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Der Krieg am Hindukusch muss umgehend beendet werden

Hans-Christian Ströbele und André Brie in einem Podiumsgespräch beim diesjährigen ND-Pressefest in Berlin

"Afghanistan – ein Krieg ohne Ende?" Antworten auf diese Frage suchten in einer Podiumsdiskussion auf dem ND-Pressefest am 19. Juni Hans-Christian Ströbele(l.), Vize-Vorsitzender der bündnisgrünen Bundestagsfraktion und Mitglied des Auswärtigen Ausschusses, und der frühere langjährige Afghanistan-Berichterstatter des Europäischen Parlaments André Brie (LINKE). Moderator war Olaf Standke.

ND: Der UN-Generalsekretär hat gerade seinen Afghanistan-Bericht vorgelegt: Nach neun Jahren Krieg ist die Lage am Hindukusch schlechter denn je. André Brie und Christian Ströbele kennen das Land aus eigener Anschauung. Wie sehen Sie die Entwicklung?

Brie: Ich war gegen die Intervention, gegen den Krieg, als ich das erste Mal als Berichterstatter des EU-Parlaments nach Afghanistan kam, kurz nach dem USA-Einmarsch. Doch dann hörte ich dort in allen Landesteilen, es sei gut, dass die Amerikaner einmarschiert sind, wir sind die Taliban los, wie haben jetzt die Chance auf Frieden. Aber mit jedem Jahr hat sich die Situation zum Schlechten verändert. Ein vollständiges Fiasko der westlichen, vor allen Dingen der USA-Strategie. So wurden die Menschen den Taliban wieder in die Hände getrieben, mit einer Kriegführung, die auch von furchtbarer imperialer Arroganz gegenüber einer anderen Kultur geprägt ist. Es sind nicht zuletzt die vielen unschuldigen zivilen Opfer, die dafür sorgen, dass die Taliban im paschtunischen Süden des Landes wieder große Akzeptanz genießen und insgesamt die Lage destabilisiert wurde. Und neun Jahre nach dem Einmarsch ist vor allem auch die soziale Situation der Menschen katastrophal. Es gibt eine entsetzliche Armut und Arbeitslosigkeit, die auch Quelle für Drogenanbau und -handel ist, für Waffenhandel, für Menschenhandel, auch eine Rekrutierungsquelle für Extremisten oder für die regionalen Warlords.

Todeslisten oder Waffenstillstand

Ströbele: Ich bin in Sachen Afghanistan seit Beginn des Krieges sehr engagiert und habe im Deutschen Bundestag gegen diesen Kriegseinsatz gestimmt. Ich gehöre zu denen, die große Hoffnungen auf Barack Obama gesetzt haben. Richtig finde ich dabei, dass Verhandlungen zwischen den Kriegsgegnern stattfinden sollen. Nur mit einem Waffenstillstand kann eine Beendigung des Krieges erreicht werden, die allen zumutbar ist. Das bedeutet, mit jenen zu verhandeln, die die Waffen tragen und anwenden, auch mit den Taliban. Da höre ich mit großem Interesse und Zustimmung aus Afghanistan, dass der Präsident solche Verhandlungen mit den Taliban und anderen militanten Gruppen begonnen hat. Nur erweitern die USA gleichzeitig ständig ihre Liste der Zielpersonen, die ausgeschaltet, also festgenommen oder getötet werden sollen. Und das sind oft die, mit denen man eigentlich verhandeln müsste.

Ich habe mehrfach Anfragen an die Bundesregierung gerichtet, weil ich wissen wollte, ob sich die Bundeswehr an solchen gezielten Tötungen beteiligt. Lange hat man sich gedrückt. Nun musste sie zugeben, dass auch die deutsche Seite seit Sommer letzten Jahres acht Namen auf diese Liste gesetzt hat. Man wolle sie aber nur festnehmen lassen. Doch führen die USA mit dieser Liste Krieg. Sie setzen auf Großoffensiven, auch in Gebieten, für die eigentlich die Bundeswehr Verantwortung trägt. Das ist eine unehrliche Politik, die nicht zum Ausgleich, nicht zum Erfolg führen kann. Wir müssen fordern, dass mit den Verhandlungsangeboten auch die offensive Kriegführung in jeder Weise beendet wird.

USA-Präsident Obama setzt aber auf massive Truppenerhöhungen – inzwischen sind es über 90 000 Soldaten, 150 000 sollen es werden –, denn dann würden die Taliban militärisch besiegt werden, und man selbst könne wieder abziehen.

Mehr Soldaten heißt mehr Widerstand

Brie: Das ist das Gegenteil von einem realistischen Konzept. Immer mehr Soldaten, immer mehr Kampfeinsätze bedeuten immer mehr Zerstörung, immer mehr Widerstand in der afghanischen Gesellschaft und damit auch mehr Zuspruch für die Taliban. Es kommt hinzu, dass wir eine weitere Amerikanisierung der gesamten Afghanistan-Strategie erleben. Die NATO ist weitgehend ausgeschaltet, der Oberbefehl liegt bei den USA. Die UNO spielt allenfalls eine Rolle als Feigenblatt für den zivilen Aufbau. Ich habe keinen Botschafter in Afghanistan getroffen, der mir nicht gesagt hätte, dieser Krieg sei nicht zu gewinnen. Weiter auf Krieg zu setzen, bedeutet nur, auf Kosten des afghanischen Volkes eine völlig falsche Politik fortzusetzen, bei der es gar nicht um die Bekämpfung des Terrorismus geht. Ich sehe diesen Krieg als Bestandteil einer Strategie, Russland und China einzukreisen und in diesem strategisch entscheidenden Raum mit der Bastion Afghanistan die eigenen geostrategischen Interessen durchzusetzen.

Die jüngste Friedens-Dschirga in Kabul hat erneut ein Versöhnungsangebot gemacht. Aber ist der afghanische Präsident Hamid Karsai überhaupt der richtige Mann für einen solchen Prozess?

Ströbele: Ich habe in Kabul mit einer Reihe von kritischen Abgeordneten geredet, und sie alle sehen ein großes Problem darin, dass es in Afghanistan keine Instanz gibt, die legitimiert wäre, mit den USA, mit der NATO oder überhaupt international zu verhandeln. Die Regierung Karsai ist nicht nur zutiefst verwickelt in die Korruption. Ihr gehört eine ganze Reihe von Ministern und höchsten Beamten an, die angesichts ihrer Taten in den Zeiten des Bürgerkriegs eigentlich vor den Internationalen Gerichtshof gestellt werden müssten.

Umso wichtiger ist die sehr wache, hoch politisierte Zivilgesellschaft in Afghanistan. Es gibt Stammesälteste, es gibt Strukturen, um das Land nach althergebrachten Grundsätzen zu verwalten. Man braucht keine Parallelverwaltung der NATO. Auch deshalb müssen die ausländischen Truppen so schnell wie möglich das Feld räumen. Obamas Strategie aber zielt darauf, selbst nach einem »Abzug« große Stützpunkte mit Zehntausenden Soldaten im Lande zu behalten.

Brie: Es war verhängnisvoll, in Kabul ein Präsidialregime zu errichten, in einem Land, das nie eine starke Zentralregierung hatte. Ja, es gibt hochinteressante zivilgesellschaftliche Strukturen. Aber das ist nicht ausreichend, um eine wirkliche Gegenmacht gegen die Warlords zu bilden, die die Regierung beherrschen. Es gibt dort Leute, deren Ideologie nicht weniger reaktionär ist als die der Taliban. Das alles macht es schwierig für eine friedliche Entwicklung. Beginnen aber muss sie mit der sofortigen Einstellung der Kampfeinsätze. Zweitens halte ich es für notwendig, dass man diesem Land endlich die Chance gibt, frei vom Weltmarkt eine Ökonomie, das heißt vor allem seine Landwirtschaft zu entwickeln – mit geschützten Preisen, um Menschen Arbeit zu geben, um die soziale Situation zu verändern. Das Dritte: Der Aussöhnungsprozess kann nicht nur Verhandlung mit den Taliban bedeuten, es muss endlich auch eine Auseinandersetzung mit dem Bürgerkrieg in den 90er Jahren erfolgen, mit den Leuten, die nach wie vor in Amt und Würden sind und die den Weg bereitet haben für die Taliban.

Ströbele: Ich halte aber einen sofortigen Abzug der Truppen aus Afghanistan für keine verantwortbare Forderung. Das sage ich auch immer den Kolleginnen und Kollegen von der LINKEN. Er würde für das Volk in Afghanistan sehr wahrscheinlich einen neuen Bürgerkrieg bedeuten. Notwendig ist, den Waffengang so schnell wie möglich zu beenden. Ich denke, diese Forderung können wir gemeinsam aufstellen. Wir brauchen einen kontrollierten, garantierten Waffenstillstand. Und dann muss man sich zusammensetzen und die Versorgung mit Strom und Wasser sichern, den Schulbesuch usw. Einfach nur raus, ist nicht der richtige Weg. Wir müssen zu vernünftigen Verhandlungen über eine lebbare Zukunft in Afghanistan kommen.

Welche Autorität könnte denn einen solchen Prozess leiten?

Brie: Ich denke, wenn die Staaten es wirklich wollten, dann könnte es die UNO sein. Doch sie ist diskreditiert, weil sie von den Staaten schwach gemacht wird. Sie aber müsste das Sagen haben, nicht die USA oder die NATO. Das Problem für die Bundesrepublik Deutschland ist das Verhältnis zu den USA. Man hat nicht den Mut zu sagen, dass das der falsche Weg in Afghanistan ist. Die Bundeswehr könnte sofort abgezogen werden, sie wird nicht für eine Stabilisierung gebraucht. Die USA und Großbritannien, die diesen Krieg gewollt haben, müssen Verantwortung übernehmen für eine Übergangszeit, um schnell zu einem Waffenstillstand zu kommen und die afghanischen Stellen handlungsfähig zu machen. Aber Kriegseinsätze, die müssen ohne jede Vorbedingung sofort beendet werden. Erforderlich sind regionale Lösungen

Der Einfluss gerade von Pakistan auf die Entwicklung in Afghanistan ist außerordentlich groß. Kann der Konflikt letztlich nicht nur regional gelöst werden?

Brie: In der Tat muss man die Nachbarstaaten und die anderen internationalen Akteure der Region einbeziehen. Dazu gehört Iran, das sein eigenes Spiel spielt. Dazu zählen Russland, China und, ganz wichtig, Indien, zudem die zentralasiatischen Republiken. Vor allem aber Pakistan, ein sehr schwieriger Fall, weil das Land selbst nicht sehr stabil ist. Der pakistanische Geheimdienst verfolgt eigene Ziele, noch immer gibt es großpakistanische Träume, weshalb man Interesse hat an einer Destabilisierung Afghanistans und den Taliban Rückzugsgebiete bietet. Hier hätten meiner Meinung nach die USA die entscheidende Verantwortung und auch die entscheidenden Möglichkeiten, um den pakistanischen Geheimdienst, der nicht nur finanziell von ihnen abhängig ist, zur Räson zu bringen und in eine regionale Lösung einzubeziehen.

Herr Ströbele, welche Möglichkeiten sehen Sie denn auf parlamentarischem Wege, um stärker Druck auf die Bundesregierung für einen Truppenabzug auszuüben?

Ströbele: Inzwischen kommt glücklicherweise auch im Parlament langsam einiges in Bewegung. Das ist bei den Grünen der Fall, aber auch bei anderen Fraktionen. Die Abgeordneten merken in ihren Wahlkreisen, dass die Bevölkerung in ihrer großen Mehrheit diesen Krieg nicht will. Es gibt ja zwei Mandate, das eine ist das Kampfmandat für Enduring Freedom, und es gibt das ISAF-Mandat. Das war ursprünglich gar kein Kampfmandat. Bundeswehrsoldaten sollten die Verwaltung in ihrer Region aufrechterhalten und absichern; Offensivmaßnahmen waren nicht vorgesehen. Nur laufen inzwischen über 90 Prozent der militärischen Aktionen in Afghanistan über das Mandat ISAF. Das kann nicht die Lösung sein. Wir müssen den Amerikanern endlich sagen, das deutsche Volk will das nicht mehr, und die Abgeordneten sind dem deutschen Volk verpflichtet.

Und das findet auch eine Mehrheit in Ihrer eigenen Fraktion und Partei?

Ströbele: Ich kann Ihnen versichern, es gibt inzwischen eine Reihe von Papieren und Anträgen von uns, mit denen eine neue Politik der Grünen eingeleitet wurde. Das ist noch nicht alles meine Position, aber es gibt deutliche Veränderungen, wenn man bedenkt, was von den Grünen über Jahre mitgetragen wurde. Wir waren leider am Zustandekommen und an der Akzeptanz des Afghanistan-Krieges im Jahr 2001 beteiligt. Ich habe das immer bedauert und versucht, eine andere Politik durchzusetzen. Das Thema ist viel zu wichtig, als dass man sich darüber nicht überall und bei jeder Gelegenheit streiten sollte. Nur halte ich überhaupt nichts davon, dass man sich gerade unter denen, die diesen Einsatz ablehnen oder kritisch sehen, die die Bundeswehr möglichst schnell abziehen wollen, so zerstreitet, dass man nicht mehr zusammengehen kann. Das ist die alte Krankheit der Linken. Wenn es darum geht, einen Krieg, einen Militäreinsatz der Bundeswehr zu beenden, dann gehe ich mit jedem Linken einen Pakt ein und ziehe am selben Strang.

Den Protest auf die Straße tragen

Brie: Da die Politik sich nicht ändert, wird sich der Krieg weiter verschlimmern. Entscheidend wird sein, dass die Ablehnung dieses Krieges nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich, in Großbritannien, in Italien stärker auf den Straßen deutlich wird. Die Bereitschaft der USA, ihre Niederlage im Vietnam-Krieg einzugestehen, hing von einer massenhaften und nachhaltigen Friedensbewegung ab. Diese Antikriegsstimmung, die wir in Umfragen messen, die muss auch in eine dauerhafte Antikriegsbewegung umschlagen, in Druck auf die Parlamentarier und in andere Wahlergebnisse. Und es muss endlich gelingen, dass nicht mehr von zehn Dollar neun ins Militär nach Afghanistan gehen, sondern der zivile und wirtschaftliche Aufbau eine völlig andere Gestalt und Priorität erhält, damit das afghanische Volk eine Chance bekommt. Meiner Meinung nach ist das auch der wichtigste Beitrag, um aus dem Bürgerkrieg dort herauszukommen.

* Aus: Neues Deutschland, 10. Juli 2010

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