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Europa vor dem Sprung?

Die europäische Rüstungsindustrie ist kein Papiertiger

Von Peter Strutynski*

Der europäischen Rüstungsindustrie wird nachgesagt, sie sei weder in technologischer Hinsicht noch von ihrem Umfang her mit der US-amerikanischen Militärindustrie zu vergleichen und auf Jahre, vielleicht Jahrzehnte hinaus kein ernsthafter Konkurrent auf dem Weltwaffenmarkt [1]. Diese negative Bewertung der militärrelevanten Produktionskapazitäten in der EU wird von interessierter Seite mit dem Hinweis darauf verbunden, dass die EU, selbst wenn sie wollte, auf absehbare Zeit keine hochgerüstete Weltmacht werden könne. Anders lautende Vermutungen, die sich etwa aus einschlägigen Artikeln des – vorläufig gescheiterten – EU-Verfassungsvertrags [2] (insbesondere Art. 41 und 309 ff) oder aus der Europäischen Sicherheitsstrategie (ESS 2003) herauslesen ließen, entbehrten also jeder realistischen Grundlage. „Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird“, lautet denn auch die beschwichtigende Botschaft an die Kritiker aus den Reihen der Friedensforschung und Friedensbewegung. Wer von „Militarisierung der EU“ rede, zeichne ein verzerrtes Bild von der nach wie vor friedlich und weitgehend zivil ausgerichtete Außen- und Sicherheitspolitik der EU.

Ich werde demgegenüber im Folgenden zu zeigen versuchen, dass die Warnungen vor einem hochgerüsteten EU-Europa durchaus eine reale Grundlage haben: in dem Willen der Regierungen der EU, den USA auch in militärischer Hinsicht „auf gleicher Augenhöhe“ gegenüber treten zu können (1), in der Größe der zusammengefassten Militärhaushalte der 25 EU-Staaten (2), in der beachtlichen Stellung der EU-Rüstungsindustrie auf den internationalen Waffenmärkten (3) und in den zahlreich vorhandenen Rüstungsproduktionskapazitäten in den EU-Staaten (4). Die heute schon recht ansehnlichen europäischen Rüstungsanstrengungen werden denn auch von neutralen Beobachtern und Analytikern „von außen“ in der Regel ernster genommen bzw. höher bewertet als hier zu Lande (5).

1 Das Ziel: Militärmacht Europa

Natürlich wird man keine ernsthafte Stimme aus der politischen Klasse der EU-Staaten finden, die offen dafür eintreten würde, dass Europa in militärischer Hinsicht auf das Niveau der Vereinigten Staaten hochgerüstet werden solle, um ihnen gleichsam auf dem potenziellen Schlachtfeld um die Herrschaft der Welt Paroli bieten zu können. Viel eher herrscht die Ansicht vor, dass die EU ihre Anstrengungen vergrößern müsste, um in Europa selbst, also im „eigenen Haus“ für Ordnung und Frieden zu sorgen. Diese Meinung wird aus den als demütigend empfundenen Erfahrungen aus den Balkankriegen der 90er Jahre genährt. Erst mit dem entschlossenen Eingreifen der USA in Bosnien, so schien es, habe der Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien beendet werden können. Und auch die Lektion aus dem NATO-Krieg gegen (Rest-)Jugoslawien 1999 lautete: Ohne die satellitengestützten logistischen Fähigkeiten der US-Streitkräfte hätte dieser Krieg, der überwiegend aus der Luft bestritten wurde, nicht geführt und das Kosovo nicht „befreit“ werden können.

In Wirklichkeit verhielt es sich in beiden Fällen etwas anders: Das „Versagen“ der Europäer im Fall Bosnien lag keineswegs im militärischen Bereich, sondern war politischer Natur; die EU und die europäischen NATO-Staaten waren uneinig über die Neuordnung im ehemaligen Jugoslawien, so wie sie schon 1991/92 uneinig gewesen waren hinsichtlich der Anerkennung Sloweniens und Kroatiens. Und beim NATO-Krieg 1999 war den europäischen NATO-Partnern schlagartig klar geworden, dass sie keineswegs gleichberechtigte Partner waren, sondern vollkommen von den Lageanalysen der USA abhängig waren. Nur die USA verfügten nämlich bislang über ein umfassendes weltraumgestütztes Kommunikations- und Navigationssystem. Dementsprechend wird im „Planziel 2010“ („Headline Goal 2010“) unter Ziffer 5g als Ziel bis zum Jahr 2010 formuliert: „Verbesserung der Leistung auf allen Ebenen der EU-Operationen durch Entwicklung der erforderlichen Kompatibilität und Vernetzung aller – sowohl terrestrischen als auch weltraumgestützten – Kommunikationausrüstungen und –mittel“. (Planziel 2010)

Wie auch immer die „Finalität Europas“[3], die Herstellung einer europäischen Militärmacht, ideologisch begründet wird: Fest steht, dass sie im – vorläufig gescheiterten – Verfassungsentwurf bereits Verfassungsrang erhält. So heißt es in Artikel I-16 unmissverständlich: „Die Zuständigkeit der Union in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik erstreckt sich auf alle Bereiche der Außenpolitik sowie auf sämtliche Fragen im Zusammenhang mit der Sicherheit der Union, einschließlich der schrittweisen Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik, die zu einer gemeinsamen Verteidigung führen kann.“ Ähnlich ist es in Artikel I-12 formuliert, in dem die „Arten der Zuständigkeiten“ der Union beschrieben sind (Ziffer 4: Verwirklichung einer „gemeinsamen Verteidigungspolitik“). Dabei darf der im Verfassungstext und in anderen EU-Dokumenten durchgängig verwendete Begriff „Verteidigung“ nicht im Sinne der klassischen „Verteidigung“ oder des völkerrechtlich in der Charta der Vereinten Nationen verankerten Rechts auf „Selbstverteidigung“ missverstanden werden. Gemeint ist vielmehr die angestrebte Fähigkeit der EU, auf allen Ebenen der „Sicherheitspolitik“ operieren zu können: Neben der klassischen Verteidigung gegen einen äußeren Angriff enthält die Palette der militärischen „Missionen“ auch „Kampfeinsätze im Rahmen der Krisenbewältigung einschließlich Frieden schaffender Maßnahmen und Operationen zur Stabilisierung der Lage nach Konflikten“. Außerdem soll auch zur „Bekämpfung des Terrorismus beigetragen werden, unter anderem auch durch die Unterstützung für Drittländer bei der Bekämpfung des Terrorismus in ihrem Hoheitsgebiet“ (Art. III-309). „Damit ist die EU als Militärunion konstitutionell festgeschrieben“, schreibt Verfassungsrechtler Gregor Schirmer in einer Expertise für die Linksfraktion im Europäischen Parlament (Schirmer 2004)

Dies kommt auch zum Ausdruck in der Europäischen Sicherheitsstrategie (ESS 2003)[4] sowie in zahlreichen praktischen militärpolitischen Maßnahmen der EU (vgl. hierzu und zum Folgenden: AG Friedensforschung 2005). Die zeitweise Übernahme des Kommandos in Makedonien (April 2003), die selbständige Durchführung (zusammen mit Frankreich) an einer EU-Mission im Kongo im Sommer 2003, die Übernahme des Kommandos in Bosnien-Herzegowina ab Januar 2005 sind Beispiele dafür, dass die EU ihre im Aufbau befindlichen Militärkapazitäten weltweit einzusetzen gedenkt. Die deutsche Bundesregierung, die zu den treibenden Kräften dieser Entwicklung zählt, feiert denn auch alle noch so kleinen Militärbeiträge der EU als Meilensteine auf dem Weg in eine global agierende europäische Armee der Zukunft (Giegerich/Wallace 2004). Mit dem Aufbau europäischer Einsatztruppen in einer Gesamtstärke von 80.000 Soldaten sowie den beschlossenen 13 "Battle-Groups" (hoch mobile, rund 1.500 Mann starke Kampfeinheiten, die innerhalb von fünf Tagen einsatzbereit sein sollen) schafft sich die EU auch die militärischen Fähigkeiten, auf anderen Kontinenten in bewaffnete Konflikte einzugreifen oder – im noch schlimmeren Fall – solche Konflikte heraufzubeschwören.

In ihrer Zielsetzung und im Denkansatz gibt es zahlreiche Ähnlichkeiten zwischen der ESS und der ein Jahr zuvor vom US-Präsidenten erlassenen „Nationalen Sicherheitsstrategie“ (NSS 2002). Präventiv- und präemtive Schläge zum Beispiel werden nicht prinzipiell ausgeschlossen, allerdings wird der ESS-Ansatz durch Nennung anderer Herausforderungen an die europäische Sicherheit wie Armut, Hunger, Krankheiten, Ressourcenverknappung und Migration genannt. Doch die sicherheitspolitischen Konsequenzen dieser mit der Globalisierung einhergehenden Prozesse werden nicht thematisiert. Entwicklung als Voraussetzung für Sicherheit wird zwar in der Lageanalyse der ESS genannt, in den Zielformulierungen jedoch nicht mehr berücksichtigt, weil das Dokument auf einen ausschließlich militärischen Sicherheitsbegriff ausgerichtet ist.

Ein solcher militärisch gewendeter Sicherheitsbegriff findet seine Ergänzung in militärischer Hardware. Hierfür hat sich die Europäische Union das schon erwähnte Planziel 2010 gegeben, worin festgeschrieben ist, was die europäischen Einsatzkräfte und battle groups bis zum Jahr 2010 an Schlagkraft, Verlegefähigkeit und Kommunikationsstruktur erreichen müssen, um die in der ESS und der Verfassung formulierten Aufgaben erfüllen zu können. Zentral sind hierbei folgende Aussagen: „Interoperabilität, aber auch Verlegefähigkeit und Durchhaltefähigkeit werden für die Mitgliedstaaten im Mittelpunkt stehen und Dreh- und Angelpunkt des Planziels 2010 sein. Die Union wird also Streitkräfte benötigen, die eine größere Flexibilität, Mobilität und Interoperabilität aufweisen, wobei die verfügbaren Ressourcen – gegebenenfalls durch Zusammenlegung und gemeinsame Nutzung der Mittel – noch besser genutzt und die Reaktionsschnelligkeit der multinationalen Einsatzkräfte erhöht werden müssen.“ (Ziffer 3) Und: „Ein Schlüsselelement des Planziels 2010 ist die Fähigkeit der EU, in Reaktion auf eine Krise Streitkräftepakete, die einen hohen Bereitschaftsgrad aufweisen, entweder als eigenständig operierende Kräfte oder im Rahmen einer umfassenderen Operation als Befähigungskräfte für die nachfolgenden Phasen zu verlegen. (...)“ (Ziffer 4) Noch weiter ins Detail geht diesbezüglich ein Papier aus dem EU-Institut für Sicherheitsstudien, das von der Europäischen Kommission in Auftrag gegeben wurde und im Mai 2004 als Vorschlag für ein „Weißbuch“ vorgelegt wurde. Auch wenn es kein verbindliches Papier ist: In ihm werden die Weichen dafür gestellt, dass die EU in absehbarer Zeit die Fähigkeit zu „Expeditionskriegszügen“ in aller Welt erhält (vgl. Oberansmayr 2005). Präziser könnte die „Finalität“ Europas nicht definiert werden.

2 Rüstungsausgaben auf hohem Niveau und wieder ansteigend

In der Nachkriegsentwicklung gab es – wenn man von der unmittelbaren Nachkriegszeit absieht, als überall Truppen demobilisiert und Waffen und Kriegsgerät abgerüstet wurden – nur ein Periode, in der in nennenswertem Umfang die weltweiten Ausgaben für Rüstung und Militär zurück gingen: Das war vom Ende der 80er Jahre bis Mitte der 90er Jahre der Fall. Weltpolitischer Hintergrund dieser erfreulichen Entwicklung – immerhin sanken die Militärausgaben um ca. ein Drittel – waren die Veränderungen in der damaligen Sowjetunion, die sich sicherheitspolitisch übrigens schon vor Gorbatschow abzeichneten, die auch den Westen in Zugzwang brachten. Selbst ein so „harter Knochen“ wie der eingefleischte Kalte Krieger und damalige US-Präsident Ronald Reagan war gezwungen, Rüstungskontrollvereinbarungen mit dem Osten abzuschließen und nukleare Abrüstungsschritte mitzumachen. Das Ende der Sowjetunion und des Warschauer Pakts setzte verständlicherweise Hoffnungen auf eine kräftige „Friedensdividende“ frei: Mit dem Verschwinden der Kalten-Kriegs-Konstellation in der Weltpolitik, dem Ende der Blockkonfrontation oder der „Bipolarität“ zwischen den beiden Supermächten USA und UdSSR meinte man ein goldenes Zeitalter heranziehen zu sehen, in dem Abrüstung und Demilitarisierung, Frieden und weltweite Zusammenarbeit eine gedeihliche Entwicklung der Menschheit ermöglichen sollten. Die Charta von Paris als Gründungsakte der OSZE benennt als zentrale Aufgaben für Europa: „Sicherheit ist unteilbar, und die Sicherheit jedes Teilnehmerstaates ist untrennbar mit der aller anderen verbunden. Wir verpflichten uns daher, bei der Festigung von Vertrauen und Sicherheit untereinander sowie bei der Förderung der Rüstungskontrolle und Abrüstung zusammenzuarbeiten.“ (Charta 1990)

Nun hat sich die reale Geschichte nicht an diese Verheißung gehalten: Die Kriege auf dem Balkan, der zweite Golfkrieg 1991, der NATO-Krieg gegen Jugoslawien, der Afghanistan- und der Irakkrieg (seit 2001 bzw. 2003) haben genauso zu einem Revival militärischen Denkens beigetragen wie die andauernden Konflikt- und Kriegsherde im Nahen Osten, in Südasien sowie in Afrika. Der Trend zur Reduzierung von Militärausgaben, der ohnehin nicht alle Regionen der Welt gleichmäßig erfasst hatte (Südostasien und der Nahe Osten z.B. rüsteten in dieser Zeit sogar verstärkt auf, vgl. Strutynski 1995), wurde Ende der 90er Jahre wieder gebrochen. Seit 1997 stagnierten die weltweiten Rüstungsausgaben, um dann zu Beginn des neuen Jahrhunderts, insbesondere seit dem 11.9.2001 wieder stark anzusteigen.

Mitte dieses Jahrzehnts dürften die Militärausgaben das Niveau vom Höhepunkt des Kalten Kriegs wieder erreicht haben. Im neuesten Sipri-Jahrbuch, das im Juni 2005 vorgelegt wurde und das die Entwicklung des Jahres 2004 abbildet, heißt es, dass die weltweiten Rüstungsausgaben im vergangenen Jahr auf mehr als eine Billion Dollar gestiegen seien und damit fast wieder das Rekordniveau aus dem Kalten Krieg erreicht hätten. Knapp die Hälfte davon machten mit 47 Prozent die Ausgaben der Vereinigten Staaten aus. Zusätzlich zu seinem Budget habe das US-Verteidigungsministeriums seit 2003 etwa 238 Milliarden Dollar für den „Kampf gegen den Terror“ zur Verfügung gestellt, heißt es in dem Bericht. Allein die zusätzlichen Aufwendungen der US-Regierung für ihren "Krieg gegen den Terror" übersteigen alle Militärausgaben in Afrika, Lateinamerika und Asien (unter Einschluss Chinas, aber ohne Japan) zusammen.

Die Militärausgaben der Europäischen Union haben sich verhaltener entwickelt als in den USA. Bis heute haben die Europäer den Stand aus der Hochzeit des Kalten Kriegs Mitte der 80er Jahre nicht wieder erreicht, sie nähern sich ihm aber wieder an. Nicht ohne Stolz wird in der ESS auf die Verteidigungsausgaben der EU-25 verwiesen, die sich im Jahr 2003 bereits auf über 160 Mrd. EUR beliefen. Die EU gibt damit etwa so viel für das Militär aus wie Russland, China, der Nahe Osten, Afrika und Lateinamerika zusammengenommen. Sie bleibt damit aber immer noch weit hinter den US-Militärausgaben zurück – sowohl was die absolute Höhe des Budgets (die USA geben etwa doppelt so viel aus wie die Europäer), als auch was den jeweiligen Anteil am Bruttosozialprodukt betrifft: Die Vereinigten Staaten wenden rund 3,7 Prozent des BSP für Militär und Rüstung auf, die EU dagegen nur rund zwei Prozent. Dieses Missverhältnis ist denn auch immer wieder Anlass für die USA und für die NATO, eine Erhöhung der Rüstungsanstrengungen der NATO-Staaten (die meisten von ihnen gleichzeitig EU-Staaten) einzufordern. Bei einem NATO-Treffen der Verteidigungsminister in Berlin im September 2005 forderte dessen Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer, dass die Mitgliedsländer ihre Verteidigungsausgaben erhöhen müssten, u.a. um ihren gewachsenen Aufgaben in Afghanistan besser entsprechen zu können und um die „Transformation“ der nationalen Streitkräfte in den nächsten 10 bis 15 Jahren bewerkstelligen zu können (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.09.2005). Diese Forderung zielt insbesondere auf Länder, deren Verteidigungsausgaben relativ „gering“ erscheinen. So geben beispielsweise Österreich nur rund ein Prozent und die Bundesrepublik Deutschland 1,5 Prozent des BSP für das Militär aus (vgl. IISS 2004, S.353).[5]

Eine Erhöhung der Verteidigungsanstrengungen fordert aber auch die EU selbst. Der Artikel 41 Abs. 3 des EU-Verfassungsentwurfs verpflichtet die Mitgliedstaaten dazu, „ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern“. Den Kritikern der Verfassung, die diesen Artikel immer als „Aufrüstungsverpflichtung“ interpretiert haben, wurde in der Verfassungsdiskussion regelmäßig entgegengehalten, dies sei mitnichten der Fall, eine „Verbesserung“ der militärischen Fähigkeiten könne auch durch mehr Kooperation, die Verringerung von „Duplizierungen“ und durch das Erzielen von Synergieeffekten erreicht werden. Die ESS indessen verlangt daneben unmissverständlich: „Damit wir unsere Streitkräfte zu flexibleren, mobilen Einsatzkräften umgestalten ... können, ... müssen die Mittel für die Verteidigung aufgestockt und effektiver genutzt werden.“

3 EU: Shooting Star auf dem internationalen Rüstungsmarkt

Im Sommer 2004 machte das Stockholmer Friedensforschungsinstitut Sipri bei der Vorlage seines Jahresberichts 2004 darauf aufmerksam, dass die EU-Staaten im Jahr 2003 auf dem internationalen Waffenmarkt erstmals die USA hinter sich gelassen hätten (Frankfurter Rundschau, 28.04.2004). Mit 4,7 Mrd. US-Dollar übertrafen die EU-Rüstungsausfuhren die der USA, die 4,4 Mrd. Dollar erzielten. Mehr Waffen als die EU exportierte in diesem Jahr Russland. Der weltweite Waffenmarkt wurde damit zu über 80 Prozent von diesen drei Großen beherrscht (Russland 37 %, EU 25 %, USA 23,5 %). Der außergewöhnliche Erfolg der EU resultierte einerseits aus der starken rüstungsindustriellen Basis, die insbesondere in Großbritannien, Frankreich und Deutschland vorhanden ist (auf diese drei Länder entfallen 80 % der EU-Waffenausfuhren), andererseits aber aus einem vorübergehenden starken Rückgang der US-Exporte. Das Sipri rechnete für die kommenden Jahre wieder mit einer Rückkehr der USA an die Spitze der Waffenexporteure, da sie vor allem große Aufträge auf dem Gebiet der Kriegsflugzeuge abgeschlossen haben; deren Realisierung würde sich in der Statistik der nächsten Jahre niederschlagen. Einer Analyse aus dem Brookings-Institut zufolge haben die USA im Mehrjahresvergleich immer noch die Nase vorn (Jones 2005, S. 26). So beliefen sich die Waffenexporte aus den USA von 1999 bis 2003 auf knapp 30 Mrd. Dollar, diejenigen Russlands auf 26 Mrd. Dollar. Dahinter folgte Frankreich mit 6,3 Mrd., Deutschland mit 5,2 Mrd. und Großbritannien mit 4,2 Mrd. Dollar. Die EU insgesamt kam auf rund 19 Mrd. (eig. Schätzung) Dollar und blieb somit deutlich hinter den USA zurück.

Die Zahlen zeigen noch etwas anderes: Der Anteil der Rüstungsexporte der USA am weltweiten Waffenhandel nahm in den letzten Jahren kontinuierlich ab: von 46,9 Prozent im Jahr 1999 auf 23,5 Prozent im Jahr 2003. Nach Sipri-Angaben fielen die USA im Jahr 2004 wiederum hinter Russland zurück (5,4 gegenüber 6,2 Mrd. Dollar), während die EU-Staaten ihr Ergebnis aus dem Vorjahr in etwa halten konnten (Sipri 2005).[6]

Der – politisch zweifelhafte - Erfolg der EU ist umso erstaunlicher, als sich die Konkurrenten Russland und USA keinerlei selbst auferlegten Restriktionen unterwerfen, sondern ihre Waffenexporte allein an politischer Zweckmäßigkeit ausrichten, während die EU einem zweifachen System von Exportbeschränkungen unterliegen: den jeweiligen nationalen Gesetzen und Gepflogenheiten sowie den europäischen Verordnungen und Empfehlungen. Diese sind aber weniger restriktiv, als ihre normativen Beschreibungen erwarten lassen. So hat innerhalb der EU der im Juni 1998 vom Rat angenommene „Verhaltenskodex der Europäischen Union für Waffenausfuhren“ eine politische Regelung geschaffen. Der EU-Kodex beruht auf den 1991/1992 von den Europäischen Räten in Lissabon und Luxemburg verabschiedeten acht Kriterien, vor allem auf
  • der Achtung der Menschenrechte im Endbestimmungsland (Kriterium 2),
  • der inneren Lage im Endbestimmungsland als Ergebnis von Spannungen oder bewaffneten Konflikten (Kriterium 3),
  • dem Erhalt von Frieden, Sicherheit und Stabilität einer Region (Kriterium 4),
  • dem Verhalten des Käuferlandes gegenüber der internationalen Gemeinschaft (Kriterium 6),
  • dem Risiko der Umleitung der Ausrüstung im Käuferland oder des Reexports in Krisengebiete (Kriterium 7). (Verhaltenskodex 1998.)
Darüber hinaus wurde ein Verfahren gegenseitiger Unterrichtung über abgelehnte Ausfuhrentscheidungen ("Denials") etabliert. Will ein Mitgliedstaat eine "im wesentlichen gleichartige" Ausfuhr genehmigen, die von einem Partnerstaat vorher abgelehnt wurde, verpflichtet ihn der Kodex dazu, zuvor in Konsultationen mit dem EU-Partner einzutreten. Dieser Konsultationsmechanismus soll der Förderung der europäischen Harmonisierung der Exportkontrollpolitiken dienen. Ein nüchterner Blick auf die reale Entwicklung der Exporte einzelner Länder und die immer wieder auflebende Diskussion um das von der EU beschlossene Waffenembargo gegenüber China zeigen indessen, dass die Praxis der Waffenausfuhren mit den hehren moralischen Zielen der EU wenig gemein hat. Aus einer Übersicht über die Empfängerländer von Rüstungsgütern aus den großen EU-Staaten Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien geht hervor (IISS 2004, S. 360), dass in den Jahren 2000 bis 2003 Waffen im Wert von 19,4 Mrd. US-Dollar in den Nahen Osten und Nordafrika geliefert wurden, in Länder also, in die zumindest nach Kriterium 2 (Menschenrechte) und Kriterium 4 (Stabilität der Region) nie und nimmer hätte geliefert werden dürfen.

Die Perspektiven des europäischen Rüstungshandels sind – aus Sicht der Rüstungsindustrie - gleichwohl nicht durchweg günstig. Die USA sind nämlich dabei, die EU im Wettbewerb um Exportanteile ausgerechnet auf deren eigenem Terrain zu schlagen, indem sie die Waffen- und Ausrüstungslieferungen an die neuen EU-Mitglieder forcieren. Von den neuen EU-Ländern hat Polen den größten Bedarf an NATO-kompatibler Ausrüstung und Technologie. So lieferten die USA an Polen im Jahr 2003 Rüstungsgüter im Wert von 3,6 Mrd. Dollar – das war weit mehr als das doppelte von dem, was die USA in die damaligen EU-Staaten (EU-15) lieferten (Jones 2005, S. 25). An diesem Beispiel wird deutlich, dass die von Washington forcierte NATO-Osterweiterung, die stets einen Schritt vor der EU-Osterweiterung erfolgte, auch rüstungspolitisch ein strategischer Schachzug im globalen Wettbewerb mit dem „alten Europa“ (Rumsfeld) war.

4 Konzentration und Kooperation der europäischen Rüstungsindustrie

Die europäische Rüstungsindustrie hat nach der historischen Wende 1990/91 zunächst den rückläufigen Bedarf an Waffen und Ausrüstungen zu spüren bekommen. Dies betraf vor allem den Bereich der konventionellen Großwaffensysteme (Kampfpanzer, Schiffbau), in dem ein starker Beschäftigungsabbau zu verzeichnen war. Parallel dazu begann der strategische Umbau der Armeen vieler NATO- und EU-Staaten, in dessen Gefolge deren Ausrüstung und Bewaffnung ihr Gesicht veränderten. Bei der Transformation der Streitkräfte ging und geht es um das Erreichen „neuer kampfkraftbezogener Fähigkeiten“, wobei „weder Plattformen noch Munition für sich genommen .. die Lösung (sind), sondern die Vernetzung beider Elemente mit Sensoren und Informationssystemen“ (Holger Mey [7], zit. n. BDI 2003, S. 7).

Das bereits mehrfach erwähnte Planziel 2010 enthält die entsprechenden planerischen Vorgaben, der Aufbau der auch im EU-Verfassungsentwurf vorgesehenen Europäischen Verteidigungsagentur (früher „Rüstungsagentur“) soll die nötigen Kompetenzen auf europäischer Ebene in den Bereichen Fähigkeiten, Forschung, Beschaffung und Rüstung zusammenfassen. Speziell zum „Aufbau eines transparenteren und offeneren europäischen Marktes für Verteidigungsgüter“ (EDEM: „European Defence Equipment Market“) hat die Europäische Kommission am 11. März 2003 eine entsprechende Mitteilung verabschiedet, die schließlich in ein „Grünbuch“ mündete, das die Kommission im September 2004 vorlegte (Kommission 2004). Darin wird die Zersplitterung der an sich beträchtlichen Militärausgaben der EU-Mitgliedstaaten auf die nationalen Märkte beklagt. Die einzelstaatlichen Märkte reichten nach der Analyse der Kommission „nicht mehr aus, um Produktionsmengen zu erreichen, die eine Amortisierung der hohen Kosten für Forschung und Entwicklung von Waffensystemen ermöglichen.“ Verschärft werde diese Situation noch durch die „Zersplitterung der Anstrengungen für Forschung und Entwicklung“ (ebd. S. 5). Die bescheidenen Fortschritte in den letzten zehn Jahre seien hauptsächlich auf Kooperationsprogramme zwischen einzelnen Staaten beschränkt geblieben, die eine Öffnung der Märkte nur für die jeweils daran beteiligten Länder zuließen; die Auftragsvergabe orientierte sich an den Kriterien einer rein nationalen Industriepolitik. Der größte Teil der Aufträge geht nach wie vor an nationale Lieferanten.

Dem besonderen Charakter der Rüstungsindustrie ist es geschuldet, dass die Staaten nach wie vor über ihre ausschließlich politisch begründete Produktnachfrage die Größe des Rüstungsmarktes festlegen und über die Finanzierung von Forschung und Entwicklung das technologische Know-how der Industrie beeinflussen. Schließlich neigen die Einzelstaaten dazu – EU-Integration hin oder her – die nationalen Rüstungsindustriekapazitäten als Mittel zur Verfolgung ihrer eigenen strategischen Interessen anzusehen. Dies impliziert den Schutz der Vertraulichkeit der nationalen Rüstungsprogramme und ihrer technischen Spezifikationen (ebd.). Diese Souveränität der Einzelstaaten in Sicherheitsfragen wurde im Vertrag von Rom 1958 (EG 1958) ausdrücklich festgeschrieben und bis heute nicht geändert. Danach kann „jeder Mitgliedstaat (..) die Maßnahmen ergreifen, die seines Erachtens für die Wahrung seiner wesentlichen Sicherheitsinteressen erforderlich sind, soweit sie die Erzeugung von Waffen, Munition und Kriegsmaterial oder den Handel damit betreffen“ (Art. 296 EG).

Auch bei internationalen Rüstungskooperationen, die in den letzten Jahren innerhalb der EU zugenommen haben, bleibt die Rückbindung an die nationale Ebene in der Regel über das Prinzip des „juste retour“ erhalten. Dieses Prinzip besagt, dass die beteiligten Staaten in dem Umfang an der gemeinschaftlichen Produktion partizipieren, in dem sie sich an der Finanzierung des Projekts beteiligt haben. Daran konnte auch die Gründung der Organisation für die Rüstungszusammenarbeit OCCAR 1996 nichts ändern. Zum einen sind lediglich fünf – allerdings gewichtige – Staaten daran beteiligt (Belgien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien); zum andern besteht die Änderung im wesentlichen nur darin, dass das Juste-retour-Prinzip nun nicht mehr unbedingt auf jedes einzelne Produktionsprogramm anzuwenden ist, sondern global über mehrere Jahre und auf mehrere Programme. Der Hauptvorteil dieser Vereinbarung besteht in der größeren Flexibilität der Programme. Mit dem Beschluss zur Gründung der aus dem EU-Verfassungsentwurf bekannten „Europäischen Verteidigungsagentur“ (European Defence Agency, EDA) im Juli 2004 versprach sich der Rat einen qualitativen Sprung zu mehr internationaler Kooperation bei der Planung und Abstimmung von Rüstungsprogrammen und deren industriepolitische Umsetzung. Der EDA, die Anfang 2005 ihre Arbeit in Brüssel aufgenommen hat, gehören mit Ausnahme Dänemarks alle EU-Mitgliedstaaten an; außerdem sind die NATO-Staaten Norwegen und Türkei an der Arbeit der Agentur beteiligt. Hauptaufgaben der Agentur sind die Verbesserung der militärischen Fähigkeiten der EU zur „Krisenbewältigung“ sowie die Förderung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Rüstungsindustrie. Eine wichtige Rolle spielt darüber hinaus die Unterstützung von Forschungsprojekten, die auf die Stärkung des industriellen und technologischen Potenzials Europas im Verteidigungsbereich ausgerichtet sind.

Wichtige Weichenstellungen zur Restrukturierung der europäischen Rüstungsindustrie haben die führenden Unternehmen, unterstützt von den jeweiligen nationalen Regierungen, aber auch schon in der Vergangenheit vollzogen. Trendsetter waren die Unternehmen der Luft- und Raumfahrt, die mit der EADS ein veritables Gemeinschaftsunternehmen aus der (deutschen) DASA, der (französischen) Aerospatiale und der (spanischen) CASA zusammengeschoben haben. Größer als die EADS ist in Europa nur noch der britische Konzern BAE Systems, der zudem über einen ausgezeichneten Zugang zum Pentagon und damit zum us-amerikanischen „Markt“ verfügt. BAE Systems setzt in den USA mehr um als in Großbritannien. „Damit ist BAE Systems der führende amerikanische Konzern in Europa und umgekehrt der führende europäische Konzern in den USA.“ (Heidbrink 2004, S. 135.) Zudem sind EADS und BAE Systems – und darüber hinaus Finmeccanica (Italien), Thales und Dassault Aviation (beide Frankreich) über eine Reihe von joint ventures miteinander verbunden, z.B. in der zivilen Airbus-Produktion, in der Raketenproduktion (MBDA), in der Raumfahrt (Astrium) und bei Kampfflugzeugen (Eurofighter). Gut im Rennen – sogar gegenüber den kanadischen und us-amerikanischen Konkurrenten - liegt auch das Gemeinschaftsunternehmen Eurocopter (aus MBB und Aerospatiale) auf dem Gebiet der Militärhubschrauber. Eins der größten Beschaffungsprojekte der nächsten Jahre realisiert die deutsch-französische Military Airbus, die insgesamt 196 Großraumtransporter im Wert von mindestens 24 Mrd. Euro produzieren wird, wozu Bestellungen aus acht Ländern vorliegen.

Weniger erfolgreich waren die Bemühungen der Rüstungsproduzenten in den Bereichen der Land- und Marinerüstung. Hier kann bisher im wesentlichen nur von einer Konsolidierung auf nationaler Ebene gesprochen werden. Dies betrifft etwa den Sektor der gepanzerten Fahrzeuge, der in Deutschland, Frankreich und Großbritannien je eigene Hersteller hat. In Deutschland sind das beispielsweise die schon früher konsolidierten Rheinmetall und Krauss Maffei-Wegmann, die untereinander eng kooperieren, z.B. beim Gepanzerten Transportfahrzeug GTK, in Frankreich der staatlich beherrschte GIAT-Konzern, in Großbritannien Land Systems, ein im September 2004 vollzogener Zusammenschluss von RO Defence und Alvis unter dem Dach von BAE Systems.

Auch bei der Marinerüstung blieben die europäischen Kooperationsanstrengungen bisher auf halbem Weg stecken. Dabei gab es hochfliegende Pläne, ein europäisches Marine-Systemhaus nach dem Vorbild des Militär-Airbus zu erreichten. Ein Papier aus der deutschen Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) empfahl z.B. die Gründung einer Art „maritimen EADS“, dessen Kern deutsche und französische Werften/Rüstungsunternehmen bilden sollten (Becker/Marx 2005, S. 19 f). Im Sommer 2005 wurden die Pläne einer Fusion aus dem Thyssen-Krupp-Konzern mit der französischen Staatswerft DCN vorerst auf Eis gelegt. Zuvor allerdings waren Anfang des Jahres die drei deutschen Großwerften HDW in Kiel, Blohm+Voss in Hamburg und die Nordseewerke in Emden zur Thyssen-Krupp Marine Systems GmbH (TKMS) zusammengeschlossen worden. Gerade diese Fusion im nationalen Rahmen schuf ein Unternehmen, das nach Bekundung der Geschäftsführung nun auch auf eigenen Füßen stehen kann. „Mit unseren sieben Werften in Deutschland, Schweden und Griechenland sind wir bereits eine europäische Marinegruppe“, erklärte TKMS-Vorstandsvorsitzender Klaus Borgschulte (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.06.2005). In einem Zusammengehen mit DCN sähe er keinen Zusatznutzen, da TKMS bereits sehr hohe Marktanteile bei Korvette, Fregatten und U-Booten besäße. Hinzu kommt ein EU-eigenes Problem, das die sonstigen Bemühungen um eine starke europäische Rüstungsindustriebasis konterkariert: Die Europäische Kommission wird TKMS aus wettbewerbsrechtlichen Gründen den Zusammenschluss mit auf gleichem Arbeitsgebiet tätigen anderen Marinegroßwerften wohl gar nicht erlauben.

5 Tiger oder Bettvorleger? Ein Fazit

Die zuletzt genannten Beispiele lassen eine gewisse Skepsis aufkommen, was das Zusammenwachsen der europäischen Rüstungsindustrie zu wirklich ernsthaften Konkurrenten gegen nordamerikanische, russische, chinesische oder japanische Konkurrenz auf dem Weltmarkt betrifft. Doch nicht jeder Tiger, der zum Sprung ansetzt, muss als Bettvorleger landen. Die europäische Rüstungsindustrie spielt in der Weltliga der Waffenschmiede zwar nicht die erste Geige, hat aber in vielerlei Hinsicht ein gewichtiges Wort mitzureden. Einschätzungen, welche die europäische Rüstungsindustrie fast nur noch mitleidsvoll in der Vergangenheitsform erwähnen (z.B. Gose 2003) haben sich selbst überlebt.

Im SPIEGEL Online war im Sommer d.J. folgende Episode zu lesen: Zwei amerikanische F-15-Jäger haben bei einer zufälligen Begegnung mit einem Eurofighter im Lake District in England einen Schein-Luftkampf angezettelt. Die US-Jets positionierten sich hinter dem Eurofighter, verfolgten ihn einige Kilometer weit und visierten ihn mit dem Radarzielgerät an – um anzudeuten, dass sie den Eurofighter in einem echten Luftkampf abgeschossen hätten. Die Briten ließen sich auf das Spiel ein. Der Eurofighter – übrigens nur eine zweisitzige Trainingsmaschine – schüttelte die US-Jets ab und manövrierte sie aus. Am Ende brachte er sich sogar hinter den beiden F-15 in Schussposition, was im Ernstfall wohl den Abschuss der US-Jets bedeutet hätte. (Spiegel online, 23.06.2005) Nun muss man wissen, dass die F-15 als eines der besten weil wendigsten und sichersten Kampfflugzeuge der Welt gilt. Die Schlappe für die US-Industrie konnte also kaum größer ausfallen.[8]

Natürlich beweist diese Episode nichts. Es darf aber nicht vergessen werden, dass die europäische Rüstungsindustrie technologisch von einem hohen Niveau aus operiert, über große Erfahrung verfügt und – nicht zuletzt – eine ordentliche Größe aufweist. Ein Blick in die Liste der weltgrößten Rüstungsproduzenten weist immerhin 17 europäische Firmen unter den Top-50 aus. Unter den zehn größten befinden sich vier „Europäer“: BAE Systems (Platz 4), Thales (7), EADS (8), Finmeccanica (9), wobei diese Rangfolge sich allein aus dem Rüstungsumsatz ergibt. Europäische Rüstungsunternehmen zeichnen sich im Gegensatz zu den us-amerikanischen Konzernen häufiger durch eine breitere Produktpalette auch im zivilen Bereich aus. Die EADS z.B. hatte im Jahr 2004 einen Rüstungsumsatz von acht Mrd. US-Dollar, aber einen Gesamtumsatz vom fast 38 Mrd. Dollar. Demgegenüber hat der weltgrößte Rüstungskonzern, die us-amerikanische Firma Lockheed Martin zwar einen Rüstungsumsatz vom 30 Mrd. Dollar, der Gesamtumsatz beläuft sich aber nur auf knapp 32 Mrd. Dollar.[9]

Was der europäischen Rüstungsindustrie entgegenkommt, sind einmal die wieder ansteigenden Militärhaushalte der EU-Staaten, die von der Industrielobby seit langem gefordert wurden. Zum zweiten befinden sich die meisten europäischen Armeen, insbesondere die deutsche Bundeswehr, auf dem Weg der Transformation von Verteidigungsarmeen zu Interventionsstreitkräften, die einer in großen Teilen neuen und neuartigen Ausrüstung, Bewaffnung und Logistik bedürfen. Einer Berechnung der geplanten Ausgaben für die 30 größten Beschaffungsprojekte der deutschen Bundeswehr in den nächsten zehn Jahren ergibt einen Mehraufwand von rund 70 Mrd. Euro (Henken 2004). Drittens muss die Neuaufstellung und Ausrüstung europäischer Eingreiftruppen und der sog. Battle groups in Betracht gezogen werden. Viertens gibt es einen großen Umstrukturierungsbedarf bei Streitkräften und Bewaffnung der Neumitglieder der EU, die allerdings zu einem guten Teil im Rahmen der NATO und zu Gunsten us-amerikanischer Rüstungslieferanten verlaufen wird. Eine offene Frage bleibt allerdings, was aus den Rüstungsbetrieben und Beschäftigten in den mittel- und osteuropäischen Staaten wird. Immerhin gibt es in den sechs MOE-Staaten Bulgarien, Polen, Rumänien, Slowakei, Tschechien und Ungarn ein Potenzial von über 300 Rüstungsunternehmen mit mehr als 100.000 Beschäftigten (Kogan 2005; eig. Berechn.). Ein Teil von ihnen wird als Zulieferer für die (west)europäischen Systemführer in Frage kommen.

US-amerikanische Analysen kommen denn auch zu positiven Einschätzungen der europäischen Rüstungskapazitäten. Zwar mag hier zuweilen die Furcht vor zunehmender Konkurrenz aus der alten Welt den Blick trüben und Warnungen vor der Formierung einer „bipolaren industriellen Basis“ ausstoßen (Guay 2005). Aus den Analysen spricht aber auch die Erkenntnis, dass im Europa der 25 eine breite technologische und industrielle Grundlage für eine überlebensfähige europäische Rüstungsindustrie vorhanden ist. Die übertriebenen Sicherheitsvorkehrungen und Technologietransfer-Kontrollen der US-Administration, die zu einer rigiden Abschottung des Rüstungsmarkts geführt haben, sodass europäische Unternehmen allenfalls als Zulieferer von Subsystemen geduldet werden, müssten gelockert werden und einer stärkeren Bereitschaft zur transatlantischen Kooperation Platz machen. Andernfalls würden die europäischen Produzenten geradezu gezwungen den Fehdehanschuh aufzunehmen und sich vorwiegend als Konkurrent im transatlantischen Verhältnis zu positionieren. Eine europäische Analyse aus dem Hause des der NATO nahe stehenden IISS empfiehlt eine solche Politik (IISS 2005). Um sich nicht in eine noch stärkere technologische Abhängigkeit von den USA zu bringen, sollten sich die europäischen Rüstungsunternehmen, zu Gruppen wettbewerbsfähiger größerer Einheiten zusammenschließen. Das sei im übrigen gut für den Steuerzahler und für die Aktionäre. Dass dies mit Unterstützung der Europäischen Verteidigungsagentur eine realistische Perspektive sei, liegt an der Größe der EU und ihren beträchtlichen Verteidigungshaushalten. „European troops are active around the world, and likely to be more so. They will need new aircraft, ships, vehicles, systems, services, maintenance and training. Europe is not as backward in technology terms as it is often painted. It is still a big market for Suppliers.” (Ebd.)

Und genau hierin liegt das friedenspolitische Problem.

Fußnoten
  1. Symptomatisch für diese Sichtweise ist die Website www.europa-digital, die nach eigenen Angaben zu den meist besuchten Netzangeboten in Sachen Europa gehört. Im September 2004 wurde ein Artikel veröffentlicht, in dem es einleitend heißt: „Von der Modernität der amerikanischen Streitkräfte können die europäischen Verteidigungsminister nur träumen. Während die USA bereits den High-Tech-Krieg führen, bilden veraltete Waffensysteme aus der Zeit des Kalten Krieges noch immer das Rückgrat der meisten Armeen in der EU.“ (Cyrus 2004).
  2. Wir zitieren aus der letzten, am 29. Oktober 2004 in Rom unterzeichneten und am 16. Dezember 2004 im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlichten Fassung (Verfassungsvertrag).
  3. So lautete der Titel eines Vortrags von Werner Ruf auf der letzt jährigen Sommerakademie: Ruf 2005.
  4. Die Europäische Sicherheitsstrategie wurde im Dezember 2003 auf dem EU-Gipfel in Brüssel verabschiedet. Ein erster Entwurf hierzu war vom EU-Beauftragten für Außen- und Sicherheitspolitik, Xavier Solana, im Juni desselben Jahre auf dem Gipfel in Thessaloniki vorgelegt und gut geheißen worden.
  5. Der deutsche Verteidigungsminister Dr. Peter Struck äußerte sich zurückhaltend zu diesem Ansinnen. Gleichwohl erklärte er die Bereitschaft, das deutsche Engagement in Afghanistan zu erhöhen. Ende September trat der Deutsche Bundestag zu einer Sondersitzung zusammen und beschloss auf Antrag der Bundesregierung die Aufstockung der deutschen ISAF-Truppen in Afghanistan von 2.250 auf 3.000 Soldaten.
  6. Die Zahlenangaben unterscheiden sich je nach benutzter Quelle z.T. erheblich. Auffallend ist insbesondere das Auseinanderfallen der Werte für den Rüstungsexport aus Großbritannien, der bei Sipri erheblich unter den Werten liegt, die das Londoner IISS bereithält.
  7. Prof. Dr. Holger Mey ist Direktor des in Bonn ansässigen Instituts für Strategische Analysen e.V. (ISA), einem der führenden deutschen Think-Tanks in sicherheitspolitischen Fragen
  8. Britische Vornehmheit sorgte im übrigen dafür, dass der Vorfall, er hatte sich schon im Jahr 2004 ereignet, geheim gehalten wurde. Man wollte den engsten Verbündeten nicht in Verlegenheit bringen.
  9. BAE Systems könnte es hinsichtlich der Gesamtumsatzzahlen noch mit dem Drittgrößten der Welt, Northrop Grumman, Thales und Finmeccanica mit den viert- und fünftplatzierten Rüstungsriesen Raytheon und General Dynamics aufnehmen. (Zahlen bei: Guay 2005, S. 3 und 6.)
Literatur
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  • Peter Becker, Sebastian Marx (2005): „Europäische Champions“ – Aufgaben europäischer Industriepolitik? Fallbeispiel maritime Industrie, Diskussionspapier der FG1, 2005/01, Februar, SWP Berlin; Internet: http://www.swp-berlin.org/common/get_document.php?id=1196
  • Michael Berndt, Ingrid El Masry, Werner Ruf, Peter Strutynski (2005): 60 Thesen für eine europäische Friedenspolitik, hrsg. von der AG Friedensforschung an der Uni Kassel, Kassel
  • Charta (1990): CHARTA VON PARIS FÜR EIN NEUES EUROPA (vom 21.11.1990), Paris; Internet: http://www.osce.org/documents/mcs/1990/11/4045_de.pdf
  • Oliver Cyrus (2004): Kavallerie oder Eurofighter? In: europa-digital; Internet: http://www.europa-digital.de/aktuell/dossier/esvp04/ruestung.shtml
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  • Giegerich, Bastian, Wallace, William (2004): Not Such a Soft Power: The External Deployment of European Forces. In: Survival Bd. 46, Nr. 2/2004, S. 163-182
  • Stefan Gose (2003): Europäische Rüstungsindustrie – keine Schranken für den militärisch-industriellen Komplex? In: ÖSFK (hg.) Europa Macht Frieden. Die Rolle Österreichs, Münster, S. 229-245
  • Terrence R. Guay (2005): THE TRANSATLANTIC DEFENSE INDUSTRIAL BASE: RESTRUCTURING SCENARIOS AND THEIR IMPLICATIONS; April (carlisle-paper; Internet: http://www.strategicstudiesinstitute.army.mil/pdffiles/PUB601.pdf)
  • Stephan Heidbrink (2004): Ein europäischer militärisch-industrieller Komplex? In: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Nr. 58, Juni, S. 125-138
  • Lühr Henken: Krieg und ökonomische Interessen. Im Internet (eingestellt am 25. März 2005): /themen/export/gew-henken.html
  • IISS-The International Institute for Strategic Studies (2004): The Military Balance 2004-2005, London (Oxford University Press)
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  • Seth G. Jones (2005): The Rise of Europe’s Defense Industry, May 2005 (The Brookings Instution; http://www.brookings.edu)
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  • Planziel 2010: Vorgelegt vom Politischen und Sicherheitspolitischen Komitee (PSK) der EU am 4. Mai 2004. Internet: /themen/Europa/planziel2010.html)
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  • Gregor Schirmer (2004): EU als Militärunion verfasst. Internet: /themen/Europa/verf-schirmer.html
  • SIPRI 2004: SIPRI YEARBOOK 2004: ARMAMENTS, DISARMAMENT AND INTERNATIONAL SECURITY, Stockholm
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  • Peter Strutynski (1995): Gegen den Strom: Wettrüsten in Ostasien, in: ami-antimilitarismus information, 10/95, S. 28-34
  • Verfassungsvertrag (2005): Vertrag über eine Verfassung für Europa (Luxemburg: Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften)
  • Verhaltenskodex der Europäischen Union für Waffenausfuhren, angenommen vom Rat der EU am 8. Juni 1998; Internet: http://www.auswaertiges-amt.de/www/de/infoservice/download/pdf/friedenspolitik/abruestung/eu-verhakodex.pdf
* Dr. Peter Strutynski, Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Politikwissenschaft; AG Friedensforschung an der Uni Kassel; Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag


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