Linksfraktion fordert "Exit-Strategie und einen Zeitplan für den Abzug der Bundeswehr"
Am 28. September verlängert der Bundestag den Afghanistan-Einsatz
Am 28. September 2006 verlängert der Deutsche Bundestag zum fünften Mal das Mandat für den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan - fast schon routinemäßig. Im Folgenden dokumentieren wir den Gegenantrag der Fraktion DIE LINKE zum Einsatz-Antrag der Bundesregierung.
Eine weitere kritische Stimme zum Antrag der Bundesregierung kam aus der Friedensbewegung und ist hier dokumentiert: Friedensbewegung fordert: Bundeswehreinsatz beenden!.
Deutscher Bundestag, 16. Wahlperiode
Drucksache 16/
Entschließungsantrag
der Abgeordneten Dr. Norman Paech, Monika Knoche, Paul Schäfer (Köln),
Hüseyin-Kenan Aydin, Dr. Diether Dehm, Wolfgang Gehrcke, Heike Hänsel, Dr. Hakki Keskin, Katrin Kunert, Michael Leutert, Dr. Kirsten Tackmann, Alexander Ulrich, Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und der Fraktion DIE LINKE.
zu der ersten Beratung des Antrags der Bundesregierung
– Drucksache 16/2573 –
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz
der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan unter Führung
der NATO auf Grundlage der Resolutionen 1386 (2001) vom 20. Dezember
2001, 1413 (2002) vom 23. Mai 2002, 1444 (2002) vom 27. November 2002, 1510
(2003) vom 13. Oktober 2003, 1563 (2004) vom 17. September 2004, 1623 (2005)
vom 13. September 2005 und 1707 (2006) vom 12. September 2006 des Sicherheitsrates
der Vereinten Nationen
Der Bundestag wolle beschließen:
Der Deutsche Bundestag stellt fest:
1. Die Situation in Afghanistan hat sich im vergangenen Jahr dramatisch verschlechtert. Die Zahl der
Anschläge hat zugenommen. Die Regierung in Kabul übt trotz der militärischen Unterstützung durch
die ISAF faktisch nicht die Kontrolle über das Staatsgebiet aus. Präsident Karzai besitzt keine Autorität
im Land. Selbst die Bundesregierung beschreibt die Lage in Afghanistan in ihrer Antwort auf eine
Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE als "nicht ruhig und nicht stabil" (Bundestagsdrucksache
16/2380). Auch im ruhigeren Norden Afghanistans setzen Aufständische verstärkt Minen und Raketen
ein und verüben Selbstmordattentate. Die Situation in Afghanistan gleicht zunehmend der Lage im
Irak. An dieser negativen Entwicklung änderte auch die permanente Ausweitung des Einsatzgebiets
und Aufstockung von ISAF nichts. ISAF-Truppen sind inzwischen selbst zu einem Ziel von Anschlägen
geworden.
2. Die Bundeswehr ist seit fast fünf Jahren in Afghanistan präsent. Am 22. Dezember 2001 erteilte der
Deutsche Bundestag erstmals ein Mandat für den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan im Rahmen
der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe (ISAF) (Bundestagsdrucksache 14/7930). Es
wurde zuletzt am 28. September 2005 für weitere zwölf Monate bis zum 13. Oktober 2006 verlängert
(Bundestagsdrucksache 15/5996). Dem Bundestag ist nicht bekannt, von welcher Dauer die Bundesregierung
bei der Planung des Einsatzes ausgeht. In ihrer Antwort auf eine entsprechende Anfrage der
Fraktion DIE LINKE verweigert die Bundesregierung die Festlegung auf eine zeitliche Perspektive.
Die Bundesregierung räumt jedoch ein, dass sich ihre Planung auf einen Zeitraum mit noch nicht absehbarem Ende erstreckt. Damit umgeht die Bundesregierung die Bestimmungen in Paragraph 3, Absatz 2 des Gesetzes über die parlamentarische Beteiligung bei der Entscheidung über den Einsatz bewaffneter
Streitkräfte im Ausland (Parlamentsbeteiligungsgesetz) vom 15. März 2005, wonach die
Bundesregierung bei der Beantragung eines Mandats die voraussichtliche Dauer des Einsatzes anzugeben
hat.
3. Auch im fünften Jahr des ISAF-Mandats liegt dem Bundestag kein umfassendes Konzept der Bundesregierung
für den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan vor. Zu keinem Zeitpunkt wurden Kriterien
vorgelegt, anhand derer die Bundesregierung den Erfolg oder den Misserfolg des Bundeswehr-
Einsatzes bewertet. Trotz des Eingeständnisses einer vermehrten Anzahl von "Sicherheitsvorfällen"
beruft die Bundesregierung sich auf nicht näher definierte Fortschritte bei der "Schaffung oder Aufrechterhaltung
eines Klimas der Sicherheit". Ebenso weigert sich die Bundesregierung Kriterien vorzulegen,
anhand derer über eine Beendigung des Einsatz entschieden werden könnte. Die Bundesregierung
ist zudem nicht bereit, für den Fall einer weiteren Verschlechterung der Lage über eine Exit-
Strategie nachzudenken. Dieses Ausbleiben einer politischen und militärischen Evaluierung untergräbt
die Mitwirkungsmöglichkeiten des Parlaments. In der Begründung zum Entwurf des im März 2005 in
Kraft getretenen Parlamentsbeteiligungsgesetzes ist ausdrücklich von der jährlichen Vorlage eines
"bilanzierenden Gesamtbericht über den jeweiligen Einsatz bewaffneter Streitkräfte und die politische
Gesamtentwicklung im Einsatzgebiet" die Rede (Bundestagsdrucksache 15/2742). Eine solche Bilanz
des Afghanistan-Einsatzes liegt dem Deutschen Bundestag nicht vor.
4. Seit Beginn der Mission wurden das Einsatzgebiet des deutschen ISAF-Kontingents, dessen Kompetenzen
und dessen Umfang schrittweise und kontinuierlich ausgeweitet. War der Einsatz anfangs auf
die Hauptstadt Kabul, einen Umfang von 1200 Soldaten und einen Zeitraum von sechs Monaten begrenzt,
wurde 2003 der Personalumfang laut Mandat auf 2250 erweitert. Erstmals durfte die Bundeswehr
von da an auch außerhalb Kabuls, im Rahmen der sog. Provincial Reconstruction Teams (PRT),
eingesetzt werden. Bei der letzten Verlängerung im September 2005 wurde das mögliche Einsatzgebiet
der Bundeswehr auf ganz Afghanistan ausgeweitet und der zulässige Gesamtumfang auf eine
Personalstärke von 3000 erhöht (Bundestagsdrucksache 15/5996). Zu den deutschen ISAF-Truppen
gehören nach Angaben der Bundesregierung auch Einheiten der Division Spezielle Operationen
(DSO). Über den Einsatz des zur DSO gehörigen Kommandos Spezialkräfte (KSK) unter dem ISAFMandat
verweigert die Bundesregierung weiterhin jede Angabe.
5. Am 8. Dezember 2005 beschloss der Nato-Rat, den Einsatz in Afghanistan "auf eine neue Stufe
anzuheben". Unter anderem sollen die ISAF-Truppen durch "robuste Reservekräfte" (Nato-Kommuniqué)
verstärkt werden. Die Ausweitung des ISAF-Einsatzgebiets sollte in zwei Schritte auf den Süden
(ab Juli 2006) und den Osten des Landes (ab Herbst 2006) erfolgen. Dabei wird sich die Truppenstärke
der ISAF, nach Angaben der Bundesregierung, von derzeit etwa 9000 Soldaten (Nord- und
Westregion sowie Region Kabul) um etwa 7000 Soldaten (vor allem aus Großbritannien, Niederlande
und Kanada) erhöhen. Abhängig vom Grad der Einbeziehung der US-Truppen könnte die Gesamtstärke
schließlich bis zu 25.000 Soldaten umfassen.
6. Den ISAF-Truppen wurde durch die Beschlüsse des Nato-Rats, mit Zustimmung der Bundesregierung,
ein Kampfauftrag zugewiesen. Die Aussage der Bundesregierung, sie habe bei der Nato Einschränkungen
bei der Umsetzung der neuen Einsatzrichtlinien („rules of engagement“, ROE) betont,
widerspricht den Aussagen des ISAF-Kommandeurs (Commander ISAF), Lt. Gen. David J. Richards
vom 4. Mai 2006, wonach er ohne nationale Vorbehalte ("caveat free environment") agieren könne.
Nach Darstellung der Bundesregierung wurden einerseits Erklärungen mit "klarstellendem Charakter"
abgegeben, die "insbesondere die Vorgaben des Bundestagsmandats reflektieren". Andererseits sollen,
nach Angaben der Bundesregierung, die von der Nato beschlossenen "angepassten Einsatzrichtlinien
(ROEs) auch für das deutsche Einsatzkontingent ISAF" gelten.
7. Spätestens mit der geographischen Ausweitung des ISAF-Einsatzes in den Süden und Osten Afghanistans
und mit der Erweiterung der ISAF-Einsatzrichtlinien durch die Nato ist die von der Bundesregierung
behauptete Trennung zwischen den ISAF-Einsätzen und jenen der "Operation Enduring
Freedom" (OEF), an denen auch die deutsche KSK beteiligt ist, nicht mehr erkennbar. Der von den
USA gestellte stellvertretende ISAF-Kommandeur für Sicherheitsoperationen ist gleichzeitig für die
US-Kräfte in der OEF zuständig („Doppelhut-Funktion“). Die Luftangriffe der Nato-Truppen im August
2006 im Süden Afghanistans waren ein eindeutiges Anzeichen dafür, dass die ISAF nun auch
Kampfeinsätze führen will, die bislang unter dem Mandat der OEF durchgeführt wurden.
8. Es gibt in Afghanistan keine erkennbaren Fortschritte bei der Stärkung der Menschenrechte. Nach
Auffassung der Bundesregierung basiert dies auf der „rudimentär ausgeprägten staatlichen Gewalt der
Zentralregierung“. Der ISAF-Einsatz ist offensichtlich nicht in der Lage, die Zentralregierung in diesem
Sinne zu stärken. Der ISAF-Einsatz verhindert zudem nicht Menschenrechtsverletzungen durch
daran beteiligte Streitkräfte. Der Bundesregierung ist zwar bekannt, dass USA auf ihrem Stützpunkt
Bagram eine „Hafteinrichtung“ betreiben, nach eigenen Angaben verfügt sie jedoch über "keine eigenen
Erkenntnisse über die Haftbedingungen".
9. Obwohl der gegen die Taliban geführte Krieg besonders in der deutschen Öffentlichkeit durch die
Aussicht auf eine Befreiung der afghanischen Frauen von deren Unterdrückung legitimiert wurde, hat
sich ihre Lage wenig verbessert. In weiten Teilen des Landes hat sich die Lage der Frauen, auch nach
Einschätzung der afghanischen Frauenministerin Dr. Massouda Jallal, deutlich verschlechtert. Diese
Entwicklung wird durch den ISAF-Einsatz eher befördert, da ISAF-Truppen auch mit Warlords zusammenarbeiten,
deren Umgang mit Frauen sich wenig von denen der Taliban unterscheidet. Die
Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch kommt zu dem Schluss, dass Frauenrechte in Afghanistan
von den truppenstellenden Regierungen nur noch nachrangig behandelt werden.
10. Die Strategie im Kampf gegen den Anbau von Schlafmohn und die Produktion von Opium ist
gescheitert. Von Beginn des ISAF-Einsatz ist die Anbaufläche für Schlafmohn in Afghanistan nach
Angaben des United Nations Office on Drugs and Crime dramatisch angestiegen. Allein im letzten
Jahr wuchs die Anbaufläche in ganz Afghanistan um 59 Prozent. Davon ist nicht nur der Süden sondern
auch die im Stationierungsgebiet der Bundeswehr liegende nord-östliche Region Badakhastan
betroffen. Insbesondere für den dortigen Anstieg macht die UN-Drogenbehörde die Armut der Bevölkerung
und den Einsfluss mächtiger Warlords verantwortlich. Die Opiumproduktion ist der wichtigste
Wirtschaftsfaktor des Landes und wird von vielen Afghanen als positiv wahrgenommen, da er vielen
von ihnen eine Existenzgrundlage bietet. Ohne den Aufbau von anderen Anbau- und Wirtschaftsstrukturen
ist die Zerstörung der Anbauflächen sinnlos und erzeugt Widerstand und Gewalt. Die Bundesregierung
betont, dass die Bundeswehr nicht aktiv gegen den Schlafmohnanbau und die Opiumproduktion
eingesetzt wird, vertritt aber dennoch die Auffassung, dass auch "repressive Elemente" zur
Eindämmung der Drogenökonomie beitragen können und unterstützt ausdrücklich das Vorgehen der
afghanischen Regierung und britischen ISAF-Kontingente. Gleichzeitig geht auch die Bundesregierung
offenbar von einer Beteiligung hoher Regierungsmitglieder an der Produktion von Schlafmohn
und der Produktion von Opium aus. Es sei "nicht unüblich, dass einflussreiche Funktionsträger aus
Politik, Militär und Religion ihre Funktion dahingehend nutzen, Rauschgiftgeschäfte zu decken und zu
ermöglichen".
11. Angesichts der geographischen Ausweitung des ISAF-Einsatzes und des von der Nato formulierten
Kampfauftrages wird die Integration von Hilfsprojekten in militärische Strukturen immer problematischer.
Einige Hilfsorganisationen, wie etwa medico international, sehen in der Instrumentalisierung
der Hilfe zur Legitimierung von Militäreinsätzen, wie es mit den Provincial Reconstruction
Teams (PRTs) geschieht, einen der Gründe für die Ermordung afghanischer und ausländischer Helfer.
Selbst die dem Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung unterstellten
Kräfte (Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit, Kreditanstalt für Wiederaufbau, Deutscher Entwicklungsdienst)
lehnen diese Verbindung offenbar ab und betreten die PRTs nur zu Koordinierungstreffen.
Die militärisch abgeschotteten Stützpunkte der PRTs vertragen sich nicht mit der für die Entwicklungsarbeit
notwendigen Nähe zur Bevölkerung. Die seit Mitte des Jahres gültige Weisung an
Bundeswehr-Angehörige in Afghanistan, sich nur noch in Ausnahmefällen außerhalb gepanzerter
Fahrzeuge zu bewegen, verdeutlicht diesen Widerspruch.
12. Die im "Afghanistan Compact" Anfang 2006 formulierten Ziele sind unrealistisch und gehen an
der Lebenswirklichkeit der afghanischen Bevölkerung völlig vorbei. Das im Januar 2006 in London
verabschiedete Dokument schreibt eine völlige Entwaffnung aller illegalen Kräfte bis zum Ende des
Jahres 2007 fest. Nach Angaben der Bundesregierung wurden bislang aber bei bis zu 130.000 geschätzten "illegalen Milizgruppen" nur "knapp 23.000 Waffen eingezogen". Keine der geschätzten
1800 bewaffneten Gruppen gelte jedoch als aufgelöst. Ähnliche gravierende Widersprüche finden sich
bei der angestrebten Durchsetzung von Menschenrechten und insbesondere Frauenrechten, des Verbots
von Schlafmohnanbau und der Demokratisierung. Das Beharren auf militärischer Machtdemonstration
hat sich als ungeeignet erwiesen, um die Lage der Menschen in Afghanistan dauerhaft zu
verbessern. Auf dieses Scheitern kann nicht durch eine Ausweitung einer sich in der Praxis als falsch
erwiesenen Strategie reagiert werden, wie es die Bundesergierung mit ihrer Zustimmung zu den Nato-
Plänen für die ISAF-Ausweitung getan hat. Statt die Fehler zu korrigieren, setzt die Bundesregierung
auf die Ausweitung einer gescheiterten Strategie.
II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf:
1. unverzüglich eine Exit-Strategie und einen Zeitplan für den Abzug der Bundeswehr vorzulegen;
2. dem Bundestag einen bilanzierenden Gesamtbericht des deutschen ISAF-Einsatzes in Afghanistan
auf der Grundlage transparenter und nachprüfbarer Kriterien vorzulegen;
3. den Bundestag, wie im Parlamentsbeteiligungsgesetzt festgeschrieben, über die von der Bundesregierung
geplante voraussichtliche Dauer des Einsatzes in Afghanistan zu unterrichten;
4. Luftangriffe und Kampfeinsätze der ISAF in Afghanistan und im pakistanischen Grenzgebiet weder
direkt noch indirekt beispielsweise durch Logistik, Aufklärung oder Koordination zu unterstützen;
5. die Verknüpfung militärischer und ziviler Einsätze in Afghanistan, insbesondere im Rahmen der
Provincial Reconstruction Teams (PRTs), zu beenden;
6. Alternativen zu der erfolglosen Strategie gegen den Schlafmohnanbau und die Opiumproduktion zu
entwickeln, insbesondere durch Konzepte für die Unterstützung des Anbaus anderer agrarischer Produkte
und für den lizenzierten Schlafmohnanbauanbau zu medizinischen Zwecken;
7. die Abschiebung afghanischer Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern aus Deutschland solange zu
stoppen, bis sich die Sicherheitslage in Afghanistan hinreichend verbessert hat;
8. die durch die Beendigung des Bundeswehr-Einsatzes freiwerdenden Mittel in zivile Hilfsprojekte in
Afghanistan zu investieren.
Berlin, den 19. September 2006
Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion
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