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Jahresdiagnose 2007: Abrüstung in der Agonie!

Von Wolfgang Kötter *


Das zu Ende gehende Jahr könnte in die Geschichtsbücher als folgenschwerer Scheideweg eingehen, an dem die Welt die Weichen für ein neues, existenzbedrohendes Wettrüsten stellte.

Bisher gründet sich der Weltfrieden immer noch weitgehend auf dem Gleichgewicht des Schreckens: Weil keine Seite eine militärische Frontalkonfrontation überleben würde, verzichten alle auf den Wahnsinn eines Angriffs mit Massenvernichtungswaffen. Die wenn auch fragile strategische Stabilität aber geriete aus der Balance, sobald einem der Akteure ein doppelter Coup gelänge: Wenn nämlich die eigene Angriffsfähigkeit den Gegner entwaffnend schlagen könnte, während das Heimatland vor einer Vergeltung geschützt bliebe. Eine solche explosive Kombination - selbst wenn sie nicht bis zur Perfektion erreichbar ist - verführt die Politik zu leichtfertigem Hasardspiel mit dem Schicksal der Menschheit. "Der Staat, der das Abschreckungsgleichgewicht umstößt und das Drohmonopol an sich bringt, könnte fortan seinen politischen Willen diktieren", warnen deshalb zu Recht die deutschen Friedensforscher in ihrem aktuellen Jahresgutachten.

Da das aber niemand zulassen will, wird die wahrscheinliche Folge ein neues Wettrüsten sein. Die Symptome dafür sind bereits unübersehbar. Eine ganze Reihe wichtiger Rüstungskontrollverträge verschwindet von der internationalen Bildfläche. Es begann damit, dass die USA den ABM-Vertrag zur Begrenzung von Raketenabfangsystemen aufkündigten, weil er ihre Weltraumrüstungspläne störte. Andere, wie der Atomwaffensperrvertrag und der INF-Vertrag über das Verbot von Mittelstreckenwaffen, sind existentiell gefährdet, denn der Waffenhunger ist größer als die Vernunft. Das KSE-Abkommen über die Begrenzung konventioneller Streitkräfte und Rüstungen in Europa suspendierte Moskau aus Verärgerung über die NATO-Ostausdehnung. Andere, so die russisch-amerikanischen START- und SORT-Verträge über strategische Offensivwaffen, laufen ohne eine Nachfolgeregelung in den nächsten Jahren aus. Schließlich wurde auch noch die UN-Waffenkontrollkommission UNMOVIC aufgelöst, statt ihre in Irak gewonnenen Erfahrungen für die Verifikation internationaler Abrüstungsabkommen zu nutzen.

Vor den Augen der Welt stürzt so das über Jahrzehnte errichtete völkerrechtliche Abrüstungsgebäude in sich zusammen. "Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung liegen in einer präzedenzlosen Agonie", lautet die schonungslose Diagnose der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung HSFK. Ohne jegliche Verbote, Begrenzungen oder Regeln aber droht der bereits begonnene Rüstungswettlauf zukünftig in ungebremster Dynamik zu eskalieren. Alle fünf offiziellen Atomwaffenmächte - USA, Russland, Frankreich, Großbritannien und China - erneuern ihre Kernwaffepotentiale, gefolgt von den atomaren Nachzüglern Israel, Indien und Pakistan. Sie untergraben damit den Nichtverbreitungsvertrag und provozieren eine Renuklearisierung der Weltpolitik, an der weitaus mehr Länder teilnehmen als während des vergangenen Ost-West-Konflikts. So zählen zu den Staaten, die über die atomare Option nachdenken, beispielsweise längst nicht mehr nur die bislang am Pranger stehenden Iran und Nordkorea, sondern ebenfalls Ägypten, Argentinien, Australien, Brasilien Japan, Jordanien, Südafrika, Südkorea, Saudi-Arabien, Syrien, die Türkei, Venezuela die Vereinigten Arabischen Emirate und Vietnam. Ein nuklearer Rüstungswettlauf in ohnehin brennenden Konfliktherden und hochexplosiven Regionen wie beispielsweise im Nahen und Mittleren Osten aber wäre nicht nur für Sicherheitsexperten ein Albtraum. Andererseits zeigen die Fortschritte zur Lösung des Nuklearproblems mit Pjöngjang, dass auf dem Verhandlungsweg auch konstruktive Lösungen möglich sind.

Weltweit haben die Ausgaben für Streitkräfte und Rüstungen die 1,2 Billion Dollar-Marke erreicht. Fast die Hälfte davon entfällt auf die USA, mehr als 70 Prozent auf das westliche Bündnis insgesamt. Die Bundesrepublik gab 28,4 Milliarden Euro für das Militär aus. Die Rüstungsausgaben stiegen insgesamt auf 2,5 Prozent des globalen Bruttosozialprodukts, und die angehäuften Waffen werden immer öfter auch eingesetzt. Vier Millionen Menschen sind im zu Ende gehenden Jahr in über 30 bewaffneten Konflikten aus ihrer Heimat vertrieben worden.

Wie brisant sich die internationale Situation verschärfen kann, haben die vergangenen Monate gezeigt: China testete zu Jahresbeginn erstmals eine Anti-Satelliten-Rakete, während die USA ihre Weltraumwaffen bereits für den Einsatz erproben und Verhandlungen gegen die Militarisierung im Kosmos weiterhin blockieren. Mit der geplanten Stationierung von Elementen seiner Raketenabwehr in Tschechien und Polen reizt Washington Moskau zu Gegenmaßnahmen unter anderem mit neuen Raketentypen, die auf Ziele in Europa ausgerichtet sind.

Die Rüstungsproponenten begründen ihren Zerstörungsfeldzug gegen Abrüstungsverträge, indem sie diese als nicht mehr zeitgemäße "Relikte des Kalten Krieges" verunglimpfen. Aber das ist falsch. Gerade während der labilen Phasen internationaler Entwicklungen nach dem Ost-West-Konflikt verhinderten Rüstungskontrollabkommen das Abgleiten in Chaos und Gewalt. Umso mehr sind multilaterale Rüstungsbegrenzung und Abrüstung angesichts der neuen Herausforderungen durch die Globalisierung, neue regionale Konflikte und den internationalen Terrorismus unverzichtbar. Sie können weitere Rüstungsspiralen präventiv verhindern und die multipolare Weltpolitik stabilisieren. Noch ist es nicht zu spät, wenn jedes Land dazu einen Beitrag leistet. "Europa muss der gegenwärtig bedrohlich zunehmenden Militarisierung der internationalen Beziehungen eine überzeugende und weltweit als Vorbild geltende Zivilmacht entgegen setzen", mahnen Wissenschaftler in einem friedenspolitischen Appell anlässlich des 50. Jahrestages der legendären "Göttinger Erklärung" gegen Atomwaffen: "Die Bundesrepublik muss damit beginnen und frei von Massenvernichtungswaffen werden." Ein deutliches Signal aus Berlin könnte darin bestehen, die rund 20 immer noch in Deutschland lagernden US-Atomwaffen mit einer vielfachen Zerstörungskraft der Hiroshima-Bombe nach Hause zu schicken und die Freiheit von Massenvernichtungswaffen im Grundgesetz festzuschreiben.

Die fünf Staaten mit den größten Rüstungsausgaben

Land Militärausgaben
(US-Dollar in Mrd.)
Pro Kopf
(US-Dollar)
Anteil an Weltausgaben
USA 528,7 1 756 46%
Großbritannien 59,2 990 5%
Frankreich 53,1 875 5%
China* 49,5 37 4%
Japan 43,7 341 4%

* Die Angaben für China sind geschätzt.

Quelle: SIPRI Yearbook 2007


US-Atomwaffen in Europa

Land Ort Anzahl
Belgien Kleine Brogel 20
Deutschland Büchel 20
Großbritannien Lakenheath 110
Italien Aviano / Ghedi Torre 50/40
Niederlande Volkel 20
Türkei Incirlik 90
gesamt - 350

Quelle: Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS

* Dieser Beitrag erschien – gekürzt – unter dem Titel „Abrüstung in der Agonie!“ im Neuen Deutschland vom 24. Dezember 2007


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