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US-Militär: Bewaffnete Sozialarbeit

Ein neues Handbuch zur Aufstandsbekämpfung aus dem Pentagon

Von Daniel Stern *

Mit Waffengewalt alleine lassen sich Aufstände in der Welt nicht erfolgreich bekämpfen. Wie dann? Ein neues Handbuch gibt Aufschlüsse über die Denkweise im Pentagon.

Zwar gelang es den von den USA angeführten Truppen relativ schnell, Afghanistan und den Irak zu besetzen, doch damit ist dort noch längst keine Ruhe eingekehrt. Aufständische machen den BesatzerInnen zu schaffen, indem sie mit ihrer «asymmetrischen Kriegsführung» die Stabilisierungsbemühungen immer wieder zurückwerfen. Der kürzlich veröffentlichte «letzte Entwurf» eines Feldhandbuches zum Thema Aufstandsbekämpfung zeigt, wie man im Pentagon gedenkt, die aktuellen Probleme wie auch künftige in anderen Ländern, etwa in Staaten ohne funktionierendes Regierungssystem, zu meistern.

Bei ihrer Analyse des Feindes, also der Aufständischen, greifen die Autoren des Manuals oft auf Mao Zedongs Schrift über den Guerillakrieg zurück. Die verschiedensten Aufstände seien letztlich alle Variationen eines Standardthemas, auch wenn man «Saddamisten und Islamische Extremisten nicht auf die gleiche Art bekämpfen könne wie den Vietcong, die Moros oder die Tupamaros». Die US-Militärs versuchen also, vom Feind zu lernen wie auch aus ihrer eigenen Geschichte, speziell dem Vietnamkrieg.

Kampf um Legitimation

Aufstandsbekämpfung hat gemäss Handbuch sehr wenig mit klassischen Feldschlachten zu tun, wo klare Kommandohierarchien gefragt sind. Vielmehr gehe es darum, dass auch einzelne KompaniekommandantInnen relativ unabhängig Entscheidungen treffen müssen. Zudem sei die Zusammenarbeit mit unterschiedlichsten AkteurInnen gefragt. Schliesslich seien es neben den militärischen auch «politische, ökonomische, paramilitärische, psychologische und zivile Aktionen», die nötig seien, um einen Aufstand niederzuschlagen. Es brauche also ein funktionierendes Sozialsystem, Reformen bei grosser Ungleichheit in der Bevölkerung und Wiederaufbauprojekte. Oder anders: «Aufstandsbekämpfung kann als bewaffnete Sozialarbeit charakterisiert werden.» Ziel einer Aufstandsbekämpfung ist also immer auch die Erhöhung der eigenen Legitimation und vor allem derjenigen der lokalen Regierung. Schliesslich hat man es beim Gegner mit einem Verwandlungskünstler zu tun, der je nach Situation auch «mildere Mittel wie nichtgewalttätige politische Mobilisierungen, legale politische Aktionen und Streiks» benützt. Es gebe inzwischen auch aufständische Organisationen, die man als «Netzwerkorganisation» begreifen müsse. Sie sind in eine sympathisierende Bevölkerung eingebettet. «Die Differenzierung zwischen Aufständischen, der unterstützenden Bevölkerung, der neutralen Bevölkerung und der freundlich gesinnten Bevölkerung ist schwierig.» Ausserdem gebe es Organisationen wie die kolumbianische Farc-Guerilla oder die mexikanischen ZapatistInnen, die auf eine globale Unterstützung zurückgreifen könnten und denen ein «Gravitationszentrum» fehle. Ausserdem würden diese Organisationen schnell lernen und sich immer wieder anpassen. Demzufolge kämen die Militärs bei der Aufstandsbekämpfung oft in eine paradoxe Situation: Der Einsatz von zu viel militärischer Macht sei kontraproduktiv.

Dennoch: Bei der Aufstandsbekämpfung stehen oftmals zuerst klassische militärische Aufgaben im Vordergrund. Das Vorgehen fasst das Handbuch im Dreisatz «clear, hold, build» zusammen. Säubern, Halten, Aufbauen. Gibt es in einer Zone viele Aufständische, so geht es im ersten Schritt darum, diese zu vertreiben beziehungsweise zu vernichten. Die Zone ist vorgängig vom Rest des Landes zu isolieren. Es folgen Angriffe auf Stellungen des Feindes und die systematische Durchkämmung eines Gebietes. «Die Bevölkerung soll verstehen, dass, wenn sie den Aufstand aktiv unterstützt, sie die Kampfhandlungen verlängert und sich und ihre Nachbarn einem Risiko aussetzt.» Im zweiten Schritt geht es darum, die Situation unter Kontrolle zu halten. Eine Regierung sei ins Amt zu setzen, ein Netz von InformantInnen aufzubauen und lokale Paramilitärs seien auszubilden. Die Bevölkerung müsse unter Kontrolle gehalten werden: Das «beginnt normalerweise mit einer Volkszählung unter Ausgabe von Identifikationsausweisen». Es sei zu klären, wer in welchem Haus wohnt und wer das verantwortliche Familienoberhaupt eines Haushaltes ist. Dieses muss jeden Wechsel im Haus melden. Ausserdem seien Eigentumsverhältnisse, Beziehungen und Geschäftsverbindungen zu erheben. Über ein bestimmtes Gebiet sollten zudem Ausgangsperren ins Auge gefasst werden, ein Passsystem, das Reisen limitiert und auch eine Beschränkung bei Besuchen von ausserhalb. Danach folgt Schritt Nummer drei: die Unterstützung in der Bevölkerung gewinnen.

NGOs als HelfershelferInnen

Wie mit Dörfern zu verfahren ist, wo sich die Militärs schon einer gewissen Unterstützung sicher sind, verweist das Handbuch auf Beispiele aus dem Vietnamkrieg. Im Rahmen des so genannten Combined Action Plan hatten damals jeweils rund fünfzehn Marines zusammen mit zwanzig einheimischen Sicherheitskräften die Kontrolle über ein Dorf übernommen. Dort bildeten sie weitere Leute aus und versuchten, es so zum Bollwerk gegen Aufständische auszubauen. Eine ähnliche Strategie verfolgte etwa auch das guatemaltekische Regime - unterstützt von den USA - in den achtziger Jahren mit ihren Wehrdörfern.

Detailliert wird im Handbuch das Zusammenspiel von militärischen, politischen und sozialen Eingriffen untersucht. Dabei müsse es Ziel der Militärs sein, mit Polizeikräften, Uno-Organisationen, staatlichen Hilfsorganisationen, privaten Unternehmen, aber auch nichtstaatlichen Organisationen (NGOs) zusammenzuarbeiten. Alle Anstrengungen sollen dem Ziel der Aufstandsbekämpfung dienen. Bei der Planung und Koordination habe die US-Botschaft im betreffenden Land eine Schlüsselfunktion. Die Rolle der NGOs ist den Militärs wichtig. Sie würden gerade auf lokaler Ebene eine wichtige Funktion spielen. Jedoch: «Viele dieser Organisationen widersetzen sich einer Anbindung an militärische Kräfte, Anstrengungen für eine Form von Zusammenarbeit sind nötig.» Die militärischen Führungsleute sind denn auch angehalten, die Beteiligten zu beeinflussen und überzeugen, damit sie die Ziele der Aufstandsbekämpfung teilen. Immerhin sollten Aktivitäten koordiniert werden, um eine auf Vertrauen basierende Stimmung zu schaffen.

Als Beispiel für militärisch-zivile Kooperation auf lokaler Ebene beschreibt das Handbuch die Provincial Reconstruction Teams in Afghanistan. Diese Teams gibt es seit Ende 2002. Sie bestehen aus 50 bis 300 SoldatInnen sowie aus VertreterInnen multinationaler Entwicklungsorganisationen und diplomatischem Personal. Das Leitungsteam bilden VertreterInnen der US-Hilfsorganisation USAID, des US-Aussenministeriums sowie der oder die KommandantIn der Einheit. Vor Ort werden dann Wiederaufbauprojekte angegangen. Viele NGOs hatten die Militarisierung des Wiederaufbaus scharf kritisiert (siehe WOZ Nrn. 51/02 und 52/02). Ähnliche Projekte verfolgten die USA Ende der sechziger Jahre in Vietnam. Gemäss Handbuch ist die Zusammenarbeit mit zivilen Einrichtungen auch deshalb von grosser Bedeutung, weil man so an nützliche Informationen herankommt. Das ermöglicht eine bessere Einschätzung der Bevölkerung und erleichtert das Aufspüren von Aufständischen.

Das Handbuch ist online unter:
www.mcwl.usmc.mil
zu erreichen.

* Aus: Wochenzeitung WOZ, 13. Juli 2006


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