zustimmung der afghanischen Bevölkerung zu ihrem Einsatz. Herr von Klaeden, ich weiß nicht, woher Sie die anders lautende Information haben. Der Botschafter hat sie gestern in der geheimen Sitzung nicht bestätigt.

Die anfängliche Sympathie für die ISAF ist in weit gehende Ablehnung und - insbesondere im Süden - in Hass umgeschlagen. Sie haben Ihr politisches Urteilsvermögen der militärischen Logik geopfert, dass die NATO das Feld nicht als Verlierer verlassen darf. Aber Sie erinnern sich sicherlich: Die USA hatte keinen Rückzugsplan aus Vietnam und ist von dort vertrieben worden. Die Sowjets hatten keinen Rückzugsplan für Afghanistan und sind von dort vertrieben worden. Die USA und ihre Koalition stehen nun im Irak erneut vor einem Desaster, aus dem sie mit militärischen Mitteln nie herauskommen werden. In Afghanistan droht ihnen dasselbe.

Es ist lobenswert, wenn aus der CDU/CSU-Fraktion nun die Forderung kommt, Bundeswehreinsätze künftig nur unter der Bedingung, dass sie befristet sind und dass es eine Exitstrategie gibt, zu bewilligen. Aber beides liegt in diesem Fall nicht vor.

Sie müssten also die Verlängerung ablehnen; denn die Bundesregierung hat - wir haben ständig nachgefragt - keine Vorstellung über die Dauer des Einsatzes. Stattdessen lässt sie im Norden, in der Nähe von Masar-i-Scharif, ein gigantisches militärisches Fort mit der Perspektive von zehn bis 15 Jahren bauen. Sie hat außerdem gemeinsam mit dem NATO-Rat die ISAF zu einer Kampftruppe umgewandelt, die nun in den Süden und den Osten Afghanistans geschickt wird.

Während wir hier reden, tritt ein neuer Beschluss des NATO-Rates in Kraft, der den Einsatz der ISAF-Truppe auf den umkämpften Osten Afghanistans ausweitet. Dies bedeutet, dass künftig rund 13 000 US-amerikanische Soldaten, und zwar alte Antiterrortruppen, im Osten Afghanistans dem NATO-Kommando der ISAF unterstellt werden, während die übrig gebliebenen 8 000 US-amerikanischen Soldaten den Antiterrorkampf der von den USA geführten Operation Enduring Freedom fortsetzen. Natürlich kann auch die Bundeswehr dorthin geschickt werden; denn das ist seit einem Jahr Bestandteil des Mandats. Die NATO will also nun einen Krieg fortsetzen, den die US-amerikanischen Streitkräfte seit fünf Jahren im Rahmen der Operation Enduring Freedom erfolglos führen. Es ist vollkommen irreführend, zu behaupten, die Trennung von ISAF und der Antiterrortruppe OEF bestehe weiterhin.

Die Einsätze sind vielmehr eng verzahnt. Die Infrastruktur wird geteilt. Die Kommandeure sind teilweise identisch.

Blicken Sie doch endlich realistisch auf die tiefe Kluft zwischen der fortschreitenden Verschlechterung der Sicherheitslage und Ihrem illusionären Afghanistankonzept! Der Grundfehler ist, dass die Stabilisierung und der Wiederaufbau Afghanistans als Nation-Building, als eine grundlegende Transformation von Gesellschaft und Institutionen begriffen werden. Daran waren die Sowjets schon vor 20 Jahren gescheitert. Erinnern Sie sich daran!

Die Carnegie-Stiftung hat unlängst 18 Regimewechsel untersucht, die mit amerikanischen Bodentruppen vorgenommen wurden. Sie kommt zu dem Ergebnis: 13-mal wurde das Ziel, eine Demokratie oder eine ähnliche Regierungsform zu etablieren, verfehlt. Diese Art des Nation-Building hat im Irak schon mehr als 250 Milliarden US-Dollar gekostet und sich selbst widerlegt.

Zum Schluss:

Herr Minister, wir sind mit Ihren Forderungen nach einem politischen Aufbau, der Bildung einer Polizei und Alternativen zum Drogenanbau vollständig einverstanden. Aber was machen Sie bislang? Sie geben jährlich 80 Millionen Euro für die Entwicklungshilfe aus, aber fast das Sechsfache, rund 460 Millionen Euro, für das Militär. Tauschen Sie die Summen aus! Bereiten Sie mit den 80 Millionen Euro den Rückzug des Militärs vor und stecken Sie die 460 Millionen Euro in zivile Projekte! Dann werden Sie sich auch wieder ohne Panzerwagen in Afghanistan bewegen können.

Danke schön.

Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Paech, ich wusste gar nicht, dass Sie etwas mit George W. Bush gemeinsam haben. Außer Ihnen glaubt nur noch er, dass die Taliban auf einer Ebene mit der Befreiungsbewegung des Vietcong stehen. Deswegen wäre ich an Ihrer Stelle mit Vergleichen von Afghanistan mit Vietnam sehr vorsichtig.

Ich glaube, dass wir Afghanistan heute weder mit Schönfärberei noch mit Schwarzmalerei begegnen dürfen. Vielleicht könnte man sich, auch mit Blick auf die Kollegen der Linken, einfach an Antonio Gramsci halten. Er hat einmal von der Haltung des Optimismus des Herzens und des Pessimismus des Geistes gesprochen. Wenn wir uns dieser Haltung befleißigen, dann muss man feststellen: Es gibt nicht das eine Afghanistan. Es gibt zwei Afghanistan. Es gibt das Afghanistan des Nordens. Hier wird gebaut, hier gehen Millionen, auch Mädchen, wieder zur Schule. Hier gibt es eine positive Entwicklung und hier wird Nation-Building betrieben. Hier gibt es eine wesentlich von Deutschen angeführte zivil-militärische Kooperation. Natürlich gibt es auch hier Korruption und es gibt auch Anschläge. Aber niemand wird ernsthaft bestreiten, dass sich die Situation in dieser Region seit dem Sturz der Taliban zum Besseren entwickelt hat.

Man kann es auch so sagen: Im Norden Afghanistans ist das Glas halb voll. Ich finde, wir müssen alles dafür tun, dass es voller wird.

Ganz anders ist die Situation im Süden, in den Gebieten der Paschtunen an der Grenze zu Pakistan. Hier dominiert der Krieg. Bewaffnete Aufständische beherrschen weite Teile des Landes. Ein amerikanischer kommandierender General brachte die Situation mit dem Satz auf den Punkt: Wo die Straßen enden, herrschen die Taliban. - Im Süden ist Krieg. Hier ist das Glas nicht halb voll, hier ist es wahrscheinlich dreiviertel leer und es leert sich täglich weiter.

Diese Entwicklung ist mit dem Begriff der Irakisierung des Südens beschrieben worden. Man muss zwischen den Ursachen der Konflikte unterscheiden. Sie sind nicht identisch. Aber die Parallele auf der Ebene der Phänomene ist doch unübersehbar. Selbstverständlich hat allein der Krieg gegen den Irak viele Kapazitäten beispielsweise der USA gebunden, die nun in Afghanistan nicht mehr vorhanden sind. Selbstverständlich ist auch da zu beobachten - viele Besucher berichten das -, dass dort private Sicherheitsfirmen dominieren, die teilweise Söldner beschäftigen, die auch für jeden anderen Warlord arbeiten würden. Selbstverständlich muss man die Frage stellen, ob es klug ist, Truppen, die vorher im Kampfeinsatz in einem sehr blutigen Krieg im Irak gewesen sind, anschließend in Afghanistan einzusetzen. Man braucht sich nicht zu wundern, wenn sie dort ähnliche Methoden anwenden.

Aber unübersehbar ist der Konflikt im Irak auch für die andere Seite ein Modell für Afghanistan geworden. Es hat vor dem Krieg im Irak keine Selbstmordattentate in Afghanistan gegeben, wie sie nun verstärkt vor allem im Süden stattfinden. Auch die bewaffneten Aufständischen lernen von ihrem Gegner nicht nur über CNN und al-Dschasira. Auch sie privatisieren mittlerweile den Krieg. Ihre Day-by-day-Kämpfer erhalten übrigens das Doppelte des Soldes der Soldaten der afghanischen Armee.

Berücksichtigen wir schließlich, dass die Aufständischen mit den Paschtunengebieten in Pakistan ein offenes Hinterland haben und durch den gewachsenen Drogenanbau über beachtliche Geldressourcen verfügen, dann verstehen wir, warum beispielsweise "Newsweek" diese Woche mit dem Titel "Losing Afghanistan" aufmacht und die Frage aufwirft, ob sich der Sieg hier in eine Niederlage verwandelt. Wir müssen uns einer Tatsache stellen: Nur militärisch ist dieser Konflikt in Afghanistan nicht zu gewinnen. Deswegen macht es auch keinen Sinn, blind mehr Truppen in den Süden hineinzuschicken. Das ist übrigens keine Feststellung, die Pazifisten und Friedensfreunde für sich gepachtet haben. Der Oberkommandierende der NATO bis 2004, Wesley Clark, schreibt in der gleichen Ausgabe von "Newsweek" über diesen Krieg: The real war isn't military. It's political and economic. - Er schreibt seiner Regierung ins Stammbuch, sie müsse endlich anerkennen, dass dort Nation-Building betrieben werden müsse. Das ist das, was Deutschland im Norden im Rahmen von ISAF macht.

Ich finde, Wesley Clark hat Recht. Wir müssen den zivilen Aufbau stärken. Wir dürfen nicht mehr kleckern, sondern wir müssen klotzen. Die Angabe, dass die internationale Gemeinschaft 85 Milliarden für das Militärische und 7 Milliarden für den Aufbau aufgewendet hat, ist richtig. Dieses Verhältnis muss man verschieben. Das ist richtig. Nur werden Sie diese Verschiebung nicht hinbekommen, wenn Sie darauf verzichten, den Aufbau militärisch abzusichern. Das ist die Unlogik an dieser Stelle.

Es geht dabei nicht nur um mehr Geld; vielmehr muss man auch darauf achten, dass dieses Geld dort ankommt, also nicht in dunklen Kanälen versickert, und dass die Traditionen, die kulturellen Gefühle der Menschen sowie die traditionellen Entscheidungsstrukturen berücksichtigt werden. Es gibt Projekte, die dies tun. Die internationale Gemeinschaft muss nicht nur im Norden, sondern in - ich betone - ganz Afghanistan endlich ein nicht nur von Deutschland oder Norwegen, sondern von allen Mitgliedern getragenes, flächendeckendes Konzept einer zivil-militärischen Kooperation umsetzen.

Dabei müssen wir auch aus den Fehlern und Erfahrungen lernen. Wenn die Opiumernte trotz Ersatzangeboten und trotz des massenhaften Niederbrennens von Feldern - das ist nur ein Beispiel - einen Rekordwert erreicht, dann kann man nicht einfach nur stumpf einen Krieg gegen die Droge weiterführen - ein solcher Krieg ist schon in Südamerika zum Scheitern verurteilt gewesen -, dann muss man sich andere Gedanken machen und dann auch einmal so frei sein, etwa darüber nachzudenken, ob es nicht eine Alternative ist, den Bauern das Opium abzukaufen und es zu vernichten, wenn sie ihren Lebensunterhalt mit dem Verkauf anderer landwirtschaftlicher Produkte nicht bestreiten können.

Wenn es richtig ist, dass auch im Norden Afghanistans Korruption und staatliche Inkompetenz vorhanden sind, dann müssen wir sämtliche Anstrengungen unternehmen, damit mehr Polizei im Einsatz ist, und dann darf es keine weiteren Verzögerungen im Bereich des Justizaufbaus geben.

Die Bedrohung dieses ganzen Prozesses hängt auch mit der Unfähigkeit und/oder - ich weiß es nicht - dem Unwillen der pakistanischen Regierung zusammen, das Grenzgebiet zu kontrollieren. Welche Konsequenzen ziehen eigentlich wir, die Bundesrepublik Deutschland, Europa und die internationale Gemeinschaft aus dieser Tatsache für die Politik gegenüber Pakistan? Ohne einen verstärkten Polizei- und Justizaufbau, ohne eine andere Drogenpolitik, ohne eine dramatische Änderung der Pakistanpolitik wird die Afghanistanpolitik scheitern. Mit der Forderung nach einer notwendigen Änderung der Politik verbindet die Mehrheit meiner Fraktion ihre heutige Zustimmung zur Verlängerung des ISAF-Mandats. Wir wissen eines: Ein Abzug von ISAF würde jede Chance zur Änderung der Afghanistanpolitik zerschlagen. Ein Abzug von ISAF würde das Glas auch im Norden leeren. Es wäre die Irakisierung des gesamten Afghanistans.

Das kann niemand wollen.

Wir nehmen auch zur Kenntnis, dass die Bundesregierung Änderungsbedarf in der Politik gegenüber Afghanistan sieht. Wir erwarten, dass diese Bereitschaft die Fragen der Operation "Enduring Freedom" einschließt. Wir haben uns immer dafür eingesetzt, dass diese beiden Einsätze strikt getrennt werden. Die USA und Großbritannien trennen dies nicht.

So richtig es ist, dass der zivile Aufbau ohne ISAF gefährdet ist, so richtig ist aber auch, dass es keine dauerhaft funktionierende Koexistenz geben kann zwischen einem bloß militärisch verstandenen Kampf gegen den Terrorismus und einem zivil-militärischen Ansatz, wie wir ihn - ich finde, erfolgreich - verfolgen.

Ein solches Nebeneinander kann wiederum zu der befürchteten Irakisierung beitragen. Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie diesem Haus, bevor sie uns im Oktober um die Verlängerung des Mandats "Enduring Freedom" bittet, hier eine wirkliche Bilanz über Erfolge und Probleme, über die Notwendigkeit und auch über das Spannungsverhältnis gegenüber ISAF vorlegt. Wir wollen die Irakisierung ganz Afghanistans verhindern. Deswegen werden wir heute zustimmen. Deswegen werden wir aber auch Ihre Erfahrungen mit "Enduring Freedom" sehr genau zu prüfen haben.

Vielen Dank.

Hans-Ulrich Klose (SPD):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die heutige Entscheidung zur fortgesetzten Beteiligung der Bundeswehr an der International Security Assistance Force, ISAF, ist keine Routineentscheidung. Jeder und jede, ob dem Ja zuneigend oder dem Nein, muss den Antrag der Bundesregierung genau prüfen, einmal um eigenständig entscheiden zu können, zum anderen um der Bevölkerung, den Menschen in den Wahlkreisen, erklären zu können, warum wir uns mit Soldaten in Afghanistan engagieren.

"Die Bundesrepublik wird auch am Hindukusch verteidigt", das war die knappe Formel des früheren Verteidigungsministers Peter Struck. Sie ist richtig, überzeugt aber nur, wenn die Hindukuschmetapher richtig verstanden wird. Sie steht für eine sehr grundsätzliche, wenn man so will, globale Herausforderung des Westens, westlicher Lebensweise und westlicher Werte durch religiös motivierte Gotteskrieger, denen es letztlich um die Vorherrschaft einer bestimmten Lesart des Islam und der Scharia geht - in Afghanistan und weit darüber hinaus. Afghanistan - daran muss fünf Jahre nach den Anschlägen von New York und Washington erinnert werden - war das Gastland, das logistische Zentrum, das ideologische und kriegerische Trainingscamp von al-Qaida und ist es grenzüberschreitend nach Pakistan noch immer oder schon wieder. Das zeigen die jüngsten Kämpfe im Süden und Osten Afghanistans. Was dort stattfindet, ist die Fortsetzung eines Krieges, der nie zu Ende geführt wurde, weil Amerika sich auf einen anderen, den Krieg im Irak, konzentrierte.

Die jüngsten Angriffe der wiedererstarkten Talibankämpfer richteten sich gegen ISAF-Soldaten, die im Süden und Osten Afghanistans eingesetzt sind, vor allem Briten und Kanadier. Es sind NATO-Soldaten. Der Unterstützungsauftrag von ISAF ist inzwischen auf ganz Afghanistan ausgedehnt worden und wird von der NATO geführt.

Das deutsche ISAF-Kontingent hat seinen Schwerpunkt im Norden des Landes, ist aber zwischenzeitlich in die Lage versetzt worden, ISAF-Operationen zeitlich und im Umfang begrenzt auch in anderen Regionen zu unterstützen, sofern dies - ich zitiere - "zur Erfüllung des ISAF-Gesamtauftrages unabweisbar ist". Diese Ausdehnung des Mandats ist mit der Mandatsverlängerung im September 2005 beschlossen worden. Sie wird im vorliegenden Antrag der Bundesregierung ausdrücklich wiederholt.

Ich mache auf diesen Punkt aufmerksam, weil sich nicht nur im Süden und Osten Afghanistans, aber doch vor allem dort die Sicherheitslage deutlich verschlechtert hat. Es ist deshalb nicht völlig auszuschließen, dass ganz im Sinne des erweiterten Mandats neue Anforderungen auch an das deutsche ISAF-Kontingent herangetragen werden. Hierzulande wünscht das niemand. Auszuschließen ist es aber nicht, was mich jedenfalls veranlasst, anknüpfend an eine Aussage von Herrn Dr. Hoyer, an die Zusage der Bundesregierung zu erinnern, im Rahmen der regelmäßigen Unterrichtung über die Auslandseinsätze der Bundeswehr das Parlament unverzüglich über Unterstützungsleistungen außerhalb der Nordregion zu informieren.

Dies ist umso wichtiger, je unschärfer die Abgrenzung zwischen Terrorismusbekämpfung einerseits und ISAF-Unterstützungsoperationen andererseits wird.

Die Bundesregierung betont in ihrem Antrag, dass es bei der klaren Abgrenzung und deshalb auch bei der Trennung der beiden Mandate, Enduring Freedom und ISAF, bleibt. Ich unterschreibe das ausdrücklich, habe aber, wie ich zugebe, wachsende Zweifel, ob diese klare Abgrenzung noch lange möglich und kommunizierbar ist.

Je grimmiger sich der neuerlich aufgeflammte Widerstand im Süden Afghanistans entwickelt, umso ähnlicher werden sich die beiden Mandate und umso vernehmlicher melden sich in der deutschen Öffentlichkeit die Zweifler zu Wort, die zum Rückzug blasen.

Ich will nicht schwarzmalen, obwohl oder weil ich seit einiger Zeit den Eindruck habe, dass die Zahl der Skeptiker zunimmt. Aber auch das neue Afghanistankonzept der Bundesregierung, Herr Außenminister, ist alles andere als optimistisch. Man kann es realistisch nennen; optimistisch nicht. Es werden zu Recht Fortschritte bei der Wiederbegründung afghanischer Staatlichkeit beschrieben, aber immer noch ist das Land weit entfernt von Stabilität und Good Governance. Eine deutliche Verbesserung der Lebensverhältnisse ist nicht erreicht worden. Die nicht unbeträchtlichen Hilfsmittel, die die internationale Gemeinschaft zur Verfügung gestellt hat, sind, vorsichtig formuliert, nicht immer bei den Menschen angekommen. Es hat Geschäftemacherei und Korruption gegeben und die Sicherheitslage ist nicht nur durch den Terror gefährdet, sondern auch durch Kriminelle, Warlords und Drogenbarone. Die Taliban profitieren von Enttäuschung und Unsicherheit. Sie sind in Afghanistan nicht beliebt, aber sie gewinnen an Boden, weil andere an Sympathie verlieren. Darauf, meine Damen und Herren, haben auch die weiblichen Abgeordneten des afghanischen Parlaments hingewiesen, die uns kürzlich in Berlin besucht haben. Sie waren allesamt für die Fortsetzung des ISAF-Mandats, weil dessen Beendigung die sofortige Rückkehr der Warlords und Taliban zur Folge hätte, worunter vor allem die Frauen leiden müssten. Dennoch war auch bei diesen Abgeordneten eine zunehmende Skepsis vor allem gegenüber Amerika zu spüren.

Ich will die Schar der Schwarzmaler nicht vergrößern, im Gegenteil: Ich will, dass die NATO-Länder in Afghanistan erfolgreich sind, damit Afghanistan an Zukunft gewinnt und die NATO ihre Glaubwürdigkeit behält. Die NATO darf nicht scheitern. Im Interesse unserer Sicherheit darf die NATO nicht scheitern.

Sie braucht aber dringlich eine abgestimmte und in den Prioritäten leicht veränderte Strategie: eine militärische und eine politische Strategie. Mit militärischen Mitteln allein ist der Kampf gegen den internationalen Terrorismus nicht zu gewinnen, weder im Irak noch in Afghanistan.

Darf man diese beiden Länder in einem Atemzug nennen? Ich denke schon; denn in beiden Ländern zeigt sich, dass man trotz überlegener militärischer Stärke und besten Absichten scheitern kann, wenn man die Unterstützung der Bevölkerung verliert. Das scheint jedenfalls im Süden Afghanistans der Fall zu sein. Wer daran schuld ist - die Regierung in Kabul, der Nachbar Pakistan, die westliche Führungsmacht -, das ist schwer zu sagen. Verbale Schuldzuweisungen helfen nicht weiter. Entscheidend ist, dass der Westen aus den bisherigen Erfahrungen im Kampf gegen den internationalen Terrorismus die richtigen Schlussfolgerungen zieht. Es handelt sich in erster Linie um einen politischen Kampf. Nicht die Zahl der getöteten Feinde, sondern die Zahl der für die eigene Sache gewonnenen Freunde und Partner entscheidet über Erfolg und Misserfolg.

Nein, meine Damen und Herren, es handelt sich nicht um eine Routineentscheidung, die wir heute zu treffen haben. Jeder entscheidet für sich mit Ernst und der nötigen Portion Skepsis, die sich immer einstellen muss, wenn wir über militärische Auslandseinsätze zu entscheiden haben.

Wir denken dabei in erster Linie an das Wohl unserer Soldaten. Wir danken ihnen und den vielen zivilen Helfern für ihren Einsatz in Afghanistan. Sie helfen dem Land am Hindukusch und sie helfen uns.

Birgit Homburger (FDP):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die FDP wird heute der Verlängerung des ISAF-Mandats zustimmen; denn wir sind der Meinung, es wäre falsch, in der jetzigen Situation die Truppen abzuziehen. Das würde das Land in ein Chaos stürzen und alle bisherigen Bemühungen und Fortschritte zunichte machen. Die Bundesregierung muss aber wissen, dass das keinen Freibrief für die Zukunft darstellt. Diese Zustimmung gilt nicht unbegrenzt und eine routinemäßige Verlängerung von Bundeswehreinsätzen wird es jedenfalls mit der FDP nicht geben.

Der Einsatz deutscher Soldatinnen und Soldaten ist nur dann sinnvoll, wenn er der Durchsetzung eines realistischen politischen Konzepts dient. Daran mangelt es im Augenblick. Da muss die Bundesregierung aus unserer Sicht auch nacharbeiten. Sie muss alle Anstrengungen unternehmen, um sichtbare Fortschritte bei der Verbesserung der Sicherheitslage und beim Wiederaufbau des Landes zu erreichen. Die Menschen in Afghanistan müssen das Gefühl haben, dass sich ihre persönliche Situation verbessert. Aber auch die Bürger in Deutschland müssen das Gefühl haben, dass es vorangeht und dass der Einsatz etwas bringt, wenn wir wollen, dass unser Engagement für die Stabilisierung und Demokratisierung Afghanistans auch in der deutschen Öffentlichkeit Unterstützung findet.

Deshalb erfordert die aktuelle Lage eine kritische Bestandsaufnahme. Nach wie vor bestehen Defizite im Hinblick auf den Aufbau einer funktionierenden Polizei und eines funktionsfähigen Justiz- und Strafvollzugsystems. Die Problematik beim Drogenanbau, aber auch die Probleme in den Beziehungen zwischen Afghanistan und Pakistan hat mein Kollege Werner Hoyer bereits beschrieben. Dazu kommen Berichte über zunehmende Bedrohungen durch gewaltbereite Kräfte und vermehrte Anschläge auf ISAF-Soldaten, auch auf deutsche Soldaten im Norden.

Anfang September hat die Bundesregierung dann ihr Afghanistankonzept vorgelegt. Immerhin hat die Bundesregierung jetzt ihre Bewertung geändert. Während sie im April noch davon gesprochen hat, dass im letzten Berichtszeitraum latente Spannungen unter Kontrolle gehalten werden konnten, sagt sie jetzt, dass sich in vielen Regionen Afghanistans die Sicherheitslage deutlich verschlechtert hat. Damit stellt sich die Bundesregierung endlich der Realität, die wir vorfinden. Das Konzept, liebe Kolleginnen und Kollegen, muss jetzt darauf ausgerichtet sein, daraus militärische und politische Konsequenzen zu ziehen.

Die Bundesregierung muss mit den NATO-Partnern sprechen. Die NATO kann nicht einfach weitermachen wie bisher. Das fängt mit der Frage an, wie die Soldaten auftreten, ob sie den Menschen in Afghanistan mit Respekt begegnen oder ob sie als Besatzer wahrgenommen werden. Da gilt es, alles zu tun, damit der gute Ruf und die bisherigen Kontakte, die die Bundeswehr zu den Menschen in Afghanistan hat, aufrechterhalten bleiben. Herr Minister Jung, deshalb ist auch die Korrektur Ihrer Haltung, die Anpassung Ihrer Strategie mit der Folge, dass man angepasst an die jeweilige Gefährdungslage weiter Fußpatrouillen durchführt, richtig gewesen. Wir brauchen den Kontakt zu den Menschen und wir müssen die NATO-Partner dazu bringen, ihr Verhalten ebenfalls zu ändern.

Deutschland ist natürlich auch besonders beim Aufbau der Polizei gefordert. Wir haben hier die Verantwortung übernommen. Herr Minister Steinmeier, Sie haben das auch vorgetragen. Eine funktionierende Polizei ist eine zentrale Voraussetzung, damit die afghanische Regierung irgendwann selbst in der Lage ist, für Sicherheit und Ordnung zu sorgen. Die Anstrengungen in diesem Punkt dürfen nicht etwa eingeschränkt, sondern müssen eher verstärkt werden, Herr Minister. Dazu gibt es offensichtlich nach wie vor unterschiedliche Vorstellungen innerhalb der Bundesregierung. Deshalb hat die FDP-Bundestagsfraktion auch eine Kleine Anfrage gestellt, mit der wir genau diese Frage klären wollen. Wir sind nämlich der Meinung, dass das ein ganz wesentliches Element für den weiteren Aufbau Afghanistans ist. Wir wollen Ihnen hier gern die Gelegenheit geben, die Position der Bundesregierung zu koordinieren.

Die Bundeswehr hat die Verantwortung für die gesamte Nordregion übernommen und leistet damit auch einen wichtigen Beitrag zum ISAF-Gesamtauftrag. Es wurde gerade schon von meinem Vorredner zitiert, dass die Möglichkeit besteht, zeitlich und im Umfang begrenzt auch ISAF-Operationen in anderen Teilen des Landes zu unterstützen. Dies geht aber nur insofern, als dies zur Erfüllung des ISAF-Gesamtauftrages unabweisbar ist. Ich sage klar und deutlich, die FDP-Fraktion trägt diese Notfallklausel mit. Das ist aber keine Generalermächtigung. Deshalb erwarten wir von der Bundesregierung zunächst einmal eine klare Information des Parlamentes. Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee und deshalb müssen wir Bescheid wissen, wenn Soldaten außerhalb des Kerngebietes eingesetzt werden.

Wir erwarten auch, dass das die absolute Ausnahme bleibt; denn der Norden hat ein latentes Eskalationspotenzial. Die Bundeswehr ist voll und ganz gefordert, die Situation im Norden stabil zu halten. Dass es schon heute an der Ausstattung mangelt, dass es einen Mangel an gepanzerten Fahrzeugen und auch an Lufttransportkapazitäten gibt, zeigt, dass wir uns in der Tat auf den Norden konzentrieren müssen.

Die Bundesregierung hat unsere Unterstützung, wenn sie keine weitere Ausweitung der Obergrenze der Zahl der Soldaten vornimmt und auch keine Ausweitung des Einsatzgebietes nach Osten und Süden. Die Bundeswehr ist vor dem Hintergrund einer Vielzahl weiterer Auslandseinsätze - inzwischen in fünf Regionen der Erde - wirklich an der Grenze der Belastbarkeit angelangt. Sie ist materiell, personell und finanziell nicht in der Lage, weitere Auslandseinsätze zu übernehmen oder bestehende Auslandseinsätze drastisch auszuweiten. Wir Parlamentarier müssen wissen, dass unter den derzeit bestehenden Umständen das Ende der Fahnenstange, was weitere Einsätze angeht, erreicht ist.

Die Bundesregierung will den Bundeswehreinsatz erst nach Schaffung eines sicheren Umfeldes beenden. Das ist zwar sicherlich richtig, aber wir brauchen eine Exit-Strategie. Wir müssen mit unseren Partnern reden, wie man erreichen kann, dass die Truppen wieder abziehen können. Es müssen politische Zwischenschritte vereinbart werden, die in einem klaren Zeitplan münden. Wir brauchen ein abgestimmtes politisches Konzept. Ein solches vorzulegen, ist Ihre Aufgabe, meine Damen und Herren von der Regierung. Es ist unvorstellbar, dass die Bundeswehr noch weitere 15 oder 20 Jahre in Afghanistan bleibt.

Nach der Mandatsverlängerung darf es kein Business as usual geben. Jetzt werden die Weichen neu gestellt. Das nächste Jahr des Mandats ist entscheidend für die Zukunft. Es handelt sich um keine Routineoperation; es gibt schon gar keinen Automatismus für die Zustimmung zu diesem Einsatz. Deutschland und auch die NATO müssen aus den veränderten Bedingungen, die wir derzeit in Afghanistan vorfinden, die Konsequenzen ziehen.

Vielen Dank.

Dr. Christian Ruck (CDU/CSU):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Afghanistan ist nicht nur der Ort des größten Bundeswehreinsatzes, sondern auch der Ort der größten Baustelle deutscher Entwicklungspolitik. Nirgendwo anders als in Afghanistan zeigt sich so dramatisch: Es gibt keine Sicherheit ohne Entwicklung und keine Entwicklung ohne Sicherheit. Mit dem Einsatz unserer Soldaten schaffen wir ein Zeitfenster für Stabilisierung und Wiederaufbau. Vom Erfolg des Wiederaufbaus hängt wiederum die Sicherheit unserer Soldaten ab.

Es gibt bereits - das wurde schon gesagt - große Erfolge beim Wiederaufbau. Beispielsweise ist das Pro-Kopf-Einkommen um 77 Prozent gestiegen. Die vielen Schülerinnen und Schüler, die jetzt wieder eine Schule besuchen können, wurden ebenfalls schon erwähnt. Das alles ist ein deutlicher Fortschritt im Vergleich zu dem Zustand vor fünf oder sechs Jahren - Sie erinnern sich sicher -, als wir bei Null angefangen haben.

Es ist auch richtig: Unsere Soldaten und unsere Entwicklungsexperten genießen einen hervorragenden Ruf. Das PRT-Konzept, das auch bei uns heftig diskutiert wurde, war angesichts des riskanten Umfeldes in Afghanistan genau richtig. Diese Position können wir auch nach außen vertreten.

Es ist schon völlig richtig dargestellt worden, dass wir zum ersten Mal nach fünf Jahren eine Situation erleben, in der es keinen Fortschritt gibt, sondern - im Gegenteil - einen dramatischen Rückschritt. Es gibt krisenhafte Erscheinungen, was die Sicherheitslage in weiten Teilen des Landes angeht. Entwicklungen sind zum Stillstand gekommen, die Korruption ist auf dem Vormarsch und die Drogenproduktion erreicht immer neue Rekordstände. Dies alles gefährdet die Gesamtmission Afghanistan. Deswegen ist es richtig, Frau Homburger, dass wir aus den Analysen und aus den Nachrichten die richtigen Schlüsse ziehen, und zwar ohne Tabus. Das sind wir unseren Soldaten und unseren Entwicklungshelfern schuldig.

Ebenfalls richtig ist, dass die Bundesregierung ihr Afghanistankonzept überarbeitet. Wir wollen dabei mitdiskutieren. Ich möchte einige Schlüsse nennen, die wir ziehen sollten. Da geht es zunächst einmal um unseren eigenen Beritt, nämlich um die Bereiche, in denen wir Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten übernommen haben. Hier halte ich zwei Punkte für besonders wichtig:

Erstens. Wir müssen überall dort, wo es möglich ist, den Übergang von Soforthilfemaßnahmen zu einer langfristigen Aufbauarbeit konsequenter vorantreiben, vor allem wenn es darum geht, dafür zu sorgen, dass die Afghanen im Verwaltungssystem, im Ausbildungssystem und im Sicherheitssystem ihre Verantwortung mit hoher Kompetenz eines Tages selbst übernehmen können.

Zweitens ist der Ausbau unserer Polizeiausbildung wichtig; darauf wurde schon hingewiesen. Hierbei geht es nicht nur um eine quantitative Steigerung einer wirklich qualitativ hochwertigen Arbeit, sondern auch um die Komponente der Bezahlung. Denn auch der am besten ausgebildete und am höchsten motivierte Polizist wird schwach, wenn ihm die Warlords das Doppelte des Gehalts von dem anbieten, was ihm die offizielle Regierung zahlen kann. Diese Komponente ist, glaube ich, genauso wichtig.

Eine wichtige Erkenntnis aus unseren Schwierigkeiten ist, dass der Aufbau und die Stabilität in Afghanistan ein Mosaik bilden. Wenn einzelne Teile nicht fertig werden oder herausbrechen, ist das Ganze gefährdet und bricht das Ganze auseinander. Oder umgekehrt: Wenn andere mit der Erfüllung ihrer Hausaufgaben, zum Beispiel im Drogenbereich, beim Aufbau der Justiz oder bei der Entwicklung im Süden, Schwierigkeiten haben, dann ist der Gesamterfolg und damit auch unser Erfolg, den wir zweifellos im Norden haben, gefährdet. Das hat für mich zwei Konsequenzen: Es muss erstens eine bessere Koordination insgesamt und zweitens eine stärkere Nachbarschaftshilfe geben.

Zum Stichwort Koordination. Hier ist die dringende Forderung nach mehr Kontinuität, nach mehr Effizienz und auch nach mehr Seriosität bei der Tätigkeit mancher internationaler Organisationen inklusive mancher UN-Organisationen in Betracht zu ziehen.

Da bauen wir auf Tom Koenigs, unseren Kompatrioten, der neuer UN-Beauftragter in Afghanistan ist und den wir bei der Arbeit für mehr Effizienz unterstützen sollten.

Koordinationsbedürftig ist auch der so wichtige Aufbau der Sicherheitsorgane; das wurde schon gesagt. Wir bilden die Polizisten - um es einmal etwas überspitzt zu formulieren - mit deutscher Gründlichkeit zu Bürgern in Uniform aus, während andere das Ganze im Sheriffcrashkurs in sechs Wochen machen. Das passt natürlich nicht zusammen.

Das Ganze gilt auch - das wurde schon angesprochen - für ein heikles Thema, nämlich für die unterschiedlichen Philosophien der verschiedenen Streitkräfte gegenüber der Zivilbevölkerung in Afghanistan. Auch hier muss eine stärkere Koordinierung stattfinden. Das ist ein ganz heikler Punkt, vor dem wir nicht die Augen verschließen sollten.

Auch sollten wir die Augen nicht vor dem Thema Nachbarschaftshilfe verschließen, und zwar auch in Sektoren und Gebieten außerhalb unseres Wirkungsbereiches. Auch ich bin - das sage ich ganz ehrlich - gegen eine Ausdehnung des Bundeswehreinsatzes in den Süden. Aber es gibt zum Beispiel konkrete Hilfsersuchen der Kanadier nach unserer Expertise, nach unserem Rat zu rasch wirksamen und rasch sichtbaren Soforthilfemaßnahmen der Entwicklungszusammenarbeit, zum Polizeiaufbau, zur ländlichen Entwicklung und zur Verbesserung der Arbeit ihrer PRTs. Dazu sollten wir Ja sagen. Wir sollten die Kanadier in Kandahar nicht im Stich lassen, wenn es um solche zivilen Ratschläge und zivilen Expertisen geht.

Auch ich halte Überlegungen für positiv, die deutsche Entwicklungszusammenarbeit wieder dort aufzunehmen, wo wir noch vor kurzem sehr erfolgreich tätig waren, nämlich in Khost und Baktiar, wo wir hoch angesehen sind und wo uns unter anderem auch die lokalen Stammesfürsten zurückersehnen. Wir sollten uns überlegen, ob wir hier einen zusätzlichen Beitrag zur Stabilisierung Afghanistans leisten könnten.

Zum Schluss möchte ich auf das heikle Thema der Drogenbekämpfung eingehen. Das ist eigentlich Sache der Briten. Aber es nützt nichts: Wenn die Situation aus dem Ruder läuft, sind wir alle betroffen und ist unser Gesamteinsatz gefährdet. Nach einem Hearing unserer Fraktion, bei dem übrigens auch Spezialisten aus Kolumbien und Thailand anwesend waren, um den Afghanen eventuell Hilfestellung zu geben, sage ich: Dies ist schwierig, aber nicht unmöglich, wenn man auch auf neue Ideen kommt und sich vor neuen Ideen nicht scheut. In Afghanistan ist eine Kombination von drei Dingen wichtig:

Erstens. Auch die politische Spitze in Afghanistan muss hinter der Drogenbekämpfung stehen.

Das gilt auch für die Personalpolitik, bis hin zum Präsidenten Karzai. Seine Personalentscheidungen in letzter Zeit, sowohl was die Drogenbekämpfung als auch was die Besetzung der höchsten Stellen der Polizei anlangt, haben nicht für Vertrauen gesorgt, auch nicht in der Bevölkerung.

Zweitens. Die Polizei, auch wenn sie noch so gut ausgebildet ist, kommt nicht in das letzte Bergdorf Afghanistans. Aber die Marktwirtschaft kommt dorthin. Wenn wir den afghanischen Bauern, die ja nur 1 Prozent des Erlöses aus dem Drogengeschäft abbekommen, eine marktwirtschaftliche Lösung inklusive Marktzugang und einen vernünftigen Preis für ein vernünftiges Produkt garantieren können, dann kann es gelingen, dass sie keinen Mohn mehr anbauen. Auch darauf zielt ein deutsches Entwicklungsprojekt - es ist ein Versuchsballon - das ist unsere Zuckerfabrik. - Man muss einfach auf neue Ideen kommen.

Drittens. Wir brauchen die Unterstützung der vernünftigen Mullahs und der vernünftigen Stammesfürsten, die auch zu Talibanzeiten gegen die Drogenproduktion vorgegangen sind, und zwar aus religiösen Gründen.

Es ist machbar. Wir müssen nur mehr Anstrengungen als bisher unternehmen. Wir sollten auch - da gebe ich Ihnen Recht - etwas mehr Demut an den Tag legen.

Mein Schlusssatz. Wir haben in Afghanistan Verantwortung übernommen und wir dürfen uns, auch im eigenen Interesse, aus dieser Verantwortung nicht davonstehlen.

Vielen Dank.

Monika Knoche (DIE LINKE):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine werten Herren und Damen! Herr Klose, Sie haben sehr eindringlich gesagt, die NATO dürfe nicht scheitern. Ich empfinde das nicht als ein Statement eines gestandenen Realpolitikers, eben weil uns die Wirklichkeit immer deutlicher vor Augen führt: Der Kampf gegen Terror kann mit Krieg nicht gewonnen werden.

Wenn Sie immer noch mehr Militär ins Land bringen, bringt das nicht mehr Freiheit und auch nicht Frieden in das Land. Ich erinnere daran: Zu den kriegslegitimierenden Gründen zählte nicht nur die Zerschlagung der al-Qaida, sondern auch die Befreiung der Frau von der Burka und die Beendigung systematischer Menschenrechtsverletzungen an ihnen.

Diese Woche wurde in einem schrecklichen Anschlag die Frauenbeauftragte Safiya Omar Jan getötet. Mädchenschulen sind Anschlagsziele. Gerade deshalb sage ich: Es darf nie das Menschenrecht der afghanischen Frau zur Disposition gestellt werden.

Die Frage aber ist, ob es dazu des Militärs oder nicht doch mehr Polizei bedarf. Das Menschenrecht der Frau muss von der afghanischen Gesellschaft und ihren staatlichen Institutionen geschützt werden. Die aber sind schwächer geworden, je länger der Krieg dauert.

Präsident Karzai verliert seine Unterstützung. Die afghanische Regierung ist ineffizient; Frauen sind in ihr nicht vertreten, wohl aber die Warlords. Diese haben erkennbar kein Interesse an Frauenrechten, an einer Stabilisierung und am Aufbau einer Zivilgesellschaft.

Mir geht es heute darum, eines der Grundübel der innerafghanischen politischen Verhältnisse zu benennen, ein Übel, das mit Krieg gegen Terror genauso wenig zu vertreiben ist wie mit Krieg gegen Drogen: Das ist der Mohnanbau. Er ist Quelle der Finanzierung von Korruption, Quelle der Finanzierung der Warlords und der archaischen Macht. Dass das so ist, daran hat leider auch Deutschland Anteil.

In Ermangelung anderer Staatsmänner wurden in der Ära nach den Taliban die Warlords in die Regierung gebracht und das Ganze wurde als Demokratie bezeichnet. Bis heute ist der Drogenanbau rasant gestiegen; die Gewinne explodieren. Da hilft auch das Abbrennen der Mohnfelder nichts, im Gegenteil: Es treibt die bäuerliche Bevölkerung noch tiefer in den Sumpf der Abhängigkeit. Die Ursubstanz für Heroin gedeiht; die agrarische Produktion ist dadurch nahezu vollständig ersetzt worden.

Was also ist zu tun? Es ist an der Zeit, das Unorthodoxe zu denken. Es ist an der Zeit, den Drogenanbau in kontrolliertem Umfang zu legalisieren. Es ist an der Zeit, den Drogenanbau zu ersetzen. Angesichts der Preise, die die Bauern dadurch erzielen, scheitert die prinzipielle Illegalisierung sowieso.

Ein Ausweg ist die massive Subventionierung des Anbaus agrarischer Produkte. In Europa haben wir uns längst daran gewöhnt, die Landwirtschaft finanziell zu unterstützen. Ein weiterer Weg sind ein lizenzierter, legaler, kontrollierter Mohnanbau und der Aufbau eines staatlichen Monopols zur Aufbereitung für medizinische Zwecke. Die Welt braucht kostengünstige Schmerzmittel. Das gilt insbesondere für die so genannten Entwicklungsländer. Man muss mutige, neue Wege gehen und nicht noch mehr vom Falschen verordnen.

Stellen wir uns doch einfach einmal vor, den Warlords, den Drogenkönigen, würde der Geldhahn abgedreht, indem ihnen das Schmiermittel für die Korruption und die Finanzierungsquelle für ihre Milizen abhanden kommen! Ich höre Ihre ernsten Klagen über die Dimension, die der Drogenanbau erreicht hat: Afghanistan beliefert die Welt mit verbotenem Heroin. Das gedeiht unter der massiven internationalen Militärpräsenz. Haben Sie eine praxistaugliche Antwort? Ich habe heute keine gehört. Wenden Sie sich einer pragmatischen Position zu, wie ich sie skizziere.

Ich bin mir bewusst, dass Sie das jetzt nicht hören mögen. Aber was ist Ihre Alternative? Sie haben keine.

Eines ist gewiss: Entwicklung und Entwicklungszusammenarbeit können nur gelingen, wenn die Korruptionsbekämpfung wirksam ist. Korruptionsbekämpfung kann nur durch eine sinnvolle Drogenpolitik gelingen. Das ist eine klare, einfache Wahrheit. Das Geld für internationales Militär ist besser investiert in Wirtschaftshilfe, Rechtsstaatsbildung, Armutsbekämpfung sowie den Aufbau von Polizei und sicheren Grenzen. Afghanistan braucht unsere nachhaltige Unterstützung.

Zu einer Exitstrategie gehört nicht nur, den Abzug des Militärs zu planen, sondern dazu gehört auch, eine ökonomische Perspektive für eine volkswirtschaftliche Gesundung des Landes zu entwickeln. Ein starker Einsatz von deutschen Soldaten für zivile Aufgaben wird obsolet, wenn starke zivile Kräfte die Zivilgesellschaft stärken.

Ob das allein die Taliban zurückdrängen wird, weiß ich nicht sicher. Aber es besteht hinreichend Anlass, davon auszugehen, dass ISAF und Operation Enduring Freedom sie nicht wirklich schwächen, im Gegenteil. Haben Sie Mut zu neuen Wegen, denn das Militär befindet sich bereits in einer Sackgasse.



Mit Ja haben 492 Abgeordnete, mit Nein 71 Abgeordnete gestimmt, 9 enthielten sich ihrer Stimme.

Die NEIN-Stimmen:

CDU/CSU
Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Dr. Peter Gauweiler, Henry Nitzsche, Willy Wimmer (Neuss)

SPD
Gregor Amann, Dr. Peter Danckert, Renate Gradistanac, Reinhold Hemker, Petra Hinz (Essen), Lothar Mark, Hilde Mattheis

FDP
Joachim Günther (Plauen), Dr. Heinrich L. Kolb, Jürgen Koppelin

DIE LINKE (geschlossen)
Hüseyin-Kenan Aydin, Dr. Dietmar Bartsch, Karin Binder, Dr. Lothar Bisky, Heidrun Bluhm, Eva Bulling-Schröter, Dr. Martina Bunge, Roland Claus, Sevim Dagdelen, Dr. Diether Dehm, Werner Dreibus, Dr. Dagmar Enkelmann, Klaus Ernst, Wolfgang Gehrcke, Diana Golze, Dr. Gregor Gysi, Heike Hänsel, Lutz Heilmann, Hans-Kurt Hill, Cornelia Hirsch, Inge Höger-Neuling, Dr. Barbara Höll, Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Hakki Keskin, Katja Kipping, Monika Knoche, Jan Korte, Katrin Kunert, Michael Leutert, Ulla Lötzer, Dr. Gesine Lötzsch, Ulrich Maurer, Dorothee Menzner, Kornelia Möller, Kersten Naumann, Dr. Norman Paech, Petra Pau, Elke Reinke, Paul Schäfer (Köln), Volker Schneider (Saarbrücken), Dr. Herbert Schui, Dr. Ilja Seifert, Dr. Petra Sitte, Frank Spieth, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Axel Troost, Alexander Ulrich, Jörn Wunderlich, Sabine Zimmermann

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Winfried Hermann, Peter Hettlich, Dr. Anton Hofreiter, Sylvia Kotting-Uhl, Monika Lazar, Hans-Christian Ströbele, Dr. Harald Terpe

fraktionslos
Gert Winkelmeier

Enthalten

CDU/CSU
Renate Blank

SPD
Marco Bülow, Ernst Kranz, Dr. Wilhelm Priesmeier, Frank Schwabe

FDP
Uwe Barth, Dr. Edmund Peter Geisen, Miriam Gruß

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Irmingard Schewe-Gerigk



Quelle: Deutscher Bundestag, Protokoll der 54. Sitzung, 28. September 2006;
www.bundestag.de



Zurück zur Afghanistan-Seite

Zur Bundeswehr-Seite

Zu anderen Bundestags-Debatten

Zurück zur Homepage