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Imperialismus und Krise

Renaissance des Chauvinismus. Von Tomasz Konicz *


Teil I: Die Rückkehr nationaler Machtkämpfe im Gefolge der ökonomischen Verwerfungen

Europa scheint seit Krisenausbruch in einem Zeitstrudel gefangen, der den alten Kontinent in eine Vergangenheit zurückschleudert, in der das imperiale Hegemoniestreben der europäischen Großmächte die nationalen Gegensätze und Chauvinismen ungefiltert aufeinanderprallen ließ. Je weiter die Krise die Desintegrationstendenzen in der Euro-Zone befeuert, desto eher scheint der Blick in die Geschichtsbücher dabei behilflich zu sein, Analogien zu den gegenwärtig rapide eskalierenden nationalen Gegensätzen – die längst zu einer offenen Lagerbildung in Europa geführt haben – zu finden. Die Mitte August absolvierte Rundreise des deutschen Wirtschaftsministers Philipp Rösler durch einige nordeuropäische Euro-Länder, bei der offensichtlich eine Allianz gegen die südeuropäischen Krisenstaaten geschmiedet werden sollte, erinnert ebenso an die klassische imperialistische Großmachtpolitik des 19. Jahrhunderts wie die mit der Krisenintensität zunehmenden chauvinistischen Aufwallungen in vielen Ländern der Euro-Zone.

Röslers diplomatischer Staffellauf, der den im Vorwahlkampf befindlichen Wirtschaftsminister nach Helsinki, Tallinn, Den Haag und Warschau führte, galt dem Europa, das sich der »Idee der Stabilitätsunion« verpflichtet fühle und somit immer noch eine »Union der Werte« darstelle, dozierte Rösler nach einem Treffen mit dem niederländischen Regierungschef Mark Rutte. Hierbei erlaubte sich der deutsche jungliberale Wirtschaftsminister einen klassischen rhetorischen Ausrutscher, der die wahre Motivation hinter seiner hektischen Reisediplomatie offenlegte. Deutschland habe bei den gegenwärtigen Auseinandersetzungen um die Krisenpolitik »die Kraft der Argumente« auf seiner Seite und stehe in Europa »nicht gänzlich allein« dar. Diese laut Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) ungewollt »defätistische« Aussage spiegele die »Regieanweisungen« bei der Rundreise Röslers wieder: »Wir zeigen, daß Deutschland nicht isoliert ist in Europa, es gibt viele Verbündete.« Die FAZ spekulierte sogar darüber, ob Rösler mit seiner Reisediplomatie bereits den Boden für einen »Nord-Euro« bereite, der nach dem Zerfall der Euro-Zone eingeführt werden könnte.

Paris kontra Berlin

Gegen wen sich diese diplomatische Sommertournee des Wirtschaftsministers richtete, der damit auch innenpolitisch zu punkten hofft, ist ohnehin klar: Seit dem Amtsantritt des neuen französischen Präsidenten François Hollande hat Paris einen deutlichen machtpolitischen Kurswechsel eingeleitet und die unter seinem Amtsvorgänger Sarkozy praktizierte Kollaboration mit Berlin zugunsten einer antideutschen Allianz mit Südeuropa aufgegeben. Dem Spardiktat, das Berlin in Gestalt des »Fiskalpaktes« der Euro-Zone oktroyierte, setzt Hollande eine klassisch sozialdemokratische Politik entgegen, bei der Steuererhöhungen für Wohlhabende mit kreditfinanzierten Konjunkturpaketen und Maßnahmen zur Stärkung der Massennachfrage einhergehen sollen.

Auf europäischer Ebene unterstützt Paris die südeuropäischen Forderungen nach einer Einführung von Euro-Bonds und massiven Anleiheaufkäufen seitens der Europäischen Zentralbank (EZB), um so die Zinslast der Krisenstaaten zu senken. Folglich spitzen sich die Auseinandersetzungen zwischen der südlichen Peripherie der EU und Berlin immer stärker zu, da die Bundesregierung tatsächlich all die Maßnahmen blockiert, die den in Rezession befindlichen Ländern Südeuropas eine Linderung verschaffen könnten.

Der deutsch-französische Antagonismus, der den Kontinent in der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entlang des Rheingrabens in feindliche Mächtekonstellationen teilte, scheint sich erneut in der gegenwärtigen geopolitischen Lage zu materialisieren. Ein vom sozioökonomischen Abstieg bedrohtes mit Frankreich verbündetes Südeuropa sieht sich einem ökonomisch ungemein erstarkten Deutschland gegenüber, das sich unter Rückgriff auf seine osteuropäische Peripherie bemüht, seine dominante Stellung vermittels eiligst umgesetzter Strukturänderungen der EU zu zementieren.

Offene Konfrontation

Diese inzwischen offen ausgetragenen nationalen Machtkämpfe, die eine entsprechend hetzerische Berichterstattung in der jeweiligen bürgerlichen Presse nach sich ziehen, haben zudem eine Renaissance nationalistischer Ressentiments und chauvinistischer Stimmungen eingeleitet. Wie weit hierbei der Weg zurück in die Vergangenheit bereits beschritten wurde, ist beispielsweise bei den ungehemmten öffentlichen Pöbeleien deutlich geworden, mit denen sich deutsche und italienische Politiker sowie Medien wechselseitig Anfang August überzogen, nachdem der italienische Ministerpräsident Monti relativ unverblümt ein Ende der deutschen Blockadepolitik forderte. Während Koalitionspolitiker in Berlin daraufhin den italienischen Regierungschef der »Gier nach deutschen Steuergeldern« bezichtigten und ihn beschuldigten, »seine Probleme auf Kosten des deutschen Steuerzahlers lösen« zu wollen, empörten sich italienische Blätter über die »Nazideutschen«, die nun »nicht mehr mit Kanonen, sondern mit Euro« Italien unterwerfen wollten.

Äußerungen, die noch vor wenigen Monaten ein Verfahren wegen Volksverhetzung nach sich gezogen hätten, dienen nun FDP-Einheizern und CSU-Populisten dazu, ihre Wahlchancen aufzubessern. Bevor geklärt werden kann, warum dieser ungezügelte Nationalismus das europäische Pathos so schnell verdrängen konnte, soll kurz rekapituliert werden, wieso in den vergangenen Dekaden die Illusion der kapitalistischen »Vereinigten Staaten von Europa« überhaupt um sich greifen konnte.

湄L0A湄L 33B湄L C淠K@O Nach der Niederschlagung des massenmörderischen Weltherrschaftsstrebens des deutschen Faschismus – in dessen historisch beispielloser Barbarei die rund fünfhundertjährige Geschichte der europäischen Hegemonialkämpfe kulminierte – ließ der Kalte Krieg keinen Raum mehr für innereuropäische Rivalitäten. Die europäischen Mächte mußten unter der eindeutigen Hegemonie der Vereinigten Staaten ihr militärisches und ökonomisches Potential in die von Washington ausgearbeitete antisowjetische Strategie einbringen, was eine eigenständige, mit zunehmenden imperialen Friktionen einhergehende Machtpolitik der europäischen Mächte spätestens seit der Suezkrise 1956 illusionär machte. Unter dem Druck der Auseinandersetzung mit dem sozialistischen Lager, die eine stärkere Kooperation und Koordinierung der kapitalistischen Großmächte erzwang, konnte erst die Idee der Europäischen Union reifen und Gestalt annehmen.

Die Implosion des real existierenden Sozialismus brachte die Frage der deutschen »Wiedervereinigung« auf die Tagesordnung, die ja bekanntlich auf französisches Drängen nur unter der Verpflichtung Berlins zur Einführung des Euro ermöglicht wurde. Mittels der engen europäischen Einbindung sollten deutsche Alleingänge und Hegemonialstreben unterbunden werden. Zugleich wandelte sich mit dem Verschwinden der staatssozialistischen Gegenmacht der Charakter der Europäischen Union, die nun dazu überging, die militärischen und organisatorischen Voraussetzungen imperialistischer Politik zu schaffen. Zudem intervenierten EU-Mächte seit den 90er Jahren in wechselnden organisatorischen Konstellationen (NATO oder UNO) bei einer Vielzahl von Konflikten, die zumeist aus der Implosion staatlicher Strukturen im postsozialistischen Raum oder im Trikont resultierten (Jugoslawien, Somalia).

Mit dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes kehrte somit der Imperialismus nach Europa zurück, aber es war ein nach »außen« gerichtetes imperiales Streben, von dem die binneneuropäischen Machtkonstellationen – zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung – verschont blieben. Im Gegenteil schien es so, als ob die Desintegrationstendenzen außerhalb der EU mit einem beständig zunehmenden Expansions- und Integrationsbestreben der Europäischen Union kontrastieren würden. Neben der ins postsozialistische Osteuropa gerichteten Expansion der EU, die mit der neoimperialistischen Intervention im zerfallenden Jugoslawien einherging, trat ab den 90ern auch verstärkt die Konkurrenz »Europas« gegenüber den USA zutage. Das vereinigte ökonomische und militärische Potential der Europäer sollte die ohnehin schwindende Hegemonie der USA herausfordern, der Euro den US-Dollar als Weltleitwährung beerben. Exemplarisch wurde dieser Anspruch im März 2001 formuliert, als die EU postulierte, bis 2010 »zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt« aufsteigen zu wollen.

Dominanz durch Export

Entscheidend für die binneneuropäische Machtkonstellation in der gegenwärtigen Krise war aber die Strategie, die Deutschlands Funktionalisten aus Staat und Kapital in Reaktion auf die verordnete europäische Integration forcierten. Berlin nutzte den Euro, der eigentlich den deutschen Hegemoniebestrebungen ein Ende setzten sollte, um die dominante Stellung in Europa zu erringen. Diese Strategie wurde auf dem Rücken der Lohnabhängigen in der BRD umgesetzt, wobei die wichtigsten diesbezüglichen »Reformen« von der rot-grünen Regierung Schröder/Fischer eingefädelt wurden. Zum einen führte Rot-Grün kurz vor der Euro-Einführung eine Steuerreform durch, bei der vor allem Unternehmen bzw. Konzerne massiv entlastet wurden – und die somit über Steuervorteile und eine prall gefüllte »Kriegskasse« am Vorabend der Währungsunion verfügten. Zum anderen hatten die von Rot-Grün verabschiedeten Hartz-IV-Arbeitsgesetze eine massive Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse und einen Einbruch des Reallohnniveaus in Deutschland zur Folge. Die avancierte deutsche Industrie, die ohnehin einen Produktivitätsvorsprung gegenüber den südlichen Euro-Ländern aufwies, konnte so erhebliche Konkurrenzvorteile verbuchen, die es ihr ermöglichten, die Konkurrenz in der Euro-Zone in vielen Branchen zu marginalisieren – während in der BRD Prekarisierung, Hungerlohn und brutale Arbeitshetze zur Normalität für einen großen Teil der Lohnabhängigen wurden.

Diese auf extreme Exportfixierung ausgerichtete Strategie wurde erst durch den Euro durchsetzbar, der den betroffenen Staaten die Möglichkeit nahm, mit Währungsabwertungen auf die Offensiven des deutschen Kapitals zu reagieren. Bei der quantitativen Einschätzung des Erfolgs dieser totalen Konkurrenzausrichtung der deutschen Industrie sind nicht die Ausfuhren, sondern die Exportüberschüsse entscheidend, die sich in den seit Einführung der Gemeinschaftswährung explodierenden Leistungsbilanzüberschüssen Deutschlands gegenüber dem Rest der Euro-Zone manifestierten. Diese belaufen sich auf inzwischen rund 850 Milliarden Euro. Ihnen entsprechen Defizite auf seiten der betroffenen Euro-Länder, sodaß die Exportoffensiven der BRD zur Ausbildung des europäischen Schuldenbergs maßgeblich beigetragen haben.

Seit dem Ende des »Kalten Krieges« verlagerten sich die innereuropäischen Rivalitäten somit auf die wirtschaftliche Ebene, und die BRD konnte diesen Wirtschaftskrieg eindeutig für sich entscheiden. Berlin verfügt dank Steuerdumping und Hungerlöhnen über eine konkurrenzlos günstig produzierende, hochnmoderne Industrie, während die von der deutschen Exportdampfwalze geplätteten Länder Südeuropas dem Schicksal Osteuropas folgen – und zu einer Peripherie Deutschlands zugerichtet werden sollen. Insofern war Schröders Agenda 2010 tatsächlich sehr erfolgreich. Merkels wiederholt geäußerte Forderungen nach der Beschneidung von Souveränitätsrechten der europäischen Krisenstaaten belegen zudem, daß die Warnungen italienischer Medien vor einem deutschen »4. Reich« nicht aus der Luft gegriffen sind. Berlin will bei der Errichtung seines »deutschen Europa« Brüssel zu einem Machtmittel seiner Politik umgestalten.

Schließlich ist die Bundesregierung bemüht, die gegenwärtige ökonomische Krisenkonstellation möglichst lange aufrechtzuerhalten: Während das mit dem deutschen »Fiskalpakt« einhergehende Spardiktat den Großteil der Euro-Zone in eine Rezession abdriften läßt und so den ökonomischen Abstand zu Deutschland vergrößert, profitiert die hiesige Exportindustrie von dem krisenbedingt niedrigen Kurs der Gemeinschaftswährung, weswegen die deutschen Ausfuhren jenseits der Euro-Zone enorm zulegen (hier vor allem nach Südostasien und China) und die Absatzeinbrüche in Europa kompensieren konnten. Zudem wurde die BRD auf den Finanzmärkten zu einem »sicheren Hafen«, so daß die unerträglich hohe Zinslast Süd¬europas sich in Nullzinsen für deutsche Staatsanleihen materialisierte. Den deutschen Funktionalisten scheinen alle Optionen offenzustehen: Entweder eine Hegemonie in der Euro-Zone oder die offenbar von Rösler propagierte Neuformierung eines von der BRD angeführten dominanten Machtblocks.

Katastrophale Folgen

Dennoch stellt die gegenwärtige Situation in der Euro-Zone, bei der Deutschland als der klassische »Krisengewinner« erscheint, eine Illusion dar, die nur unter Ausblendung des grundlegenden Krisenprozesses kapitalistischer Warenproduktion – bei dem die vom Kapitalismus entfachten Produktivkräfte die Fesseln der kapitalistischen Produktionsverhältnisse sprengen – überhaupt aufkommen kann. Die Bestrebungen zur europäischen Einigung wie auch die gegenwärtigen Desintergationstendenzen sind nicht nur auf das geopolitische Kalkül einiger Großmächte zurückzuführen – sie bilden vor allem Reaktionen auf die von dem Marxisten Robert Kurz beschriebene innere Schranke kapitalistischer Warenproduktion.

Spätestens mit den in den 80er Jahren einsetzenden Rationalisierungsschüben der dritten industriellen Revolution der Mikroelektronik findet eine massive Verdrängung von Lohnarbeit in der Warenproduktion statt. Dieser autodestruktive Prozeß des Kapitals, das sich mit der Lohnarbeit seiner eigenen Substanz entledigt, äußert sich in einer fundamentalen Krise der Arbeitsgesellschaft, in chronischer Überakkumulation, dem Aufstieg des Finanzsektors und einer gnadenlosen Verdrängungskonkurrenz. Die Euro-Krise bildet dabei nur das jüngste Stadium eines langwierigen Krisenprozesses, bei dem eine beständig zunehmende Verschuldungsdynamik die zusätzliche Nachfrage erzeugte, um eine hyperproduktive und vom permanenten Verdrängungswettbewerb gekennzeichnete Warenproduktion überhaupt noch aufrechtzuerhalten.

Das »Europäische Haus« war auf einem beständig wachsenden Schuldenberg errichtet worden, der nun einzustürzen droht. Es wird im Ausgang dieser Krise somit keine »Gewinner«, sondern nur »Verlierer« im europäischen Machtkampf geben. Die Illusion einer intakten kapitalistischen Arbeitswelt in der BRD und die Verschuldungsprozesse in den Zielländern der deutschen Exportoffensiven bedingen einander. Allein 2011 hat die Bundesrepublik einen exzessiven Leistungsbilanzüberschuß von 5,7 Prozent seines BIP erzielt, der viel höher als in China (2,8 Prozent) oder Japan (2,0 Pozent) ausfiel. Somit ist aber die BRD ihrerseits abhängig von den diesem Leistungsbilanzüberschuß korrespondierenden Verschuldungsprozessen, ohne die Deutschlands Exportmärkte einbrechen werden. Die auch von bürgerlicher Seite beklagten zunehmenden »Ungleichgewichte« in der Weltwirtschaft sind ja nur Ausdruck zunehmender Verschuldungsprozesse. Deswegen untergräbt Berlin mit seinem Spardiktat in Europa seine eigenen Absatzmärkte, was letztlich auch die scheinbare europäische Hegemonialmacht in den Abgrund ziehen wird. Selbst die besagte Neuausrichtung der deutschen Exportdampfwalze auf außereuropäische Märkte wird bald keine Vorteile mehr einbringen, da die Sparpolitik in Europa diese Regionen immer stärker in Mitleidenschaft zieht.

Die Systemkrise hat somit die Länder Europas tatsächlich in einer »Schuldenunion« aneinandergekettet – ein Zusammenbruch der Euro-Zone wird sowohl für Südeuropa wie für die BRD katastrophale wirtschaftliche Folgen nach sich ziehen. Das Zeitalter der ökonomisch eigenständig überlebensfähigen Volkswirtschaften ist längst in der Dynamik der krisenbedingten kapitalistischen Globalisierung verschütt gegangen. Hieraus resultieren die heftigen Auseinandersetzungen innerhalb der deutschen »Eliten« zwischen den Verfechtern eines Ausscheidens der BRD aus der Euro-Zone, die etwa bei der FAZ immer wieder Gehör finden, und den Befürwortern einer deutsch dominierten EU. Beide Wege führen letztendlich in die durch die Systemkrise bedingte Sackgasse: Die EU kann ihre Existenz nur als »Schuldenunion« vermittels weiterer Verschuldungsprozesse und Finanztransfers bis zum späteren Kollaps verlängern, während eine Rückkehr zum Nationalstaat einem sofortigen ökonomischen Selbstmord gleichkäme. Weder Nation noch EU weisen einen Ausweg aus der Krise, da beide Gebilde von dem in Selbstzerstörung befindlichen Kapitalverhältnis hervorgebracht wurden.

Die binneneuropäischen Auseinandersetzungen um die richtige Krisenpolitik, bei der die französischen und südeuropäischen Keynesianer gegen den deutschen Sparwahn Sturm laufen, spiegeln somit eine fundamentale Aporie kapitalistischer Krisenpolitik, bei der die politische Kaste nur zwischen zwei Wegen in die Krise wählen kann: Entweder führt Sparpolitik zu einer sofortigen Rezession wie in Griechenland oder Spanien, oder die Krise wird weiter verschleppt durch fortdauernde Verschuldung und Gelddruckerei (dies geschieht derzeit in den USA). Letztendlich lassen sich die eskalierenden nationalen Gegensätze bezüglich der Krisenpolitik in Europa auf diese grundlegende Ausweglosigkeit zurückverfolgen. In den kommenden Wochen nach der Sommerpause wird sich entscheiden, ob Berlin seine Blockadehaltung aufgibt und einer weiteren Defizitfinanzierung »Europas« zustimmt – andernfalls wird die Euro-Zone das Jahr 2013 zumindest in der gegebenen Zusammensetzung nicht mehr erleben. Ähnlich der Scheinalternative zwischen EU und Nation bietet aber keine der genannten Optionen einen Ausweg aus der Krise, der nur unter radikaler Negation der grundlegenden Kategorien kapitalistischer Vergesellschaftung (Lohnarbeit, Geld, Nation etc.) zu finden wäre.

Die eingangs konstatierte Wiederkehr offener nationaler Gegensätze in Europa bildet dabei nur ein Durchgangsstadium der zunehmenden krisenbedingten Barbarisierung des Kapitalismus. Deutschland wird keine stabile Hegemonie in Europa errichten können, da es hierzu der Rücksicht auf die Interessen der wichtigsten europäischen Mächte – die eine deutsche Hegemonie so auch hinnehmen könnten – bedürfte. Dies passiert aber gerade nicht; die Bundesrepublik befindet sich in einer Position der Dominanz, die europaweit nicht akzeptiert wird, da die Grundlagen dieser deutschen Dominanz (Leistungsbilanzüberschüsse und Spardiktat) den ökonomischen Zerfall in Südeuropa befördern. Die BRD wird somit gerade nicht zu den vielzitierten »USA Europas«, die ihre Hegemonie auf den Nachkriegsboom errichten konnten.

Dynamik der Selbstzerstörung

Seit Ausbruch der Euro-Krise und dem Kappen der Verschuldungsdynamik in Europa findet ein binneneuropäischer Überlebenskampf zwischen den Euro-Staaten statt, bei dem die wirtschaftlich unterlegenen Länder einen dauerhaften sozioökonomischen Abstieg erleben. Diese nationalen Machtkämpfe realisieren die Folgen des Krisenprozesses, der sich in einem andauernden Prozeß von der Peripherie in die Zentren des kapitalistischen Weltsystems frißt und die »Wohlstandsinseln« der »Ersten Welt« immer weiter abschmelzen läßt. Die »Dritte Welt« rückt mit ihrem Elend immer näher an die Zentren heran und breitet sich nun in Südeuropa aus. Für diese nationalen binneneuropäischen Auseinandersetzungen kann die Allegorie der sinkenden »Titanic« gewählt werden, bei der die Passagiere der ersten Klasse diejenigen der Zweiten und Dritten über Bord werfen, um noch etwas Zeit zu gewinnen – bis sie selbst an die Reihe kommen.

Entscheidend für die antikapitalistische Linke sind somit nicht diese neu aufflammenden nationalen Gegensätze, sondern die vermittels dieser europäischen Machtkämpfe voranschreitende Krisendynamik, die sich nun bereits in den Zentren des Weltsystems voll manifestiert. Der jeglicher volkswirtschaftlichen Basis beraubte Nationalismus wird im Krisenverlauf ideologisch weiter degenerieren und verschiedenen Formen des Separatismus weichen, der bereits in ganz Europa – in der BRD etwa in Gestalt der CSU – einen enormen Aufschwung erfährt. Ein solcher Zusammenbruchs- und Barbarisierungsprozeß bildet somit aufgrund des akkumulierten Zerstörungs- und Vernichtungspotentials eine elementare Bedrohung menschlicher Zivilisation. Es ist letztlich ein Unterschied ums Ganze, ob der Kapitalismus von einer emanzipatorischen Bewegung aktiv überwunden wird oder an seinen eigenen Widersprüchen kollabiert – im letzten Fall würde es sich um eine endgültige, irreversible Niederlage der antikapitalistischen Linken handeln. Die aktive Überwindung des in Selbstzerstörung übergehenden Kapitalismus stellt schlicht eine Überlebensnotwendigkeit der Menschheit dar.

Teil II: Der Kampf um Ressourcen und die Entstaatlichung der »Dritten Welt«

Libyen existiert nicht mehr. Nachdem die westliche Militärmaschinerie die Aufstandsbewegung gegen das Regime Muammar Al-Ghaddafis zum Sieg gebombt hat, zerfällt der libysche Staat in eine Vielzahl konkurrierender Machtgruppen und Territorien. Die unübersichtlichen Fronten in den Auseinandersetzungen, die weite Teile des Landes ergriffen haben, verlaufen zwischen verschiedenen klanartig organisierten Milizen, die weite Landstriche kontrollieren, zwischen ostlibyschen Separatisten, islamistischen Kräften, ethnischen Bevölkerungsgruppen oder einzelnen Städten und Gemeinden. Während im Süden und Westen des Landes immer wieder blutige Kämpfe aufflackern, drohte Mitte August das Chaos auch auf die Hauptstadt Tripolis überzugreifen, als eine Serie von Autobombenanschlägen gegen Sicherheitseinrichtungen die Illusion einer Stabilisierung Libyens im Gefolge der Wahlen zerstörte.

Selbst der US-Sender CNN mußte in einem Hintergrundbericht einräumen, daß Libyen ein Jahr nach der westlich unterstützten »Revolu¬tion« immer noch äußerst »labil« sei. Die Rebellenarmee habe aus »Hunderten von Milizen« bestanden, so CNN, die nach dem Sturz Ghaddafis ihre Waffen einfach behalten haben und nun eine Gewaltherrschaft in den Städten und Regionen ausüben, die sie okkupieren. Deswegen sei die Sicherheitslage in dem Land »im höchsten Maße fragmentiert«, so die diplomatische Umschreibung des US-Senders. Die Brutalität, mit der diese Milizen ihre Gegner ausschalten, soll laut Berichten von Amnesty International der des Ghaddafi-Regimes in nichts nachstehen. An die 4000 Gefangene sollen sich in den Händen dieser Milizen und Banden befinden, in deren Territorien das Gewaltmonopol des libyschen »Staates« endet.

Irak – Libyen – Syrien

Diese Entwicklung erinnert auffallend an die nationalstaatlichen Desintegrationsprozesse, die den Irak im Gefolge der US-Invasion erschütterten. Nach dem raschen und offensichtlich mühelosen Sturz des Baath-Regimes wurde das Zweistromland von einem lang anhaltenden Bürgerkrieg zwischen Sunniten und Schiiten erfaßt, der ebenfalls mit ausufernder Milizbildung, separatistischen Tendenzen und einer »Fragmentierung der Sicherheitslage« einherging. Letztendlich fand ein Großteil der militärischen Auseinandersetzung im Rahmen der innerirakischen Machtkämpfe statt, die immer noch nicht abgeflaut sind, wie die jüngste Anschlagsserie Anfang August offenbarte. Tatsächlich gab es im Irak keinen geschlossenen, »nationalen« Widerstand gegen die US-Besatzung, die nur von einzelnen Bürgerkriegsparteien oder Milizen zeitweise angegriffen wurde – seien es nun sunnitische Al-Qaida Gruppen oder die schiitischen Sadr-Milizen. Gerade der zersplitterte Widerstand gegen die US-Army legte offen, daß es so etwas wie eine einheitliche irakische Nation nicht mehr gibt.

Schließlich scheint sich gegenwärtig auch Syrien in einem ähnlichen gewaltförmigen Prozeß der »Entstaatlichung« zu befinden wie Libyen und der Irak. Auch hier fand eine ausufernde Milizbildung statt, auch hier nehmen in Wechselwirkung mit der äußeren Intervention die Auseinandersetzungen einen ethnisch-konfessionellen Charakter an, da die von den reaktionären Golf-Despotien gestützten sunnitisch-fundamentalistischen Kräfte innerhalb der Aufstandsbewegung an Auftrieb gewinnen. Neben den kurdischen Regionen, in denen bereits jetzt kurdische Milizen de facto die Macht übernommen haben, spekulieren Geopolitiker auch über einen alawitischen »Rumpfstaat«, der entstehen könnte, sollte das syrische Regime die Aufstandsbewegung nicht mehr niederwerfen können. »Die Idee, an Syrien in der gegenwärtigen Form festzuhalten, ist für Assad inzwischen sehr schwer zu realisieren«, erklärte der libanesische Militärstratege Elias Hanna gegenüber der Nachrichtenagentur AP: »Ein Rückzug auf einen alawitischen Staat ist sein Plan B.«

In der traditionellen antiimperialistischen Interpretation dieser Prozesse staatlichen Zerfalls im arabischen Raum bilden die Interventionen der imperialistischen westlichen Mächte deren Ursache. Der Irak und derzeit insbesondere Syrien sind die Schlachtfelder bei dem Kampf des Westens um die Dominanz in dieser rohstoffreichen Region. Der gesamte Nahe und Mittlere Osten ist ja tatsächlich von einer Art neuem »Kalten Krieg« überzogen, der nun in Syrien in eine »heiße« Phase tritt – und bei dem sich der Westen auf der einen und der Iran, Syrien und Rußland sowie China auf der anderen Seite gegenüberstehen. Einige Variationen dieser Sichtweise würden dann noch die staatlichen Zerfallsprozesse als eines der Ziele der imperialistischen Interventionen in der Region deuten, da hierdurch deren Ausbeutung und Unterwerfung erleichtert würden. Es scheint tatsächlich einfacher, beim Verhandlungspoker um das libysche Öl diejenige Gruppierung zu unterstützen, die dem Westen die besten Konditionen anbietet. Somit würde die neoimperialistische Machtpolitik wieder an die Praktiken des klassischen Imperialismus des 19. Jahrhunderts anknüpfen, der ebenfalls die lokalen Rivalitäten in seinen Kolonien zu instrumentalisieren vermochte.

Dennoch kann der klassische Antiimperialismus nicht erklären, wieso die nationale Staatlichkeit in so vielen Regionen und Ländern der sogenannten »Dritten Welt« in Auflösung begriffen ist und folglich bei den Interventionen des Westens sogleich kollabiert. Der Beginn des 21. Jahrhunderts steht im krassen Kontrast zu der Welle der Staatengründungen in der »Dritten Welt« in Zuge der Entkolonialisierung im 20. Jahrhundert. Während damals ein Aufbruch und eine Modernisierung der jeweiligen Regionen des globalen Südens anzubrechen schienen, fallen nun die Staaten des Trikont reihenweise auseinander. Die Erschütterungen nationalstaatlicher Machtstrukturen in Libyen, dem Irak oder Syrien bilden dabei nur die jüngsten Fälle in einer langen Reihe von »Entstaatlichungskrisen«, die bereits weite Teile des subsaharischen Afrika erfaßt haben. Als prominente Beispiele für gescheiterte Staaten werden für gewöhnlich Somalia, Kongo oder Afghanistan angeführt. Tendenzen zur »Entstaatlichung« lassen sich aber auch in Mittelamerika und insbesondere Mexiko beobachten, wo die Drogenkartelle den Staat offen herausfordern und unterminieren.

»Failed States«

Die westliche Geopolitik hat für diese staatlichen Zerfallsprozesse längst den Begriff des »Failed State«, des »gescheiterten Staates«, geprägt. Während der Antiimperialismus die Zerfallsprozesse im Trikont auf das imperiale Wirken der Großmächte zurückführt, macht der bürgerlich-westliche Diskurs die Menschen der »Dritten Welt« für ihr Schicksal selbst verantwortlich. Schlechte Politik, Diktaturen, ein übermäßiger Hang zur Kleptokratie oder ausartende Korruption hätten zu der Entstehung von »Failed States« beigetragen und die Unterentwicklung in der »Dritten Welt« verfestigt, so in etwa lautet das Mantra der neoliberal grundierten öffentlichen Erklärungsmuster in den Zentren des kapitalistischen Weltsystems – in denen die neoimperialistischen Realitäten in der »Dritten Welt« konsequent ausgeblendet werden.

Die Frage bleibt also zu beantworten: Wieso scheitern Staaten? Der Staat bildete im globalen Süden nach der Dekolonialisierung die machtpolitisch-organisatorische Form, in der die nachholende Modernisierung dieser Regionen geleistet werden sollte. In einem gewaltigen Kraftakt wollten die meisten Regime der »Entwicklungsländer« den ökonomischen Rückstand zu den Zentren des Weltsystems aufholen. Sie versuchten, vermittels zumeist kreditfinanzierter Investitionsprogramme, eine warenproduzierende Industrie, ja eine nationale Volkswirtschaft überhaupt erst zu entwickeln, die oftmals in den gerade unabhängig gewordenen Ländern nur in Ansätzen als Überbleibsel der kolonialen Plünderungswirtschaft gegeben war. Diese Strategie der »importierten Modernisierung« – die von nahezu allen Entwicklungsregimen unabhängig von ihrer geopolitischen und ideologischen Ausrichtung verfolgt wurde – mißlang auf breiter Front spätestens in der zweiten Hälfte der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts. Ab den 80ern wurde in den jeweiligen Schuldenkrisen dieses »Scheitern der Modernisierung« im globalen Süden offensichtlich, in deren Gefolge sozioökonomische Zusammenbrüche in vielen Regionen einsetzten.

Damit begann ein Gewöhnungseffekt in der westlichen Öffentlichkeit, die davon ausgeht, daß es sich beim sozioökonomischen Zusammenbruch weiter Teile der »Dritten Welt« um eine historische Konstante – und nicht um das Ergebnis eines Prozesses gescheiterter Modernisierung – handelt. Wir haben uns daran gewöhnt, daß Afrika »abgeschrieben« ist. Dieser Zusammenbruch der »Dritten Welt«, zu dessen Rationalisierung hierzulande gerne ein kulturalistisch grundierter Rassismus bemüht wird, bildete nur den Auftakt zu der fundamentalen Krise des gesamten kapitalistischen Weltsystems, die sich in einem dekadenlangen Prozeß von der Peripherie in dessen Zentren frißt. Den Entwicklungsdiktaturen der »Dritten Welt« gelang es nicht mehr, die Kapitalmassen zum Aufbau einer fordistischen Industrie zu akkumulieren, die es ihnen ermöglicht hätte, in den 70ern am Weltmarkt zu bestehen. Mit dem Ausbruch der Krisenperiode der sogenannten Stagflation ab 1973 wurden die Ökonomien im globalen Süden Investitionsruinen, die der zunehmenden Weltmarktkonkurrenz nicht standhalten konnten.

Wenige Jahre später scheiterten übrigens die staatssozialistischen Länder letztendlich an der Durchsetzung der dritten mikroelektronischen Revolution, die noch weitaus größerer Investitionsanstrengungen bedurfte.

Verlorene Generation

Derzeit haben wir es mit einer Krise in den Zentren des kapitalistischen Weltsystems zu tun, die sich mit den Folgen dieser mikroelektronischen Revolution konfrontiert sehen. Der konkurrenzvermittelte Drang des Kapitals, durch permanente Modernisierungsschübe die Warenproduktion immer weiter zu rationalisieren, hat nicht nur die Investitionsaufwendungen und wissenschaftlich-technischen Voraussetzungen zum Aufbau »wettbewerbsfähiger« Produktionsstätten immer weiter in die Höhe getrieben, sondern auch zu einer fundamentalen Krise der kapitalistischen »Arbeitsgesellschaft« geführt, die sich nun in Europa oder den USA Bahn bricht.

Genauso wenig, wie die Renaissance nationaler Großmachtpolitik in Europa eine bloße Wiederholung der Praktiken des 19. Jahrhunderts darstellt (siehe jW-Thema in der gestrigen Ausgabe), bedeutet der Prozeß der »Entstaatlichung« der Peripherie eine etwaige Rückkehr zu früheren »vormodernen« und traditionellen Machtformen. Die Clans, Milizen, Banden und Sekten, die sich derzeit im Windschatten der imperialistischen Interventionen des Westens im arabischen Raum breitmachen, etablieren »entbundene Gewaltstrukturen, wie sie aus dem Zerfall der warenproduzierenden Anti-Zivilisation des Geldes hervorgehen«, erläuterte der Krisentheoretiker Robert Kurz in seinem 2003 erschienenen Werk »Weltordnungskrieg«.

Die endemisch hohe Arbeitslosigkeit, gepaart mit der Verwilderung des Staatsapparates, der nicht mehr aus der Kapitalverwertung finanziert werden kann, bringe eine »verlorene Generation« desorientierter junger Männer hervor, die »auf ihre kapitalistische Überflüssigkeit bösartig reagieren und sich in den hoffnungslosen Milizen« der Zusammenbruchsregionen der Welt wiederfinden, so Kurz. Gen Süden blickend, können wir somit einen Eindruck von der Zukunft der ungehemmten Entfaltung der Krisendynamik erhalten, die letztendlich – sollte sie nicht emanzipatorisch überwunden werden – auch in den Zentren eine Dystopie realisieren wird, die irgendwo zwischen Mad Max und 1984 angesiedelt sein dürfte.

Uneingestanden und unreflektiert hat die imperialistische Praxis der Zentren diesem manifesten Krisenprozeß in der Peripherie längst Rechnung getragen. Es reicht, sich in Erinnerung zu rufen, daß Europas Expansion auch von dem Hunger nach Arbeitskräften, nach »Händen« getrieben war, die bei mörderischer Sklavenarbeit in den Plantagen der »Neuen Welt« ausgebeutet werden konnten. Die Blutspur imperialistischer Ausbeutung von Arbeitskräften der »Dritten Welt« reicht von dem berüchtigten »atlantischen Dreieckshandel« mit afrikanischen Sklaven in der frühen Neuzeit, bis zu der mörderischen Auspressung des Kongos durch die Belgier, die massenhaft Afrikanern die Hände abhacken ließen, falls diese die vorgegebenen Arbeitsnormen nicht erfüllten. Der belgische König Leopold II. reagierte auf entsprechende Anschuldigungen in der Presse geradezu empört: »Hände abhacken, das ist idiotisch! Ich würde eher alles übrige abschneiden, aber doch nicht die Hände. Genau die brauche ich doch im Kongo!«

Exklusion von Arbeitskräften

Niemand würde heutzutage auf die Idee kommen, daß die neoimperialistischen Interventionen der vergangenen Jahre und Dekaden ausgerechnet deswegen geführt wurden, um die »Hände« der einheimischen Bevölkerung zur Fronarbeit zwingen zu können. Die expandierende Vernutzung von Arbeitskräften des globalen Südens in der Aufstiegs- und Hochphase des kapitalistischen Weltsystems ist in das Gegenteil umgeschlagen – in die Exklusion von Arbeitskräften. Tatsächlich bildet die Abschottung der verbliebenen relativen »Wohlstandsinseln« der Zentren vor den verzweifelten Flüchtlingen der Peripherie ein wichtiges Moment imperialistischer Strategien etwa der EU, die über die Einflußnahme auf die Regime Afrikas und des Nahen Ostens weit im Vorfeld der eigenen Grenzen massenhafte Migrationsbewegungen zu unterbinden versucht. Im Idealfall sollen die Ausgestoßenen des Weltmarktes, die weiterhin dem Terror des Werts ausgesetzt bleiben – da sie ihr Leben unter Verwertung ihrer Arbeitskraft reproduzieren müßten, ohne dazu noch in der Lage zu sein –, schon in ihren Heimatländern an der Flucht aus der Anomie gehindert werden, die ihre Herkunftsländer ergriffen hat.

Etliche Interventionen des Westens in den Zusammenbruchsgebieten der »Dritten Welt« hatten folglich tatsächlich deren »Stabilisierung« zum Ziel, wobei hierunter das »Nation Building«, die Errichtung nationalstaatlicher Machtstrukturen, zu verstehen ist. Durch den Aufbau eines abhängigen und hörigen Staatsapparates sollten die politischen, ökonomischen und militärischen Störpotenziale minimiert werden. Als Paradebeispiele für diese Art krisenimperialistischer Intervention können die Einsätze in Somalia (1993) und Afghanistan (ab 2001) gewertet werden, bei denen sich die westlichen Truppen mit den Zerfallsprodukten der Krise des kapitalistischen Weltsystems – mit klanartigen Banden und islamistischen Milizen – auseinandersetzen mußten. Auch die gegenwärtigen Marineeinsätze gegen die Zusammenbruchsökonomie, die von den somalischen Piraten aufgebaut wurde, fügen sich in dieses Muster. Die anhaltende Erfolglosigkeit dieses Vorgehens resultiert vor allem daraus, daß hier die kapitalistischen Großmächte gegen die Gespenster vorgehen, die die Krise des Kapitals selber hervorbringt.

»Jahrhundert des Mangels«

Den zentralen Faktor bei den neoimperialistischen Interventionen der vergangenen Jahre stellt aber das Streben nach der Sicherung von Ressourcen dar. Hierin spiegelt sich die an Brisanz gewinnende Rohstoffkrise der globalen kapitalistischen Verwertungsmaschinerie. Je stärker sich die Engpässe bei der Versorgung mit Energieträgern und Rohstoffen abzeichnen, desto intensiver ist das Bemühen der Großmächte, vermittels der Kontrolle von Rohstoffquellen entscheidende strategische Vorteile zu erringen. Was die Zentren des kapitalistischen Weltsystems von der Peripherie wollen, sind somit ausschließlich deren Ressourcen, die ausgebeutet und in die »Erste Welt« verfrachtet werden sollen – während die Bevölkerung dieser Regionen ausgegrenzt und an Fluchtbewegungen gehindert wird.

Das Aufkommen dieses Krisenimperialismus hat längst zu einer entsprechenden Umstrukturierung der militärischen Apparate der Zentren geführt, die auf den Aufbau hoch¬flexibler Hightech-Eingreiftruppen abzielt. Generalstabsoffizier Reinhard Herden, Bereichsleiter für Analysen und Risikoprognosen des Amtes für Nachrichtenwesen der Bundeswehr, brachte diesen Wandel mit der für Militärs üblichen Menschenverachtung schon zu Beginn des entsprechenden Umbaus der Bundeswehr auf den Punkt. Laut Herden werden in diesem Jahrhundert »die jetzt in Frieden lebenden wohlhabenden Staaten gegen die Völker der armen Staaten und Regionen ihren Wohlstand verteidigen müssen. Der Menschheit steht ein Jahrhundert des Mangels bevor. Um Dinge, die man einmal kaufen konnte, wird man Krieg führen müssen.« Das poststaatliche Feindbild, das den Neoimperialisten des 21. Jahrhunderts aus der fortschreitenden Krisendynamik erwachsen werde, umschrieb Herden als archaische »Krieger«, als »Banditen, die keine Loyalität kennen, aus Gewohnheit Gewalt anwenden und an Recht und Ordnung kein Interesse haben«.

Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen lohnt sich ein abermaliger Blick auf die Umwälzungen, die den arabischen Raum seit 2011 ergriffen haben. Der Impuls zu den Aufständen, die auch den Westen völlig überraschend trafen, ging von der einheimischen Bevölkerung aus, die sich aufgrund des voranschreitenden Krisenprozesses in einer unerträglichen Lage befindet. Die innere und äußere Schranke des Kapitals manifestiert sich in diesen Ländern in einer erdrückend hohen Arbeitslosigkeit, die vor allem bei Jugendlichen oft mehr als 50 Prozent beträgt, und den rasanten Preissteigerungen bei Lebensmitteln, die kurz vor Ausbruch der ersten Proteste die Stimmung zusätzlich anheizten. Der elementare, unreflektierte Impuls zur Rebellion gegen ein System, das immer größeren Teilen der Bevölkerung schlicht die Lebensgrundlagen entzieht, ist vor allem bei den ersten Aufständen in Tunesien und Ägypten dominant gewesen, die aber trotz eines oberflächlichen »Regime Change« im bestehenden System »stecken blieben« und folglich auch keine Revolutionen darstellen. Ohne eine emanzipatorische Perspektive jenseits des kapitalistischen Begriffshorizontes schlugen diese Bewegungen in Resignation oder reaktionären Islamismus um.

Erst Monate nach dessen Beginn wurde der Aufruhr in der arabischen Welt im Rahmen des neuen »Kalten Krieges« um die Rohstoffe der Region instrumentalisiert. Die westliche Unterstützung der Aufstandsbewegungen in Libyen und derzeit in Syrien folgt offensichtlich dem Kalkül, die langfristige Kontrolle über die Energieträger der Region zu erlangen, indem unsichere Kantonisten (Ghaddafi) und Verbündete Irans (Assad) ausgeschaltet werden. Dabei werden unterschiedslos all jene unterstützt, die sich gegen diese Regimes wenden – wobei hiervon nicht zuletzt diejenigen extremistisch-islamistischen Kräfte profitieren, die der Westen in anderen Regionen der Welt noch bekämpft. Zusammenbruchsideologien wie der Islamismus werden nicht nur von der Krise des Kapitalismus hervorgebracht, die Großmächte haben auch keine Skrupel, sich ihrer zu bedienen, wenn es in ihr Kalkül paßt.

Vom Weltmarkt verwüstet

Entscheidend bei diesem Machtkampf um die Rohstoffe des Nahen Ostens ist aber die »objektive« Krisentendenz, die aus der kapitalistischer Warenproduktion resultiert und einen »objektiven« Entstaatlichungsprozeß in der Region befördert, der sich gerade vermittels der »subjektiven« imperialistischen Machtkämpfe in der Region realisiert.

Die Peripheriestaaten stellen nur noch verwildernde Attrappen gescheiterter staatskapitalistischer Modernisierungsbemühungen dar, die beim geringsten Anstoß die ihnen innewohnenden anomischen Zentrifugalkräfte freisetzen. Doch auch die neoimperialistischen Kernländer werden immer deutlicher als »Papiertieger« erkennbar, die ihre Interventionen aufgrund einer angespannten Haushaltslage kaum noch im gewünschten Ausmaß finanzieren können. Auch dies wurde bei der Aggression des Westens gegen Libyen deutlich, die ohne Unterstützung der US-Militärmaschinerie kaum den gewünschten Erfolg gezeitigt hätte.

Auch diese Entwicklung hat Robert Kurz prognostiziert. Der Versuch, die vom »Weltmarkt verwüsteten Territorien im Zaum zu halten«, sei zum Scheitern verurteilt, so Kurz. Er könne sich aber »quälend lange hinziehen, solange der Crash der Finanzmärkte die weltdemokratische Hybris nicht in ihre Schranken weist und der Weltpolizei die finanzielle Grundlage entzieht«.

* Dieser Beitrag erschien in zwei Teilen in der "jungen Welt" vom 28. und 29. August 2012


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