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"Wenn Kriege diskutiert werden, haben sie in Wahrheit längst begonnen"

Vernetzte Sicherheit verstehen – neue Kriege verhindern

Von Sevim Dagdelen *

Es ist in vielen Politikbereichen so, aber ganz besonders in der Außenpolitik: Man weiß gar nicht mehr, wogegen man eigentlich demonstrieren soll. Seit elf Jahren ist die Bundeswehr in Afghanistan und schlittert dort immer tiefer in den Krieg. Längst beschlossen ist von ihnen auch ein Einsatz der Bundeswehr in Mali, das die Europäische Union zu ihrem Schlachtfeld im Krieg gegen den Terror gemacht hat. Gegenüber den NATO-Partnern hat die Bundesregierung auch die Stationierung von Bundeswehrsoldaten und Patriot-Systemen in der Türkei an der Grenze zu Syrien zugesagt– angeblich nur zum Einsatz über türkischem Territorium, woran sich aber niemand mehr erinnern wird, wenn es etwa zum NATO-Bündnisfall kommen sollte oder im Sicherheitsrat doch noch irgend ein dubioses Mandat unter Kapitel VII beschlossen wird. Darüber vergisst man schon fast, dass die Bundeswehr auch noch im Kosovo auf alltäglicher Ebene eine völkerrechtlich inexistente Grenze gegen den Willen der Bevölkerung durchsetzt und eine zutiefst in Mafia-Strukturen verwobene, ebenfalls Völkerrechtswidrige Regierung absichert. Wenig ist auch zu hören über die Einsätze am Horn von Afrika, wo die Bundeswehr Soldaten für den Bürgerkrieg ausbildet, vermeintliche Piraten jagt und nun auch noch das Mandat erhalten hat, sporadisch das Festland unter Beschuss zu nehmen.

All das wären gute Gründe zu demonstrieren, es passiert jedoch ziemlich wenig. Vermutlich kennen das alle hier, dieses Gefühl, dass man aus diesem oder jenem Grund aktiv werden muss, zugleich aber gelähmt scheint, weil man an der Mobilisierungsfähigkeit zweifelt. Diese Lähmung erwischt uns zu einem sehr ungünstigen Zeitpunkt, denn es stehen in Syrien und dem Iran Kriege vor der Tür mit fatalen Auswirkungen, die es zu verhindern gilt.

Ich glaube aber, dass diese Lähmung kein Zufall ist und nicht – sozusagen – „an uns“ liegt. Ich möchte sogar eher von einer Krise sprechen, denn anders, als dieser Begriff in der Wirtschaftspolitik verwendet wird, markiert er keine Permanenz, sondern einen Wendepunkt.

Ich denke, diesen Wendepunkt können wir herbeiführen, wenn wir die Gründe für unsere Schwäche erkennen und die Methoden, mit denen wir gezielt geschwächt werden. Beides liegt meiner Ansicht nach wesentlich in dem begründet, was mit „vernetzter Sicherheit“ bezeichnet wird und nicht nur eine außenpolitische Strategie darstellt, sondern auch eine innenpolitische. Vernetzte Sicherheit heißt nicht nur, dass die Bundeswehr in Afghanistan mit humanitären Organisationen zusammenarbeitet, um wie sie sagt „Herzen und Köpfe“ zu gewinnen. Vernetzte Sicherheit heißt insgesamt „Sicherheitspolitik in einem deutlich ausgeweiteten Akteurskreis“. Vernetzte Sicherheit bedeutet den Ausbau internationaler „Sicherheitsarchitekturen“ als Entscheidungsinstanzen und die Ausrichtung der Sicherheitspolitik auf die Gesellschaften als Ganzes, in denen diese Entscheidungen durchgesetzt werden sollen.

Was heißt das? Das heißt unter anderem, dass die neuen Kriege gar keinen klar bestimmbaren Anfang haben und das ist ein wesentlicher Grund für unser Problem. Wenn Kriege diskutiert werden, haben sie in Wahrheit längst begonnen und der Rahmen, in dem sie diskutiert werden ist bereits abgesteckt. Nehmen wir das Beispiel der Patriot-Systeme. Hier soll mit Waffen und Soldaten ein Land unterstützt werden, das zutiefst in den syrischen Bürgerkrieg verstrickt ist, hier wird im Prinzip ein Rückzugsraum für eine mit Dschihadisten durchsetzte Bürgerkriegspartei militärisch abgesichert. Ich kann ihnen sagen, dass das sogar bei einigen Abgeordneten der anderen Oppositionsparteien und selbst der Regierungsfraktionen Unwohlsein hervorruft. Betrachten wir aber, wie dieser Eingriff in den syrischen Bürgerkrieg hierzulande diskutiert wurde. In der NATO und gegenüber der Türkei gab es längst eine Zusage von Seiten der Regierung, zur Debatte steht lediglich, ob es hierzu eine Abstimmung im Bundestag geben wird. SPD und Grüne und natürlich wir auch haben diese vehement eingefordert, die SPD und die Grünen haben jedoch zugleich signalisiert, dass sie zustimmen werden, wenn sie abstimmen dürfen.

Eine solche Abstimmung kann man sich eigentlich sparen, denn eine solche Abstimmung ist eigentlich nur dazu da, auch über den Bundestag hinaus Zustimmung zu generieren, weil alle diese Abgeordneten, die zustimmen, diese Zustimmung dann wieder in blumigen Worten von der „Bündnissolidarität“ und vermeintlichen Sachzwängen gegenüber ihren Wählern begründen wollen. Die LINKE. wird natürlich dagegen stimmen, aber diese sowohl grundsätzliche als auch im Einzelnen begründete Ablehnung einer imperialistsichen und militarisierten deutschen Außenpolitik, diese genuin politische Haltung wird uns als „Politikverweigerung“ vorgeworfen – un mit als Anlass genommen, uns vom Verfassungsschutz beobachten zu lassen. Mit Demokratie hat dieses Verständnis von Politik, das nur Zustimmung umfasst, nichts zu tun.

Ich bin mir sogar unsicher, ob und warum die Türkei wirklich genau diese deutschen Systeme zur Luftabwehr braucht und ob die Initiative wirklich von der Türkei ausgeht. Darüber wird bemerkenswert wenig gesprochen. Mir passt diese vermeintliche Anfrage der Türkei etwas zu gut zur im Mai von der NATO beschlossenen Strategie der „Smart Defence“ und ihrem europäischen Pendant, dem Pooling und Sharing. Hier geht es darum, dass militärische Fähigkeiten „vergemeinschaftet“ und gemeinsam angeschafft werden und zugleich die Parlamente (und die Öffentlichkeiten) damit ihre Kontrolle über den Haushalt und den Einsatz dieser Kapazitäten verlieren. Im Grunde schöpfen die demokratisch nicht legitimierten und immer weniger kontrollierten Sicherheitsnetzwerke Soldaten und Steuermittel der Bevölkerung ab, ohne ihr Einfluss auf deren Verwendung zu geben. Das ist finsterstes Mittelalter, das hat mit Demokratie nichts zu tun. Letztlich werden auch Kriege so beschlossen und geführt. Zwar gibt es bei größeren, „robusteren“ – wie es heißt – Einsätzen der Bundeswehr noch Abstimmungen im Parlament, beschlossen sind die Kriege jedoch zu diesem Zeitpunkt längst.

Es gab keine Abstimmung über die Sanktionen, darüber, der syrischen Regierung die Legitimität abzuerkennen, darüber, mit den „Freunden Syriens“, die die Opposition bewaffnen, in ein Bündnis einzutreten oder darüber, mit der bewaffneten Opposition in Berlin Pläne für den „Tag danach“, den „Day After“ - nach deren militärischen Sieg - auszuarbeiten. Doch all das führte absehbar in den Krieg und wird womöglich gar noch in einen offenen Krieg gegen den Iran münden. Die Bundesregierungen wollen uns seit Jahren weis machen, dass sie sich von “Scheiternden Staaten“ bedroht fühle und verfolgen zugleich eine Politik, bei der mittlerweile fast im Wochenrhytmus Sanktionen verhängt dieser oder jener Regierung die Legitimität aberkannt oder diese oder jene Rebellengruppe als Regierung anerkannt wird. All dies ist zutiefst völkerrechtswidrig, führt in Bürgerkriege und eskaliert diese. Und diese Bürgerkriege werden dann wiederum genutzt, um die Bevölkerung mit wohlfeilen Kampagnen a la „Adopt a Revolution“, mit manipulierten Nachrichten und Bildern und Menschenrechtsdikursen von der Notwendigkeit einer Intervention zu überzeugen. Auch das ist Vernetzte Sicherheit.

Ich vermute, wir alle hier teilen die Analyse, dass der Krieg und die militärische Interessensdurchsetzung kapitalistsichen Staaten innewohnt und dass dieses zerstörerische und potentiell auch selbstzerstörerische Potential durch die demokratische Kontrolle der Regierungen vielleicht nicht eingehegt, aber zumindest reduziert werden kann.

Wir müssen diese Analyse meiner Meinung nach der Vernetzen Sicherheit anpassen, also auf internationale Sicherheitsnetzwerke ausdehnen, die sich jeder demokratischen Kontrolle entledigen und die Zivilgesellschaft gezielt manipulieren wollen. Meine Analyse besteht darin, dass diese internationalen Netzwerke ein noch viel zerstörerisches Potential aufweisen und zunehmend einen Automatismus entwickeln, immer größere Teile der Welt in ein Bürgerkriegsgebiet zu verwandeln. Ich glaube, dass das immer sichtbarer wird und neue Widerstände auf den Plan rufen wird. Denn die Distanz zwischen diesen Sicherheitsnetzwerken und der Bevölkerung, die sie ausbeuten und deren Sicherheit sie gefährden wird zunehmend unüberbrückbar. Das sehr weit verbreitete Kopfschütteln über den Friedensnobelpreises für die EU, während diese sich gerade als deutsches Instrument zur Intensivierung der Ausbeutung der europäischen Bevölkerungen erwies, werte ich als ein Zeichen hierfür. Ich möchte hier abschließend noch weitere Beispiele nennen, an die wir anknüpfen können.

Von herausragender Bedeutung ist meiner Auffassung nach die Tendenz, dass sich Menschen aus der Armee und aus den Behörden selbst von deren Agieren offen oder verdeckt distanzieren und Informationen an die Öffentlichkeit bringen, die vor dieser bewusst geheimgehalten werden. Diese Whistleblower haben einen immensen Beitrag geleistet, dass überhaupt über die Kriege in Afghanistan und Irak diskutiert wurde und dass ganz anders diskutiert wurde, als das von den Herrschenden gewünscht war. Wir waren da vielleicht zunächst noch etwas unerfahren oder überrascht, aber es wird uns sicher in Zukunft besser möglich sein, an solche Leaks anzuschließen, sodass aus ihnen eine wirklich breite öffentliche Debatte wird. Woran wir auch noch arbeiten müssen, ist wie wir diese Whistleblower besser schützen können.

Einen weiteren Anknüpfungspunkt wird die EU bieten, die sich immer mehr als demokratiefeindliches Instrument entpuppt und an politischer Legitimität einbüßt. Wir müssen uns entschieden gegen alle Versuche wenden, die parlamentarische Kontrolle auf europäischer und auf nationaler Ebene abzubauen und ich denke, dass wir dafür breiten Rückhalt gewinnen können, wenn wir das richtig kommunizieren.

Zugleich müssen wir anerkennen und kommunizieren, dass wir selbst – sowohl die Friedensbewegung, als auch die Gesellschaft als ganzes – in gewisser Weise Ziel einer militärischen Intervention, einer präventiven Aufstandbekämpfung sind. Die Bundeswehr dringt an Schulen und Hochschulen, um Kinder und zukünftige Eliten auf ihren Kurs zu bringen, sie versucht auch hier, „Herzen und Köpfe“ zu gewinnen und die Zivilgesellschaft zu manipulieren. Es wäre naiv, davon auszugehen, dass sie sich hierbei auf plumpe Kampagnen in der Bravo und öffentliche Gelöbnisse beschränkt und nicht vielleicht auch ausgefeiltere Kampagnen und geheimdienstliche Mittel anwendet. Die LINKE. und viele andere Organisationen der Friedensbewegung werden offiziell vom Verfassungsschutz überwacht, tatsächlich ist jedoch die gesamte Gesellschaft einer umfangreichen Überwachung und Manipulation ausgesetzt. Darüber müssen wir informieren und dem müssen wir Achtsamkeit und Solidarität entgegensetzen, aber auch das sind Punkte, an denen wir weit über das eigene Spektrum hinaus wirksam werden können.

Zuletzt müssen wir beginnen, Kriege dann zu verhindern, wenn sie vorbereitet werden und bereits diese Vorbereitungen öffentlich kritisieren. Hier gibt es m.E. bedeutende Fortschritte. Gerade der Bundesausschusses Friedensratschlag kritisiert oft bereits die Verhängung von Sanktionen und weist auf deren Eskalierende Wirkung hin.

In den letzten Jahren und Monaten hat auch die Thematisierung von und Beschäftigung mit der Rüstungsproduktion und strategischen Waffenlieferungen zugenommen. Wer will, dass Deutschland nicht weiter am Tod verdient, der muss sich für eine friedliche Außenpolitik einsetzen. Eine Außenpolitik, die die Bundeswehr aus allen Einsätzen zurückholt. Eine Außenpolitik, die sich nicht an den neuen Kriegen beteiligt. Beispielhaft sind auch die Diskussionen über eine Kampagne gegen Drohnen, eine Technologie, die Gefahr läuft, die Zahl der unbekannten und unerklärten Kriege massiv und quasi-automatisch zu erhöhen. Hier setzen die Aktivitäten der Friedensbewegung sehr früh an, an einem Punkt, wo die Debatte von den Kriegführenden noch nicht vorstrukturiert ist.

Nach meiner pessimistisch klingenden Einleitung möchte ich deshalb mit dem optimistischen Fazit enden, dass wir in nächster Zeit an Stärke gewinnen werden. Das ist allerdings auch nötig, denn die Gefahren sind immens.

* Sevim Dagdelen, MdB, Sprecherin Migrations- und Integrationspolitik, Sprecherin Internationale Beziehungen in der Bundestagsfraktion Die Linke.
Beitrag auf dem Friedenspolitischen Ratschlag am 1./2. Dezember 2012 an der Uni Kassel (Abschlusspodium)



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