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Russland setzt den KSE-Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa aus

Moskau schlägt Tür nicht zu - NATO-Staaten sollen angepasstes Abkommen ratifizieren

Von Hans Voß *

Nachdem die Duma und der Föderationsrat in Moskau vor wenigen Wochen einmütig für eine Aussetzung des Vertrages über die Begrenzung der konventionellen Streitkräfte und Rüstungen in Europa (KSE) votierten und Präsident Wladimir Putin am 30. November das entsprechende Gesetz unterzeichnet hat, tritt das einjährige Moratorium in der Nacht zum Donnerstag in Kraft.

Russland fühlt sich – zumindestens zeitweilig – nicht mehr an die Verpflichtungen des KSE-Vertrages gebunden. Musste das sein, wird sich mancher fragen? Schließlich handelt es sich beim KSE-Vertrag um das einzige erfolgreiche europäische Abrüstungsabkommen, das nach dem Ende des Ost-West-Konflikts beträchtliche Begrenzungen von Streitkräften und Rüstungen bewirkte. Besteht nicht die Gefahr, dass das Erreichte aufs Spiel gesetzt und eine neue Runde des Wettrüstens eingeleitet wird?

Russische Politiker betonen nachdrücklich, dass Russland keineswegs den KSE-Prozess aufgeben wolle. Es gehe vielmehr darum, diesem Prozess neuen Schwung zu verleihen. Das Moratorium stelle eine Reaktion auf die permanente Verzögerung der NATO bei der Ratifizierung des 1999 überarbeiteten KSE-Vertrages dar. Während der Ursprungsvertrag durch die sicherheitspolitischen Veränderungen auf dem Kontinent (Auflösung des Warschauer Vertrages und NATO-Osterweiterung) seine Wertigkeit verloren hat, setzten die NATO-Staaten den angepassten Vertrag unter fadenscheinigen Begründungen nicht in Kraft. Damit ist der Abrüstungsprozess in Europa ins Stocken geraten. Für die weitere Ausdehnung der NATO-Strukturen nach Osten ist ein Freiraum entstanden.

Russland hingegen ist einer der wenigen Vertragsstaaten, die das Abkommen von 1999 ratifiziert haben. Glaubt man Moskau, will die russische Führung durch das Moratorium ihr Interesse an der Fortsetzung des KSE-Prozesses zum Ausdruck bringen – ansonsten hätte man den Vertrag ja kündigen können. Andererseits wolle sie aber auch klarstellen, dass der Nordatlantikpakt die Verantwortung für das Stocken des Abrüstungsprozesses trage. Man werde die eingegangenen Verpflichtungen zur Begrenzung militärischer Kräfte auch in den Flankenzonen zum Westen einhalten und die eigenen konventionellen Streitkräfte nicht »spürbar« erhöhen.

Allerdings, heißt es warnend in Moskau, müsse die NATO die Versuche aufgeben, ihre Streitkräfte an den Grenzen zu Russland zu verstärken. Mit Sorge werde die Tatsache verfolgt, dass die USA Brigaden nach Rumänien und Bulgarien verlegen wollten, was im Gegensatz zum angepassten KSE-Vertrag steht. Auch die in Sowjetzeiten in den baltischen Staaten geschaffene militärische Infrastruktur stellt für die NATO erkennbar eine Versuchung dar. Das alles könne Gegenreaktionen auslösen.

Während die russische Seite in der Frage der Massierung von Streitkräften an den Westgrenzen Zurückhaltung ankündigt, gab es in einem anderen Punkt jedoch einen klaren Einschnitt: Moskau stellt das auf dem Vertrag von 1990 basierende Kontroll- und Inspektionssystem ein und nimmt damit der NATO ein wesentliches Instrument zur Kontrolle und Überwachung russischer militärischer Strukturen aus der Hand.

Wie geht es weiter? Es wäre logisch, wenn die Vertragsstaaten in konkrete Verhandlungen über die Rettung und Weiterführung des Abrüstungsprozesses in Europa eintreten würden. Russland hat dazu seine Bereitschaft erklärt. Es hat zugleich vorgeschlagen, nicht nur über die Inkraftsetzung des angepassten KSE-Vertrages zu sprechen, sondern gleichzeitig über weiterführende Maßnahmen zur Gestaltung der europäischen Sicherheitslandschaft.

Die NATO-Staaten lassen bisher nicht erkennen, ob sie ihre Blockadehaltung aufgeben wollen. Nach wie vor beharren sie auf den Vorbedingungen, die Russland erfüllen müsse, bevor die Paktstaaten den Vertrag von 1999 ratifizieren. Russische Versicherungen, bei den Resttruppen, die in Georgien und Moldawien verblieben sind und deren Rückzug die NATO fordert, handele es sich nicht um Streitkräfte unter dem Regime der KSE, fruchten nichts. Die NATO-Staaten wähnen sich offenkundig in einer vorteilhaften Position. Sie glauben, Russland weiterhin unter Druck setzen zu können, während sie gleichzeitig keinen Beschränkungen hinsichtlich ihres weiteren Vordringens Richtung Osten unterworfen sind. Gespräche, die am Rande des OSZE-Ministertreffens Ende November in Madrid und vor wenigen Tagen im NATO-Russland-Rat geführt wurden, lassen keine Veränderungen bisheriger Positionen erkennen.

Das russische Moratorium scheint vor diesem Hintergrund lediglich eine Etappe in der Auseinandersetzung über die künftige europäische Sicherheitsarchitektur zu sein. Das letzte Wort ist hier noch nicht gesprochen.

Chronik

  • 9. März 1989: NATO und Warschauer Vertrag (WV) nehmen Verhandlungen über die Begrenzung von konventionellen Streitkräften und Rüstungen in Europa auf.
  • 19. November 1990: 22 NATO- und WV-Staaten unterzeichnen in Paris den aus 23 Artikeln und einem umfangreichen Anhang bestehenden KSE-Vertrag.
  • Juni 1992: Nach dem Ende der UdSSR unterzeichnen die Staaten der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) den Vertrag.
  • 6. Juli 1992: Unterzeichnung des KSE-1A-Abkommens, das Personalobergrenzen für die nationalen Streitkräfte festlegt, und einer »abschließenden Akte« durch 29 NATO-Staaten und ehemalige Mitglieder des Warschauer Vertrages in Helsinki.
  • 9. November 1992: Der KSE-Vertrag tritt in Kraft.
  • August 1999: Erste NATO-Ost- Erweiterung um Polen, Tschechien und Ungarn.
  • November 1999: 30 Vertragsstaaten unterzeichnen in Istanbul den an die neuen Verhältnisse angepassten KSE-Vertrag.
  • Mai 2002: Der NATO-Russland- Rat wird gebildet und soll u.a. Konsultationen über den KSE-Vertrag führen.
  • April 2004: Zweite NATO-Ost- Erweiterung um Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowenien und die Slowakei.
  • Juni 2004: Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Kasachstan, Moldova, Russland, die Ukraine und Belarus treten dem angepassten KSE-Vertrag bei.
  • April 2007: Russlands Präsident Putin kündigt ein Moratorium der Vertragserfüllung an.
  • November 2007: Die russische Duma und der Föderationsrat stimmen für eine Aussetzung des KSE-Vertrages.
(ND)



* Aus: Neues Deutschland, 12. Dezember 2007

Streit um Raketenschild

Von Olaf Standke *

Prag und Washington wollten laut Nachrichtenagentur CTK gestern erneut über den Bau einer US-amerikanischen Radaranlage in Mittelböhmen verhandeln. Morgen sollen in Budapest die Gespräche zwischen Russland und den USA über das umstrittene Raketenabwehrsystem in Osteuropa fortgesetzt werden. Auch der neue Warschauer Außenminister Radoslaw Sikorski ist bereit zu Konsultationen mit Moskau – die USA haben die Absicht, im Rahmen dieses Rüstungsprojektes ab 2011 Raketen in Polen zu stationieren.

Russland hat das Moratorium des KSE-Vertrages immer auch mit Washingtons Plänen für einen Anti-Raktenschirm gegen angeblich zu erwartende Attacken von »Schurkenstaaten« in Verbindung gebracht. Denn im Kreml sieht man USA-Raketen unmittelbar vor der Haustür als Bedrohung der eigenen Sicherheit. Zumal Präsident Bush trotz neuer Erkenntnisse seiner Geheimdienste an dem Vorhaben festhält. Verteidigungsminister Gates fordert weiter einen »Luft- und Raketenschutzgürtel« gegen drohende Raketenangriffe aus Iran, denn »auch wenn Teheran sein Atomprogramm ausgesetzt hat, bleiben seine konventionellen Waffen eine Bedrohung für Europa«, wie Pentagon-Sprecher Morrell jetzt behauptete.

Allerdings hat die Schlichtungskommission von Senat und Repräsentantenhaus im USA-Kongress den Baubeginn für entsprechende Basen in Osteuropa erst einmal auf Eis gelegt, »solange die Regierungen der betreffenden Staaten keine endgültige Zustimmung erteilen«. Im Pentagon-Etat für das Jahr 2008 wurden die von Präsident Bush angeforderten Gelder für den Raketenschild um 27 Prozent auf 225 Millionen Dollar reduziert und dürfen vorläufig nur zur Analyse und Planung verwendet werden.

Moskau zeigt sich derweil unzufrieden mit den Washingtoner Vorstellungen für die angekündigte Kooperation bei der Raketenabwehr. Die bisherigen Vorschläge, so Außenminister Lawrow (Foto: AFP), seien ungeeignet, die Besorgnisse Russlands zu zerstreuen und entsprächen auch nicht den ursprünglichen Versprechungen seiner Amtskollegin Rice.

Die Prager Regierung wiederum zeigte sich verwundert, dass die USA Russland angeboten haben, ständige Militärbeobachter auf der im westböhmischen Brdy für insgesamt 260 Millionen Dollar geplanten Radaranlage zuzulassen. Hier sollen einmal 200 Personen stationiert werden, darunter 120 USA-Militärs. Laut Umfragen ist eine Mehrheit der tschechischen Bürger grundsätzlich gegen die Aufstellung des Radars, das zur Zeit noch auf den Marshall-Inseln im Einsatz ist.

* Aus: Neues Deutschland, 12. Dezember 2007


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