Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Gewehrmunitionsanlage für die Türkei

Bundesregierung gibt grünes Licht - Medico: "Skandal!"

Es ist nur schwer zu fassen: Während die Bundesregierung die Lieferung von Kampfpanzern des modernen Typs Leopard 2 an die Türkei mit Hinweis auf die Menschenrechtsverletzungen bis auf weiteres ablehnt, hat sie klammheimlich grünes Licht für die Lieferung einer deutschen Anlage zur Herstellung von Gewehrmunition an Ankara gegeben. Dies berichtet der Berliner "Tagesspiegel" am 24. August 2000. Der Vertrag über das 90-Millionen-Mark-Geschäft wurde am Mittwoch (23.08.00) in Ankara unterzeichnet. Vertragspartnerin des deutschen Lieferanten ist das türkische Verteidigungsministerium.

Im Bericht des Tagesspiegel heißt es weiter:
"Die türkische Armee braucht in den kommenden Jahren neue Gewehrmunition, weil die Nato die gesamte kleinkalibrige Munition für die Infanterien ihrer Mitgliedsstaaten umrüstet. Das Nato-Kaliber 7.62 wird Schritt für Schritt auf 5.56 umgestellt, was auch in der Türkei zu einem Bedarf an einer neuen so genannten Produktionslinie zur Munitionsherstellung geführt hat. Aus einer internationalen Ausschreibung für die Produktion der neuen Patronen ging die deutsche Firma Fritz Werner Industrie-Ausrüstungen GmbH in Geisenheim bei Wiesbaden als Sieger hervor. Die Firma hatte bereits in der Vergangenheit Maschinen zur Munitionsherstellung in die Türkei geliefert; auch an Rüstungsgeschäften mit anderen Ländern ist das Unternehmen mit seinen 350 Mitarbeitern beteiligt. Fritz Werner ist eine hundertprozentige Tochterfirma der zum MAN-Konzern gehörenden Ferrostahl AG; nach eigenen Angaben verzeichnete Fritz Werner im Geschäftsjahr 1998/99 einen Auftragseingang von 350 Millionen Mark.

Wie aus gut unterrichteten Kreisen verlautete, trafen die Voranfragen von Fritz Werner wegen des Türkei-Geschäfts bei der Bundesregierung auf ein wohlwollendes Echo. Es gebe "Signale, wonach das Geschäft möglich ist", hieß es. Ohne solche Zusicherungen wäre der Vertragsabschluss mit Ankara nicht möglich. Deutsche Rüstungslieferungen an die Türkei sind wegen der Menschenrechtslage in dem Nato-Land ein hochsensibles Thema. Anders als bei der Technologie zur Herstellung von Gewehrmunition lehnt die Bundesregierung eine Lieferung von Kampfpanzern an Ankara ab.

In der Türkei sorgt diese Haltung Berlins schon seit langem für Verärgerung. Offiziell steht die Entscheidung der Bundesregierung über einen Export des Leopard-2-Panzers an die Türken zwar noch aus, weil sich die Erprobungen der angebotenen Panzer durch die türkische Armee in die Länge ziehen und Ankara zudem von Geldsorgen geplagt wird. Doch die Bundesregierung hat mehrfach klargestellt, dass Ankara erst dann mit einem Ja zur Panzerlieferung rechnen kann, wenn sich die Menschenrechtslage in der Türkei entscheidend verbessert.

Das Interesse des türkischen Konkurrenten Griechenland an deutschen Panzern wird den Unmut der Türken über diese deutsche Haltung noch verstärken. Die Bundesregierung hatte in diesen Tagen ihre Bereitschaft erklärt, eine mögliche Lieferung von Leopard-2-Panzern an Griechenland mit einer Milliardenbürgschaft abzusichern. Athen setze seine gegen die Türkei gerichtete Aufrüstung fort, kommentierte die Zeitung "Milliyet" am Mittwoch.

Der türkische Generalstab dürfte deshalb mit Befriedigung zur Kenntnis genommen haben, dass sich die rot-grüne Regierung nicht bei allen Rüstungsgeschäften so restriktiv verhält wie beim Thema Panzer. Schließlich wird es auch in Zukunft noch einen Bedarf der türkischen Armee an Rüstungsgütern aus verbündeten Staaten geben. So werden die türkischen Soldaten wegen der Umrüstung in der Nato in den kommenden Jahren nicht nur neue Munition brauchen, sondern auch die dazu gehörenden neuen Gewehre. Und auch dabei könnten deutsche Firmen eine wichtige Rolle spielen. Bisher jedenfalls schießt die türkische Infanterie mit dem in Lizenz hergestellten Gewehr G 3 des deutschen Herstellers Heckler & Koch."

Dazu medico international in einer eiligen Presseerklärung am 24. August 2000:

DER SKANDAL DIESER KOALITION:

NEUE MUNITION FÜR WEITERE MENSCHENRECHTSVERLETZUNGEN
BUNDESREGIERUNG LIEFERT ANLAGE ZUR HERSTELLUNG VON GEWEHRMUNITION AN DIE TÜRKEI


medico international erklärt:
Während selbst der jüngste Bericht des Auswärtigen Amtes zur Lage der Menschenrechte in der Türkei zu einem durchaus negativen Ergebnis kommt, liefert die Bundesregierung jetzt ausgerechnet eine Anlage zur Herstellung von kleinkalibriger Gewehrmunition an die Türkei.

Das Geschäft über 90 Millionen DM, das die Firma Fritz Werner (Geisenheim), abwickelt, bedeutet einen flagranten Verstoß gegen die zum Jahreswechsel neu gefaßten Rüstungsexportrichtlinien der Bundesregierung, in denen das Menschenrechtskriterium festgeschrieben wurde.

Benötigt wird die neue Munition vom NATO-Kaliber 5.56 wegen ihrer hohen Durchschlagskraft und ihrer Zielgenauigkeit und Reichweite unter anderem für den Nahkampf in den Berggebieten des kurdischen Ostens.

Den Sturmgewehren und Patronen der Firmen Fritz Werner und Heckler & Koch sowie deren Lizenznehmern fielen die meisten der 38 000 Toten des Krieges in Kurdistan zum Opfer.

ERNEUT WURDE DIE DEUTSCHEN ÖFFENTLICHKEIT VOR VOLLENDETE TATSACHEN GESTELLT.
Wieder wurde heimlich, still & leise "gehandelt". Notwendig aber wären Transparenz und die Beachtung des enschenrechtskriteriums vor jeglichem Entscheid über Waffenlieferungen.

Der Forderung nach Transparenz und Öffentlichkeit und nach Respekt vor den Menschenrechten haben sich seit Anfang dieses Jahres anläßlich eines AUFRUFES von medico international Tausende von Bürgerinnen & Bürgern der Bundesrepublik angeschlossen.

Wir übermitteln heute die Botschaft der Menschenrechtsvereinigungen in der Türkei, die mit "blankem Entsetzen" die Lieferung einer ganzen Munitionsfabrik durch Deutschland zur Kenntnis nehmen.

Zu weiteren Beiträgen über Rüstung und Rüstungsexport

Zurück zur Homepage