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Größter Irrtum

Rüstungsausgaben auf neuer Rekordhöhe

Von Arnold Schölzel *

Zwei Nachrichten zum Thema Rüstung am Donnerstag. In der Hamburger Zeit wird Michael Brzoska, Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg, gefragt: »Was war der größte Irrtum Ihrer Disziplin?« -- »Daß wir mit dem Ende des Ost-West-Konflikts eine neue Welt bekommen würden. Es gibt immer noch 27000 Atomwaffen, die weltweiten Militärausgaben sind auf demselben Niveau geblieben. Das hätte vor 18 Jahren keiner in der Branche erwartet.«

Am selben Tag stellte der Direktor des Bonner »Internationalen Konversionszentrums« (BICC), Peter Croll, den Jahresbericht seines Instituts vor. Das Fazit lautet: Der Trend zu weltweiter Aufrüstung hält an. Die globalen Militärausgaben, die zwischen 2001 und 2006 real um etwa 30 Prozent zunahmen, beliefen sich 2006 auf geschätzte 1,179 Billionen Dollar. Laut Nachrichtenagentur ddp ist das eine neue Rekordhöhe.

Fast die Hälfte der weltweiten Militärausgaben entfiel, so das BICC, allein auf die USA. 2006 waren es 528 Milliarden US-Dollar. Weitere Spitzenreiter waren Großbritannien mit 59 Milliarden US-Dollar, Frankreich (53 Milliarden), China (50 Milliarden) und Japan (44 Milliarden). Die offizielle Entwicklungshilfe belief sich 2006 auf 104 Milliarden US-Dollar, fürs Militär gaben die in der OECD zusammengeschlossenen 30 Industriestaaten 891 Milliarden US-Dollar aus.

Für die Bundesrepublik konstatiert der Bericht eine Trendwende seit dem Jahr 2006. Die Militärausgaben beginnen wieder zu steigen, umgerechnet in US-Dollar wird 2010 die 40-Milliarden-Grenze erreicht. Der Export deutscher Rüstungsgüter nahm beträchtlich zu.

In einem Geleitwort zum BICC-Bericht schreibt der Abrüstungsexperte Hans Blix: »Wir erleben eine Neuauflage der Politik des Kalten Krieges ohne Kalten Krieg -- mit anderen Worten, einen Kalten Frieden.« Es gebe nicht nur einen Stillstand in den Abrüstungsverhandlungen, sondern sogar Tendenzen zu einem neuen Wettrüsten. Die US-Regierung strebt die Entwicklung einer neuen Kernwaffe an und steckt Milliarden Dollar in ihr Raketenabwehrprojekt. China hat mit dem Abschuß eines seiner Wettersatelliten seine Fähigkeit zu Militäraktionen im Weltraum unter Beweis gestellt. Rußland nahm die routinemäßigen Langstreckenflüge nuklear bewaffneter Flugzeuge wieder auf. Großbritannien beschloß, sich die Option offenzuhalten, sein nukleares U-Bootprogramm »Trident« fortzuführen.

Resümee: Das Niveau der Militärausgaben ist, anders als »die Branche« 1990 erwartete, nicht niedriger geworden, nicht gleich geblieben, sondern höher, erheblich höher geworden. Warum vertun sich die Experten derart? Darauf sind viele Antworten möglich. Eine lautet: Weil schon das Nachdenken über den Zusammenhang von Kapitalismus, Rüstung und Krieg unter Polizeivorbehalt steht. Siehe den jüngsten Verfassungsschutzbericht. So gehört sich das im Menschenrechtsimperialismus.

* Aus: junge Welt, 16. Mai 2008


D o k u m e n t i e r t

Pressemitteilung des BICC zum Jahresbericht 2007/08

Bonn, 15. Mai 2008

Gegen den Trend handeln -- Abrüstung wieder in Gang bringen

Anlässlich der Vorstellung seines Jahresberichtes 2007/2008 stellt das BICC (Internationales Konversionszentrum Bonn) fest, dass der Trend zu weltweiter Aufrüstung weiter anhält. Die globalen Militärausgaben, die zwischen 2001 und 2006 real um etwa 30 Prozent zunahmen, beliefen sich 2006 -- dem letzten Jahr, für das umfassende Zahlen vorliegen -- auf geschätzte 1,179 Billionen US-Dollar. Abrüstungsverhandlungen sind zum Stillstand gekommen und vieles deutet sogar auf ein neues Wettrüsten hin. Trotz dieser besorgniserregenden Entwicklungen beurteilt Abrüstungsexperte Hans Blix im BICC-Jahresbericht die Chancen für nukleare Abrüstung als nicht schlecht und fordert mehr Anstrengungen, die Weiterverbreitung dieser Waffen zu verhindern.

Fast die Hälfte der weltweiten Militärausgaben entfiel allein auf die Verteidigungsausgaben der USA -- insgesamt 528 Milliarden US-Dollar 2006. Die stetige Erhöhung des US-Militärhaushalts in den vergangenen sechs Jahren ist für einen beträchtlichen Teil des Gesamtanstiegs der weltweiten Verteidigungsausgaben seit 2001 verantwortlich. Weitere Spitzenreiter 2006 waren das Vereinigte Königreich (Großbritannien und Nordirland, 59 Milliarden US-Dollar), Frankreich (53 Milliarden US-Dollar), China (50 Milliarden US-Dollar) und Japan (44 Milliarden US-Dollar).

"Das Ungleichgewicht innerhalb der Gebergemeinschaft zwischen Militärausgaben und Entwicklungsausgaben blieb auch 2006 bestehen", betont Peter J. Croll, Direktor des BICC. Während sich die offizielle Entwicklungshilfe (ODA) 2006 auf 104 Milliarden US-Dollar belief, wendeten die 30 OECD-Mitgliedstaaten (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) 891 Milliarden US-Dollar für die Verteidigung auf -- also etwa neunmal soviel.

"Abgesehen von den Vereinigten Staaten sind es große aufstrebende Schwellenländer mit rasch wachsenden Volkswirtschaften, wie z.B. China, Indien, Indonesien und Pakistan, sowie Russland, in denen sich der aktuelle globale Trend zur Aufrüstung am deutlichsten zeigt", erklärt Croll. Im Gegensatz dazu waren die Militärausgaben in den hoch industrialisierten und wohlhabenden Ländern, insbesondere in Westeuropa, im Wesentlichen gleich bleibend oder sogar rückläufig.

Rüstungspolitische Trendwende in Deutschland

Auch die Militärausgaben Deutschlands sind im europäischen Vergleich eher gering und im Zeitraum zwischen 2001 und 2006 um insgesamt etwa neun Prozent gesunken. "2006 setzte jedoch eine Trendwende in der deutschen Rüstungspolitik ein: die Militärausgaben begannen wieder zu steigen -- zunächst von 27,87 Milliarden Euro 2006 auf 28,4 Milliarden 2007", unterstreicht BICC-Experte Marc von Boemcken. Das neue Haushaltsgesetz, das am 30. November 2007 vom Bundestag beschlossen wurde, sieht für das Jahr 2008 einen Verteidigungsetat von 29,45 Milliarden Euro vor. "Die schrittweise Erhöhung der deutschen Rüstungsausgaben soll offenbar auch in der künftigen Finanzplanung fortgesetzt werden und bis zum Jahr 2010 die 30-Milliarden-Marke überschreiten", prognostiziert der BICC-Experte.

Auch der Export deutscher Rüstungsgüter ins Ausland hat 2006 beträchtlich zugenommen. Der Wert der erteilten Einzel- und Sammelausfuhrgenehmigungen für Rüstungsgüter ist von 6,2 Milliarden Euro (2005) auf 7,7 Milliarden Euro (2006) gestiegen. Rüstungsexporte im Wert von 933 Millionen Euro gingen 2006 in Entwicklungsländer. "Deutschland ist damit in der Europäischen Union der größte, weltweit hinter den Vereinigten Staaten und Russland der drittgrößte Exporteur von Rüstungsgütern", stellt von Boemcken fest.

Gegensätzliche Trends in der globalen Sicherheit: Vom "Kalten Frieden" zu neuer Abrüstungsdynamik

"Wir erleben eine Neuauflage der Politik des Kalten Krieges ohne Kalten Krieg -- mit anderen Worten, einen Kalten Frieden", schätzt Prof. Hans Blix, Vorsitzender der Internationalen Kommission zu Massenvernichtungswaffen (International Commission on Weapons of Mass Destruction), Stockholm, und Mitglied des Internationalen Beirats des BICC, in seinem Beitrag im BICC-Jahresbericht ein. [Hier geht es zu dem Beitrag von Blix.]
Auch nach Einschätzung des international anerkannten Abrüstungsexperten Blix gibt es derzeit nicht nur einen Stillstand in den Abrüstungsverhandlungen, sondern sogar Tendenzen zu einem neuen Wettrüsten. So strebt die US-Regierung die Entwicklung einer neuen Standardkernwaffe an (Reliable Replacement Warhead -- "Zuverlässiger Austauschsprengkopf") und hat ihren Haushaltsansatz für das Raketenabwehrprojekt 2007 auf elf Milliarden US-Dollar aufgestockt. China hat seine Streitkräfte modernisiert und einen seiner Wettersatelliten abgeschossen, womit es seine Fähigkeit zu Militäraktionen im Weltraum unter Beweis gestellt hat. Russland hat die routinemäßigen Langstreckenflüge nuklear bewaffneter Flugzeuge wieder aufgenommen und Großbritannien hat beschlossen, sich die Option der Fortführung seines nuklearen U-Boot-Programms Trident offen zu halten. Gleichzeitig hat Nordkorea einen zumindest teilweise erfolgreichen Atombombentest durchgeführt und damit jegliche Zweifel der internationalen Gemeinschaft an seiner Kernwaffenfähigkeit ausgeräumt. Der Iran arbeitet weiter am Aufbau seiner Kapazität zur Urananreicherung, die in Zukunft dazu genutzt werden könnte, waffenfähiges Material herzustellen, was diese ohnehin sehr fragile Region weiter destabilisieren würde.

"Es ist an der Zeit, dass wir dieser Realität ins Auge sehen und die internationalen Abrüstungsanstrengungen mit neuem Elan angehen. Der Nichtverbreitungsvertrag bleibt der wichtigste Eckpfeiler der internationalen Bemühungen um eine atomwaffenfreie Welt", konstatiert Blix, ehemaliger Direktor der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) und früher Chef der UN-Rüstungskontrollkommission (UNMOVIC). Er schlägt folgende Maßnahmen vor:
  • Rückkehr aller Vertragsparteien des Nichtverbreitungsvertrages zu dessen ursprünglichen Abmachungen (Verpflichtung der unterzeichneten Nichtnuklearwaffenstaaten, keine Kernwaffen zu beschaffen, während die Nuklearmächte im Gegenzug dazu bereit sind, über die nukleare vollständige Abrüstung zu verhandeln).
  • Inkrafttreten des Umfassenden Kernwaffenteststoppvertrags (CTBT).
  • Vereinbarung über einen verifizierbaren Vertrag, der die Herstellung von spaltbarem Material für Waffenzwecke verbietet.
  • Schritte der Nuklearwaffenstaaten, ihre strategischen nuklearen Arsenale zu verkleinern.
  • Internationale Vereinbarungen unter Federführung der IAEO, die die Verfügbarkeit von Kernbrennstoff für zivile Reaktoren sicherstellen und gleichzeitig das Risiko der Kernwaffenverbreitung auf ein Minimum reduzieren.
  • Verfolgung von regionalen Ansätzen, insbesondere in Spannungsgebieten. Es wäre wünschenswert, die Staaten des Nahen Ostens (einschließlich des Iran und Israels) dazu zu bewegen, einer längerfristigen verifizierten Suspendierung der Produktion von hoch angereichertem Uran und Plutonium zuzustimmen, die durch internationale Zusagen über die Lieferung von Brennstoff für zivile Kernkraftwerke flankiert würde. Eine ähnliche Regelung ist für die koreanische Halbinsel vorgesehen.
  • Inspektionen durch internationale Experten, so wie sie von den Vereinten Nationen, der IAEA und der Chemiewaffenbehörde (OPCW) durchgeführt werden, und die nicht in Widerspruch zu nationalen Verifizierungsmaßnahmen stehen.
Hoffnungen knüpft Hans Blix an politische Veränderungen in den USA, an eine neue Generation internationaler Führungskräfte besonders in Washington und Moskau sowie an die kontinuierliche Arbeit von Abrüstungsexperten und --institutionen -- nicht zuletzt auch der Internationalen Kommission zu Massenvernichtungswaffen.

"Es sind zwar einige wirklich besorgniserregende Entwicklungen festzustellen, aber insgesamt schätze ich die Aussichten für Frieden und Abrüstung als gut ein. Wir brauchen keine neue Roadmap (...) Der Weg, der vor uns liegt, mag zwar nicht einfach sein, aber wir kennen ihn. Die Pläne für Fortschritte liegen auf dem Tisch", lautet das Fazit von Hans Blix.

"Mit unserem Jahresbericht 2007/2008, seinen Daten und Analysen wollen wir einen Beitrag zu Diskussion und Aktion leisten", unterstreicht BICC-Direktor Croll. Das Zentrum leistet anwendungsorientierte Forschung, Beratung und Kapazitätenaufbau (capacity building). Über aktuelle Projekte z.B. im Bereich der Diasporaforschung, der Regierungsberatung des Südsudans sowie Datenbankservices zu Rüstungsexporten oder Rohstoffen und Konflikten gibt der Jahresbericht ebenfalls Aufschluss.

Quelle: Website des BICC; www.bicc.de

Der vollständige Jahresbericht des BICC kann hier heruntergeladen werden:
www.bicc.de (pdf-Datei)



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