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Neoliberalismus und imperiale Strukturen der internationalen Beziehungen

Probleme und Perspektiven

Von Erhard Crome*

Manche Problemkonstellationen in den internationalen Beziehungen sind solche, die immer wiederkehren, auch unter veränderten Bedingungen, andere sind tatsächlich neu. Beides ist nicht immer gleich zu unterscheiden. Deshalb sei zunächst ein Zitat an den Anfang gesetzt: "Ich behaupte, daß wir die erste Rasse in der Welt sind und daß es um so besser für die menschliche Rasse ist, je mehr von der Welt wir bewohnen... Darüber hinaus bedeutet es einfach das Ende aller Kriege, wenn der größere Teil der Welt in unserer Herrschaft aufgeht... Da (Gott) offenkundig die englisch sprechende Rasse zu seinem auserwählten Werkzeug formt, durch welches er einen Zustand der Gesellschaft hervorbringen will, der auf Gerechtigkeit, Freiheit und Frieden gegründet ist, muß er offensichtlich wünschen, daß ich tue, was ich kann, um jener Rasse so viel Spielraum und Macht wie möglich zu geben." Das sagte nicht George W. Bush, sondern Cecil Rhodes, einer der Architekten des Britischen Empire im 19. Jahrhundert, doch es ist eine vergleichbare Denkungsart. Gewiß, heute ist nicht mehr von "Rasse" die Rede, sondern von einer Überlegenheit von Gesellschaft, Technik, Militär und Kultur der USA gegenüber der gesamten übrigen Welt. Doch die Grundüberlegung ist gleich: die Errichtung einer imperialen Weltordnung, gleichsam einer Pax Romana als Pax Americana, wird nicht als etwas Fremdes, der Welt Aufzunötigendes angesehen, sondern als notwendige Konsequenz der Geschichte, die Frieden und eine gerechte Weltordnung mit sich bringe, als Auftrag, der von der Geschichte erteilt sei. Die Debatten in den USA und über sie seit dem 11. September 2001 spiegeln in vielem eine solche Sichtweise wider. Insofern ist dies das eigentliche Thema, wenn von den Chancen einer multilateralen internationalen Ordnung die Rede sein soll. Zugleich ist dies der Kontext, in dem der Irak-Krieg der USA gestanden hat und steht.

Insofern will ich im folgenden zunächst über den historischen Kontext des Irak-Krieges und seine Folgen sprechen, hier besonders den Zusammenhang von Neoliberalismus und imperialer Politik behandeln, dann über die aktuellen Entwicklungen im Europa der Europäischen Union und schließlich über die Chancen einer multilateralen Ordnung und ihre Akteure.

Imperiale Weltordnung?

Der angekündigte Krieg der USA gegen den Irak hat nun also stattgefunden. Die Ziele waren weitreichend. Es ging nicht allein darum, das Regime von Saddam Hussein zu stürzen; der Sturz soll entscheidend und sichtbar durch die USA und ihre überwältigende militärische Macht erfolgen. Das zielte nicht nur darauf, den Irak zu regieren, sondern die Psychologie der islamischen Welt zu transformieren, indem die überlegene Macht ihre Fähigkeit demonstriert, ein aufmüpfiges islamisches Land zu kontrollieren. Das sollte zugleich eine Demonstration gegenüber allen anderen Ländern und Völkern der sog. Dritten Welt und darüber hinaus sein. Auch ging es nicht vordergründig um Öl, sondern um Geopolitik. Der Irak liegt im Zentrum der Region zwischen dem Mittelmeer und dem Persischen Golf. Alle anderen Staaten der Region, darunter die Regimes von Saudi-Arabien und Iran, sollten gezwungen werden, ihre Interessen in Bezug auf die veränderte Lage neu zu definieren. Kombiniert mit der Verfügung über das Öl wollten die USA die Kontrolle über Europa und über die wachsenden Ökonomien Asiens, auch Chinas, Indiens, Japans und der sog. "Tigerstaaten", wieder vergrößern.

Derzeit jedoch scheint der Irak unregierbarer als je zuvor. Die Desorganisation im Lande nimmt zu. Die Bereitschaft des US-Kongresses, eine größere Besatzungsmaschinerie zu finanzieren, rückt allerdings in weite Ferne. Die Versuche von Präsident Bush, am Rande der UN-Vollversammlung von den Staats- und Regierungschefs anderer Staaten, darunter Deutschland, Frankreich, Rußland, China oder Indien, neue Unterstützungsleistungen zu erlangen, sind fehlgeschlagen. UNO-Generalsekretär Kofi Anan hat größere Leistungen der UNO abgelehnt, solange die Weltorganisation nicht die Verantwortung im Irak übernimmt, was die USA bisher ablehnen. Das erste Fazit lautet: Die Welt verweigert sich einer neuen imperialen Kolonialisierung. Offenbar sind die Gegenkräfte stärker, als die Imperial-Politiker meinten. Zugleich hat das Scheitern der Welthandelskonferenz in Cancun gezeigt, daß auch die weitere Gestaltung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen nicht glatt nach den Vorstellungen des Westens erfolgt.

Historische Dimensionen

In der Geschichte der Menschheit gab es sozialhistorisch bisher zwei wesentliche Einschnitte: die agrikulturelle Revolution vor etlichen Jahrtausenden und die Entstehung der modernen, kapitalistischen Welt am Beginn der Neuzeit. Von Europa ausgehend breitete sich die kapitalistische Wirtschaftsweise seit dem 16. Jahrhundert über die ganze Welt aus. Sich ausweitender Fernhandel, koloniale Eroberungen und Verallgemeinerung des Profitprinzips verdrängten andere Weltwirtschaftsgefüge und schufen das kapitalistische Weltsystem. Im "Kommunistischen Manifest" heißt es dazu: "Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterten Kommunikationen alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation. Die wohlfeilen Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt, mit der sie den hartnäckigsten Fremdenhaß der Barbaren zur Kapitulation zwingt. Sie zwingt alle Nationen, die Produktionsweise der Bourgeoisie sich anzueignen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen; sie zwingt sie, die sogenannte Zivilisation bei sich einzuführen, d.h. Bourgeois zu werden. Mit einem Wort, sie schafft sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde."

Dieser Kapitalismus brauchte und braucht nicht nur Märkte und Waren, die auf diesen Märkten verkauft werden, sondern auch Arbeitskraft, also Menschen, die geködert oder gezwungen werden, die Waren zu produzieren, die zu einem Preis verkauft werden, der höher liegt, als die Kosten des Verkäufers. Das so konstituierte Profitprinzip brachte von Anfang an auch die soziale Frage des Kapitalismus hervor, nämlich die nach dem menschenwürdigen Leben und den Lebensbedingungen jener, die diese Waren produzieren.

Die auf Marx zurückgehende kommunistische Bewegung zielte auf die Errichtung einer anderen Gesellschaft, die nicht-kapitalistisch produziert und die soziale Frage löst. Verstärkt durch das Elend und die Verbrechen, die die alten herrschenden Klassen im ersten und zweiten Weltkrieg begangen hatten, gelang es den Kommunistischen Parteien in einer Reihe europäischer Länder ab 1917 bzw. 1944, die Macht zu übernehmen und eine solche Gesellschaft zu proklamieren. Die von ihnen regierten Länder vermochten es jedoch nicht, aus der Logik des kapitalistischen Weltsystems auszutreten. Ihre Macht im Innern konnte nicht dauerhaft stabilisiert werden. Nach außen verloren die staatssozialistischen Länder den wirtschaftlichen Wettbewerb mit dem Westen, dessen Bedingungen durch das bewußt herbeigeführte Wettrüsten für den Osten zusätzlich erschwert worden waren. Ende der 1980er/ Anfang der 1990er Jahre verzichtete die kommunistische Nomenklatura in den osteuropäischen staatssozialistischen Ländern auf weitere staatssozialistische Versuche, übergab die Macht gewählten Regierungen und versuchte vielerorts selbst, am erfolgreichsten wohl in Rußland und anderen ehemaligen Sowjetrepubliken, "Bourgeois", d.h. Kapitaleigentümer zu werden.

Neuer Drang des Kapitals

Der weltgeschichtliche Vorgang des Scheiterns des osteuropäischen Kommunismus hatte zwei weitreichende Folgen. Die eine war, daß im Sinne der neoliberalen Ideologie und Politik alle Zugeständnisse, die aus Furcht vor weiteren kommunistischen Versuchen sowie im Gefolge von Kompromissen zwischen den Unternehmern und den starken Organisationen der Arbeiterschaft in Westeuropa und z.T. darüber hinaus gemacht wurden, rückgängig gemacht werden sollen: Abbau sozialer Rechte der Arbeiter und anderen abhängig Beschäftigten und sozialer Sicherungssysteme, Senkung der Arbeitseinkommen im Vergleich zu Einkommen aus Aktienbesitz bzw. kapitalistischem Eigentum überhaupt, Demontage der öffentlichen Daseinsvorsorge und Privatisierung von deren Einrichtungen - all dies ist zielstrebig auf die Tagesordnung gesetzt und betrieben worden. Zum Kapitalismus gehört, "daß viele Vorgänge, die vorher anders als über einen Markt gesteuert wurden, den Charakter von Waren erhielten - nicht nur Tauschgeschäfte, sondern auch Produktions-, Verteilungs- und Investitionsvorgänge. Seit dies einmal angefangen hat, versuchen Kapitalisten, in dem Betreben, mehr und mehr Kapital zu akkumulieren, immer mehr soziale Vorgänge des wirtschaftlichen Lebens zur Ware zu machen. Und da Kapitalismus ein Prozeß ist, der sich nur nach eigenen Bedürfnissen richtet, ergibt sich, daß kein sozialer Vorgang von einer möglichen Vereinnahmung wirklich ausgeschlossen ist." Die historische Entwicklung des Kapitalismus beinhaltet den Drang, "alle Dinge in Waren zu verwandeln". Dieser Drang hat nach dem Ende des Staatssozialismus einen wesentlichen Sprung gemacht: Nicht nur die ehemals kommunistischen Staaten stehen ihm offen, alle Regionen der Welt und auch die inneren Winkel der Gesellschaften sehen sich ihm gegenüber.

Hier ordnen sich die neoliberalen Planungen ein, nach dem Scheitern des Internationalen Investititionsschutzabkommens (MAI) über die Welthandelsorganisation (WTO) das sogenannte GATS-Abkommen (Handel mit öffentlichen Dienstleistungen) unter Dach und Fach zu bringen. Immer rascher sind auch in Europa die Politiker dabei, Einrichtungen der öffentlichen Daseinsvorsorge, Elektrizitätswerke, Krankenhäuser, öffentlichen Nahverkehr und vor allem die Trinkwasserversorgung zu verkaufen. Das GATS-Abkommen soll bis 2005 weltweit bindend Gültigkeit erlangen. Die Unterschrift eines Landes unter dieses Abkommen würde den Ausverkauf öffentlicher Güter dauerhaft festschreiben. Wesentliche Lebensbereiche, Schule, Gesundheit, Sozialeinrichtungen wären von Profitmaximierung allein bestimmt. Auch die EU-Kommission ist derzeit dabei, der WTO ihr "Angebot" zu den Privatisierungen in diesen Bereichen zu machen. All dies geschieht hinter verschlossenen Türen. Die soziale Frage stellt sich auf globaler Ebene heute neu: Es ist eine internationale Nobilität entstanden, der diese kapitalistische Weltwirtschaft gehört und die keinerlei soziale Verantwortung verspürt. Die Milliardäre der USA sind wohlhabender als die gesamte Kaufkraft eines Riesenlandes wie der Volksrepublik China; die reichsten 365 Personen der Welt verfügen zusammen über ein größeres Einkommen als die 1,2 Milliarden der Ärmsten der Welt.

Krieg wieder Mittel der Politik

Die andere weitreichende Folge ist, daß die USA die einzig verbliebene Supermacht sind. Die USA geben mehr für Rüstung aus, als ihre wichtigsten wirtschaftlichen und politischen Konkurrenten zusammen genommen: Bereits 1998 beliefen sich die Rüstungsausgaben der USA auf fast 266 Mrd. US-Dollar, während die Rußlands 54 Mrd. US-Dollar betrugen, die Chinas weniger als 37 Mrd. US-Dollar und die der europäischen NATO-Staaten zusammen 171 Mrd. US-Dollar. Für das Haushaltsjahr 2002/2003 sind in den USA 355 Mrd. US-Dollar für Rüstung vorgesehen. Das militärische Potential der USA ist weder quantitativ noch qualitativ einzuholen.

Gestützt darauf wurde Krieg wieder zu einem ‚normalen' Mittel der Politik gemacht. Gingen in der Zeit des Kalten Krieges auch die Planungen der USA davon aus, einen großen Krieg zu vermeiden und "kleine" Kriege nicht eskalieren zu lassen, so wird heute offen von "imperialen" Kriegen geredet, die einen anderen Charakter haben. Maximale Gewalt soll in kürzester Zeit eingesetzt werden, um die Ordnung zu schaffen, die das imperiale Zentrum will. In gewissem Sinne war der Jugoslawien-Krieg 1999 der erste Krieg, Unbotmäßigkeit zu bestrafen, ein Land dem erwähnten "Drang" des internationalen Kapitals zu öffnen und sich dafür über das geltende Völkerrecht hinwegzusetzen. Der geopolitische Neuordnungskrieg zur Okkupation des Irak ist dies in ungleich erweitertem Maßstab.

Imperialismustheoretisches

Während des ersten Weltkrieges hatte Lenin ein baldiges Ende des Kapitalismus diagnostiziert, das er mit dem "Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus" kommen sah. Mittlerweile ist die maßgeblich durch ihn initiierte Alternative dahingeschieden und der Kapitalismus scheint stärker und erfolgreicher denn je. Die Diagnose vom "sterbenden Kapitalismus" also hat sich als falsch erwiesen. Zugleich hatte Lenin fünf Merkmale des "Imperialismus" ausgemacht, die heute näher zu betrachten wären:
  1. Konzentration der Produktion und des Kapitals, Bildung von Monopolen. Tatsächliche Monopole sind heute eher nicht anzutreffen, Oligopole jedoch allemals, und der Konzentrationsprozeß, denken wir nur an DaimlerChrysler und ähnliche Groß-Multis, setzt sich transnational, auf globalisierter Ebene weiter fort.
  2. Verschmelzung von Industrie- und Bankkapital zum Finanzkapital. Seit etwa zwanzig Jahren hat sich eine weitgehende Verselbständigung der Finanzsphäre vollzogen; die frühere Unterstützungsrolle des Finanzkapitals für die Industrie besteht kaum noch. Es ist eine virtuelle Ökonomie entstanden, die sich nationaler staatlicher Kontrolle entzogen hat und vorhandene Ressourcen bedenkenlos abräumt, wenn dies Profit verspricht. Dadurch werden Problemlagen in Gesellschaften der "Peripherie" und in den Unterschichten der Gesellschaften der "Zentren" bedenkenlos verstärkt.
  3. Kapitalexport gewinnt gegenüber dem Warenexport vorrangige Bedeutung. Charakteristisch für die Gegenwart ist Kapitalimport der USA. Das US-Außenhandelsdefizit ist seit Jahren auf Größenordnungen von 300 Mrd. US-Dollar jährlich angewachsen. Der größte Teil des ausländischen Kapitals fließt jedoch in die Finanzierung dieser Importe, in die Rüstung und in den privaten Konsum in den USA. Insofern haben diese Geldströme, die im Grunde vielen Ländern der Welt Kapital für produktive Zwecke entziehen, eher den Charakter eines imperialen Tributs: die Armut in den Ländern des Südens und die Arbeitslosigkeit in Westeuropa sind die Kehrseite der wundersamen Profitvermehrung in den Finanzsphären der USA.
  4. Herausbildung internationaler Monopolistenverbände, die Einflußsphären und Märkte in der Welt unter sich aufteilen. Mit Weltbank, Internationalem Währungsfonds (IWF) und Welthandelsorganisation (WTO) sind internationale, weltweite Organisationen entstanden, die die "Spielregeln" der kapitalistischen Bewegung global festlegen und kontrollieren.
  5. Die territoriale Aufteilung der Welt unter die imperialistischen Großmächte ist abgeschlossen; der Kampf um die Neuaufteilung führt zu imperialistischen Kriegen. Das war gestern. Das kapitalistische Weltsystem hat die Entkolonialisierung überstanden, und mit neuerlichen Kriegen zwischen den Zentren des internationalen Kapitalismus ist weder aus militärischen (siehe die militärische Potenz der USA) noch aus Profitgründen zu rechnen. Hier ist analytisch mit Lenin nicht mehr viel anzufangen.
Weiter hilft hier schon die Idee von Karl Kautsky, daß der Kapitalismus zu einem "Ultraimperialismus" führen wird, über den er während des ersten Weltkrieges schrieb, "daß die jetzige imperialistische Politik durch eine neue, ultraimperialistische verdrängt werde, die an Stelle des Kampfes der nationalen Finanzkapitale untereinander die gemeinsame Ausbeutung der Welt durch das international verbündete Finanzkapital setzte." Und das ist es ja wohl, womit es die Völker der Welt seit 1945 zu tun haben, nach dem Ende des Staatssozialismus nun tatsächlich in globalem Maßstab. Die USA und EU-Europa sind die Hauptkomponenten dieses "Ultraimperialismus", neben Japan, und ihr Verhältnis ist eines von Übereinstimmung der Interessen und Konkurrenz innerhalb des Gefüges. Die Asienkrise Ende der 1990er Jahre, als etliche der zuvor als "erfolgreich" eingestuften asiatischen Schwellenländer in kurzer Zeit einen beträchtlichen Teil ihres erarbeiteten Wohlstands verloren, hat gezeigt, daß die Hauptprofiteure dieses Vorganges eben im nordatlantischen Raum, in der ‚Welt des weißen Mannes' beheimatet waren. Das korrespondiert mit dem Ansatz von Wallerstein, daß der Kapitalismus - von Europa ausgehend - kein Imperium hervorbrachte, sondern ein Weltsystem, das ein neuartiges Sozialsystem wurde. Es hat Grenzen, Strukturen, Mitgliedsgruppen, Legitimationsgesetze und besteht "aus widerstreitenden Kräften, die es durch Spannung zusammenhalten und auseinanderzerren, da jede Gruppe fortwährend danach strebt, es zu ihrem Vorteil umzugestalten. Es hat Merkmale eines Organismus", der in Bewegung ist, dessen Strukturen sich verändern, der sich insgesamt aber als überlebensfähig gezeigt hat. Zu seinen Vorteilen gegenüber historischen Imperien gehört, daß letztere dazu neigen, eine Bürokratie hervorzubringen, die zuviel vom Profit absorbiert. Zentrum und Peripherie bedingen sich in diesem System gegenseitig, der Reichtum im Zentrum hat die Armut der Peripherie zur Voraussetzung. Und es geht nicht ohne Staat, zumindest den Staat des Zentrums: die kapitalistischen Schichten brauchen ihn, um ihre Interessen zu schützen, die verschiedenen Monopole zu behaupten und ihre Verluste auf die übrige Bevölkerung zu verteilen. So sind die Staatsstrukturen in den Zentren stark, in den Peripheriegebieten eher schwach.

Das Wechselverhältnis von Kooperation und Konkurrenz innerhalb des ultraimperialistischen Gefüges mag in ruhigen, friedlichen Zeiten nicht so deutlich hervortreten; es geht um Zölle zwischen der EU und den USA, um Regularien in der WTO, um genmanipulierte Sojabohnen. Jetzt jedoch, da die USA den geopolitischen Neuordnungskrieg im Nahen und Mittleren Osten auf die Tagesordnung gesetzt hatten, um mittels ihrer militärischen Gewalt die relative Schwäche im Bereich der wirtschaftlichen Konkurrenz zu kompensieren und sich mit dem Irak-Öl auch die Kontrolle über die Öl-Preise zu sichern, erhielt das Verhältnis von Kooperation und Konkurrenz eine völlig andere Dimension. Nicht nur, daß die Regierungen Deutschlands und Frankreichs im Verein mit Rußland und China über den UN-Sicherheitsrat den Krieg schon aus wirtschaftlichen Gründen doch noch zu verhindern trachteten, sie handelten zugleich in Übereinstimmung mit dem Willen der Mehrheit der Völker Europas, ja der Welt.

Zugleich verkörperte diese imperiale Strategie der USA ja gerade den Versuch, das kapitalistische Weltsystem in ein von ihnen kontrolliertes Imperium zu verwandeln, womit das Weltsystems seiner Vorteile gegenüber einem Imperium natürlich verlustig ginge. In Bosnien, Kosovo und Afghanistan ist bereits zu besichtigen, daß derlei Protektorate offenbar auf Dauer gestellt sind - und die Kosten tragen bisher bekanntlich die anderen, jedenfalls nicht die USA. Im Irak allerdings wollten sie den Protektor selbst stellen, schon wegen des Öls. Das Ergebnis ist bekannt. Die Ausdehnung derartiger Protektoratskonstruktionen in der Welt bindet jedenfalls immer mehr Kräfte und Mittel des kapitalistischen Weltsystems, die für anderes nicht zur Verfügung stehen, verstärkt den Widerstand des "Südens" gegen den "Norden" und vergrößert weltweit die von diesem imperialen Streben bewirkte Zone der Unsicherheit.

Eher Schwäche als Stärke

Die internationale Debatte zur Zeit der Eröffnung der Kriegshandlungen der USA gegen den Irak sah omnipotente Vereinigte Staaten, die sich scheinbar problemlos über die UNO und ihre Beschlüsse hinwegsetzen konnten. Der französische Historiker und Sozialwissenschaftler Emmanuel Todd dagegen betonte schon vor Kriegsbeginn in seinem auch international vieldiskutierten Buch über die USA: Der Krieg gegen den Irak und die anderen angekündigten Kriege sind nicht Zeichen von Stärke, sondern von Schwäche. Die USA werden zunehmend ein Problem für die Welt. "Zwischen drei medienwirksamen Umarmungen und der Unterzeichnung von zwei Abrüstungsvereinbarungen haben sie Rußland herausgefordert durch Sendungen in tschetschenischer Sprache auf Radio Free Europe, durch die Entsendung von Militärberatern nach Georgien und durch die Einrichtung von Militärbasen im ehemals sowjetischen Mittelasien." China wurde durch die Bombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad während des Kosovo-Krieges provoziert und dadurch, daß man eine für die chinesische Führung bestimmte Boeing mit leicht zu entdeckenden Wanzen versah. Derweil wurde aus dem Pentagon mitgeteilt, es werde über Nuklearschläge gegen Staaten nachgedacht, die nicht über derartige Waffen verzichten - ein eklatanter Bruch aller in diesem Bereich bestehenden völkerrechtlichen Verträge. Todds Fazit: "Die Regierung in Washington wendet damit eine klassische strategische Denkfigur an, die aber ungeeignet ist für ein Land von der Größe eines Kontinents: die ‚Strategie des Verrückten', nach der man potentiellen Gegnern möglichst unberechenbar erscheinen sollte, weil sie das noch stärker einschüchtere." Das gilt übrigens auch für jene, die sich Freunde dünken.

Zwei Gründe sieht Todd. Der erste ist die weltweite Entwicklung zur Demokratie. Er hat hier ein nachdenkenswertes Theorem entwickelt: die Menschen lernen lesen und schreiben, auch elementares Rechnen, und ergreifen damit die Herrschaft über ihre unmittelbare Umwelt. Das Wirtschaftswachstum in Europa vom 17. bis zum 20. Jahrhundert war Folge der Verbreitung von Bildung. Eben diese Entwicklungen vollziehen sich heute in Lateinamerika und weiten Teilen Asiens. Sobald auch die Frauen lesen und schreiben können, beginnt die Geburtenkontrolle. Die Menschheit befreit sich aus einem Zustand der Unterentwicklung. Dies allerdings ist in aller Regel mit einer Übergangskrise verbunden; die alten Gewißheiten gelten nicht mehr, neue noch nicht. Im Ergebnis dieser Krise kommen die Gesellschaften wieder zur Ruhe und sind demokratisch verfaßt, schon deshalb, weil diese gebildeteren Menschen nicht mehr irgendwelche selbsternannten Herren über sich dulden, sondern politisch mitbestimmen wollen. Mit eben diesem Ansatz hatte Todd 1976 den Zusammenbruch der Sowjetunion und die schließliche Errichtung demokratischer Verhältnisse nach dem Kommunismus vorausgesagt. Und was bedeutet dies für die USA heute? Wenn sich die ganze Welt von sich aus demokratisiert, werden sie als "Vorkämpfer" der Demokratie überflüssig. Zur gleichen Zeit wird in den USA die Demokratie schwächer. Die oberen zwanzig Prozent der Gesellschaft, die über fünfzig Prozent der Wirtschaftskraft verfügen, haben zunehmend Schwierigkeiten, sich den Zwängen des allgemeinen Wahlrechts zu unterwerfen; es findet eine "Oligarchisierung" statt. Und was könnte dies besser belegen, als die fingierte Machtergreifung des George W. Bush? Hinzu kommt, daß sich die weltwirtschaftlichen Verhältnisse umgekehrt haben. Das Handelsbilanzdefizit der USA stieg von etwa 100 Milliarden Dollar Anfang der 1990er Jahre auf 450 Milliarden Dollar im Jahre 2000; zehn Prozent des Verbrauchs der USA an Industriegütern sind nicht durch eigene Produktion oder Exporte gedeckt. Um die Zahlungsbilanz auszugleichen, brauchen sie Kapitalzuflüsse in entsprechender Höhe. Die amerikanischen Auslandsschulden sind der Tribut, den das Imperium der ganzen Welt auferlegt hat. Und um dessen stetigen Fluß zu sichern, brauchen die USA ihre Militärmacht, ein ständiges Mindestmaß an Spannungen in der Welt, "Feinde" und die oben beschriebene Unberechenbarkeit Aus der Perspektive Westeuropas ist so auch die Rolle Rußlands neu zu bewerten. Wenn das Verhältnis der USA zur übrigen Welt, so Todd, "nicht mehr von Schutz, sondern von potentieller Aggression bestimmt wird", fällt Rußland die Rolle der potentiellen Schutzmacht zu, verfügt es doch nach wie vor über eine entsprechende Zahl strategischer Nuklearwaffen. Die "Achse" Paris-Berlin-Moskau gegen den Irak-Krieg schien genau diese Verbindung zu sein.

Aber kann und will denn Rußland eine solche Rolle spielen? Nachdenklichere Stimmen in Moskau raten zu Zurückhaltung. Man schaut auf die Geschichte und sagt, die Politik solle sich auf die Zeit des Zaren Alexander III. (er regierte 1881-1894) besinnen, der sich um innere Stabilisierung des Landes mühte und nach außen keine Kriege führte. Der habe die Linie des langjährigen Außenministers Gortschakow fortgeführt, sich aus den Händeln der anderen Großmächte herauszuhalten. Rußland heute, nach den Jahrzehnten des Kommunismus, der Kriege und des Kalten Krieges erschöpft, brauche Ruhe, um sich auf die Bewältigung seiner inneren Probleme zu konzentrieren. "Rußland hat nur zwei Verbündete", wird unter Bezug auf die Situation Alexander III. gesagt: "seine Armee und seine Flotte." Und die sind nicht in einem Zustand, in eine neuerliche Machtkonkurrenz oder Konfrontation mit den USA einzutreten. Die "Achse" des vergangenen Winters wird keine Konstante der internationalen Politik sein. Rußland, vor eine Wahl zwischen deutsch-französischer oder US-amerikanischer Richtung gestellt, wird sich nicht vor einen der beiden Karren spannen lassen.

Die Europäische Union als Herausforderer?

Ein "Konvent" der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union und der Beitrittsländer, die im nächsten Jahr Mitglieder der EU werden wollen, hat kürzlich den Entwurf für eine Verfassung der Europäischen Union vorgelegt. Mit diesem Entwurf ergibt sich eine Reihe von Fragen. Versteht sich die EU als "Insel der Prosperität", die es als eine Art Festung nach außen abzusichern gilt? Oder will sie ernsthaft am Interessenausgleich zwischen den sog. Wohlstandsregionen, den sog. Schwellenländern und der an den Rand gedrängten Mehrheit der Weltbevölkerung in der "Peripherie" arbeiten? Will die EU als neuer militärischer Faktor in der Weltpolitik mit den USA bei der reibungsloseren Durchsetzung der kapitalistischen Globalisierung und der militärischen Ausschaltung von "Störfaktoren" (Terrorismus, Bürgerkriege, Auflösung von Staaten) wetteifern, oder setzt sie auf neue Modelle der friedlichen Konfliktursachenbewältigung und der globalen Entmilitarisierung?

Vor diesem Hintergrund gewinnen der Entwurf für eine Verfassung der Europäischen Union, und hier insbesondere die Teile zu einer "Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik" besonderes Gewicht. Die Aussagen zur "Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik" (GASP) nehmen schon quantitativ einen erheblichen Raum ein. Wichtiger ist jedoch, dass ihr eine zentrale Funktion im Prozess der Integration der EU der 25 zugewiesen wird, wie in den Abschnitten über Zuständigkeiten (bes. Art. I-11) bzw. allseitigen Verbindlichkeitscharakter (Art. I-15) deutlich wird. Mit der GASP wird eine grundlegende Weichenstellung für die EU als zukünftigem weltpolitischen Machtzentrum anvisiert. Zwar gibt es verschiedentlich Verweise auch auf diplomatische, wirtschaftliche, entwicklungspolitische und völkerrechtliche Maßnahmen und Instrumente, diese bleiben jedoch formal und im Wesentlichen auf Aspekte der Entscheidungsfindung und Abstimmung beschränkt. In deutlichem Kontrast dazu steht die "Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik": Die Regelungen des EU-Verfassungsentwurfs stellen eine entscheidende Weiterführung in diesem Politikbereich dar. Aspekte militärischer Rüstung und ihre Einsatzmodalitäten erhalten Verfassungsrang.

Insbesondere werden drei Gefahren deutlich, die durch die Annahme dieser Verfassung verschärft würden: Krieg als Mittel der Politik wird weiter enttabuisiert, ja als ggf. unausweichliches Mittel zur Interessenwahrung des neu-formierten EU-Staatengefüges legitimiert. Eine weitere Aufrüstung bzw. Rüstungsmodernisierung erhalten mit dieser EU-Verfassung für alle EU-Mitgliedstaaten Verfassungsrang. Die Versuchung, regionale oder lokale Krisen eigenmächtig militärinterventionistisch zu lösen, wird zunehmen und damit weltweit neue Rüstungsdynamiken provozieren. Wer die Auffassung vertritt, daß die Potentiale der Europäischen Union für die Zivilisierung und Entmilitarisierung der Internationalen Beziehungen, für eine nachhaltige Entwicklung in globalem Maßstab genutzt und entwickelt werden sollten, muß einen solchen Verfassungsentwurf ablehnen.

Der Verfassungsentwurf ist einmalig im friedens- bzw. militärpolitischen Bereich. "Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern" (I-40). Indem diese Formulierung Verfassungsrang erhalten soll, stellt sie eine explizite Verpflichtung zu Aufrüstung bzw. Rüstungsmodernisierung dar. Dieser Verpflichtungserklärung soll Nachdruck verliehen werden, indem ein "Europäisches Amt für Rüstung, Forschung und militärische Fähigkeiten" eingeführt wird, das "bei der Ermittlung der Ziele im Bereich der militärischen Fähigkeiten der Mitgliedstaaten mitwirken und die Erfüllung der von den Mitgliedstaaten in Bezug auf diese Fähigkeiten eingegangen Verpflichtungen bewerten", "die Forschung auf dem Gebiet der Verteidigungstechnologie unterstützen", "zweckdienliche Maßnahmen zur Stärkung der industriellen und technologischen Basis des Verteidigungssektors ermitteln und diese Maßnahmen gegebenenfalls durchführen"(I-40, III-207) soll.

Einmalig ist ebenfalls, daß auch die Bereitschaft zu weltweiten Militäreinsätzen in Verfassungsrang erhoben wird. EU-Streitkräfte sollen zu "Kampfeinsätzen im Rahmen der Krisenbewältigung einschließlich Frieden schaffender Maßnahmen" eingesetzt werden können. Weiter heißt es: "Mit allen diesen Missionen kann zur Bekämpfung des Terrorismus beigetragen werden, unter anderem auch durch die Unterstützung für Drittstaaten bei der Bekämpfung des Terrorismus in ihrem Hoheitsgebiet". (III-205) Das Beschwören einer diffusen Terrorismusgefahr wird auch in Europa zu einer allgegenwärtigen Rechtfertigungsformel für globale Militärinterventionen gemacht. Mit einer territorialen Verteidigungsoption, die Rüstung auf entschieden niedrigerem Niveau einschließen würde, haben diese Bestimmungen nichts zu tun. Es geht ausschließlich um Militärinterventionen - ohne geographische Einschränkungen.

In diesen Kontext fügt sich die neue "Sicherheitsdoktrin" der EU. Im Auftrag der EU-Regierungschefs hat der "Verantwortliche für den Bereich Außen- und Sicherheitspolitik" der EU, Javier Solana, einen Entwurf für ein Strategiepapier für den Militärbereich vorgelegt. Seit vier Jahren arbeitet die EU am Aufbau sicherheits- bzw. militärpolitischer Entscheidungsstrukturen und militärischer Kapazitäten. Kontingente für schnelle Militärinterventionen stehen der EU inzwischen zur Verfügung. Auf diese Ressourcen kann künftig zurückgegriffen werden, wenn mit den Sicherheitsvorstellungen Solanas Ernst gemacht werden soll.

In diesem Entwurf, der auf dem EU-Gipfel im Juni 2003 in Thessaloniki im Grundsatz gebilligt wurde, heißt es: "Unser herkömmliches Konzept der Selbstverteidigung, das bis zum Ende des Kalten Krieges galt, ging von der Gefahr einer Invasion aus. Bei den neuen Bedrohungen wird die erste Verteidigungslinie oftmals im Ausland liegen. Die neuen Bedrohungen sind dynamischer Art. Wenn sie nicht beachtet werden, erhöht sich die Gefahr. ... Daher müssen wir bereit sein, vor dem Ausbrechen einer Krise zu handeln." ... "Eine Union mit 25 Mitgliedern und einem Verteidigungsgesamthaushalt von 160 Milliarden Euro sollte in der Lage sein, mehrere Operationen gleichzeitig auszuführen. Wir müssen eine strategische Kultur entwickeln, die frühe, schnelle und, falls erforderlich, robuste Interventionen fördert." Das ist die europäische Variante des Präventivkriegskonzepts der Bush-Doktrin. In Artikel I-40, Absatz 6 heißt es: "Die Mitgliedstaaten, die anspruchsvolle Kriterien in Bezug auf die militärischen Fähigkeiten erfüllen und die im Hinblick auf Missionen mit höchsten Anforderungen untereinander festere Verpflichtungen eingegangen sind, begründen eine strukturierte Zusammenarbeit im Rahmen der Union." Dies bedeutet, dass einzelne Staaten innerhalb der EU, die "untereinander festere Verpflichtungen eingegangen" sind, gemeinsam auch festere militärische Strukturen schaffen können.

Weiter heißt es: "Im Rahmen der nach Artikel III-210 erlassenen Europäischen Beschlüsse kann der Ministerrat die Durchführung einer Mission einer Gruppe von Mitgliedstaaten übertragen, die über die erforderlichen Fähigkeiten verfügen und sich an dieser Mission beteiligen wollen." Dies führt, sollte es Verfassungsrang erhalten, auf jeden Fall zur Festschreibung militärinterventionistischer Strukturen und Politik innerhalb der EU: Auch wenn Regierungen einzelner Staaten dies nicht (mehr) mitmachen wollen, dann werden es eben die Staaten tun, die "untereinander festere Verpflichtungen eingegangen" sind - und den anderen wird ein Mitspracherecht verweigert.

"Über militärische Einsätze der EU entscheidet der Ministerrat" (I-40, III-205), so regelt das Artikel 40 Absatz 4 des EU-Verfassungsentwurfs. Ähnlich noch einmal in Artikel 198 Absatz 1: "Verlangt eine internationale Situation ein operatives Vorgehen der Union, so erlässt der Ministerrat die erforderlichen Europäischen Beschlüsse." Eine Beteiligung des EU-Parlaments ist also von vornherein nicht vorgesehen. In Absatz 8 des Artikels 40 wird lediglich geregelt, dass das EU-Parlament zu "wichtigsten Aspekten" regelmäßig anzuhören sei und über die Entwicklung der "grundlegenden Weichenstellungen der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik auf dem Laufenden gehalten" (I-40, III-205) werden soll. Artikel 205 Absatz 1 präzisiert diese Informationspflicht. In Absatz 2 heißt es dann: "Das Europäische Parlament kann Anfragen an den Ministerrat und den Außenminister der Union stellen." (I-40, III-205) Aber: ein Informationsrecht ist kein Beschlussrecht. Das nicht vorhandene Kontrollrecht des EU-Parlaments verstößt gegen Grundsätze von Gewaltenteilung und parlamentarischer Demokratie.

Das hat auch Auswirkungen auf die Bundesrepublik: Nach Art. 26 des Grundgesetzes (GG) sind alle Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges, verfassungswidrig und nach § 80 StGB unter Strafe gestellt. Da jede nicht von den Ausnahmetatbeständen der UNO-Satzung (Art. 51 und Art. 39-42) gedeckte militärische Aggressionshandlung den Tatbestand des Angriffskrieges erfüllt, enthält die Verfassungsnorm ein Verdikt gegen die militärische "Lösung" internationaler Streitfragen. Ergänzt wird Art. 26 durch Art. 87 a GG, der den Einsatz der Bundeswehr auf die Verteidigung beschränkt. Zwar verweist der EU-Verfassungsentwurf bei der Sicherheits- und Verteidigungspolitik auf die "Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen" (I-40, Abs. 1), aber andererseits wird der rechtliche Rahmen für mögliche EU-Kampfeinsätze ausgeweitet und ein "Präventivkrieg" in die Konzeption einbezogen. Ein "Präventivkrieg" ist jedoch nach dem Völkerrecht auf der Basis der UN-Charta völkerrechtswidrig. Insofern eröffnet der Entwurf die Möglichkeit, Art. 26 GG weiter aufzuweichen und zu übergehen.

Im Jahre 1992 reichte die SPD-Fraktion im Bundestag eine Klage gegen Out-of-Area Einsätze der Bundeswehr beim Bundesverfassungsgericht ein. Sie kritisierte insbesondere die "systematische Ausschaltung des Parlaments bei grundlegender Neugestaltung der sicherheitspolitischen Beziehungen". Aufgrund der verfassungsrechtlichen Vorgaben verfügte das Bundesverfassungsgericht am 12. Juli 1994 verbindlich, dass über Auslandseinsätze der Bundeswehr der Bundestag mit einfacher Mehrheit entscheidet. Damit sollte der demokratischen Balance zwischen Exekutive und Legislative Rechnung getragen werden. Gemäß Art. I-10 des Entwurfs der EU-Verfassung besitzt jedoch "das von den Organen der Union in Ausübung der ihnen zugewiesenen Zuständigkeiten gesetzte Recht... Vorrang vor dem Recht der Mitgliedsstaaten". Damit entscheidet bei Annahme dieser EU-Verfassung über Krieg und Frieden der Ministerrat; die Zustimmungspflicht des Bundestages aber wäre ausgehebelt.

Widerstände

Der Neoliberalismus als Wirtschaftsordnung ist nicht nur ein Modell der Regulation der kapitalistischen Verhältnisse, er strebt zugleich an, ein internationales Herrschaftsmodell zu sein, das Re-Kolonialisierung ebenso einschließt wie imperiale Kriege. Neoliberalismus als Wirtschaftsmodell und "Unilateralismus" sowie imperialistischer Krieg als Modell der internationalen Beziehungen gehören zusammen. Und dieser Kapitalismus ist nicht blind gegenüber den "Gewinnern" und "Verlierern" seines Wirkens, sondern am Ende finden sich die "Gewinner" in der "Welt des weißen Mannes" im nordatlantischen Bereich und die "Verlierer" in der übrigen Welt.

Dennoch zeigt sich zunächst dreierlei:
  1. Die tatsächlichen Verhältnisse im Irak haben die Strategie imperialer Kriege der USA in eine Sackgasse geführt; je länger ihre Schwierigkeiten andauern, das Land zu durchherrschen und tatsächlich zu kontrollieren, desto geringer ihre Lust, weitere derartige Kriege zu führen. Und das ist gut für die Welt.
  2. Die Strategie der Europäischen Union, analog der der USA eigene Kriegsführungsfähigkeiten aufzubauen - wie sie in dem Entwurf der EU-Verfassung angelegt sind - führt in die gleiche Sackgasse. Sie trifft allerdings nicht nur auf den Widerstand der respektiven Völker, sondern ggf. auch auf die militärische Drohung der USA, sollten die Aktivitäten der EU vitalen Interessen der USA wirklich entgegenstehen. Insofern wird nicht der letzte Krieg des Weltkapitalismus zwischen den USA und der EU stattfinden, sondern die EU wird sich zurückziehen, wenn die USA mit harten militärischen Maßnahmen drohen.
  3. Insofern ist ein Konzept der EU, eigene Kriegsführungskapazitäten aufzubauen, von vornherein der falsche Weg. Die EU-Politik bietet nur dann eine Alternative zu der der USA, wenn sie inhaltlich anderen Prioritäten folgt, sich also als "Zivilmacht" international präsentiert. Hinzu kommt ein weiteres Grundproblem. Das Imperium führt Krieg, an seiner Peripherie, um Macht, Öl und eine Neuordnung der Welt. Das kann nicht oft genug gesagt werden und wird nicht abgestanden sein, solange es die Beschreibung der Wirklichkeit ist. Doch das Imperium will nicht zugestehen, daß es darum geht. Der Krieg lügt sich seine Existenz herbei, die Lüge ist seine Daseinsweise, selbst im Denken seiner Protagonisten. Zbigniew Brzezinski, einer der Vordenker der Vorherrschaft der USA, hat geschrieben: "Nie zuvor hat eine volksnahe Demokratie internationale Vormachtstellung erlangt." Demokratie als Staatsform sei "einer imperialen Mobilmachung abträglich." Dann wird gemeint, im Falle der USA sei es erstmals anders, eine "demokratische" Vorherrschaft gewissermaßen.
Die erste Grundaussage ist zunächst richtig. Als Rom umfassendes Imperium wurde, ward die Republik abgeschafft und das Caesarentum eingeführt. Und die USA heute? Zur Erinnerung: George W. Bush ist bei der US-Präsidentenwahl 2000 nicht von der Mehrheit gewählt worden, auch die Mehrheit der Wahlmänner hatte er nicht, nur durch die Zuweisung der Wahlmänner des Staates Florida, in dem sein Bruder Gouverneur ist, an ihn, wurde er ins Weiße Haus gebracht. Es war, wie es der kritische Journalist David Cogswell nannte, "ein rechtsgerichteter Putsch", mit dem Bush an die Macht geschoben wurde. Nun meinen etliche Kommentatoren, wegen dieses Geburtsfehlers seiner Macht bedürfe dieser des Krieges, um mit nationalistischer Aufwallung eine Wiederwahl zu erreichen. Vielleicht ist es aber gerade umgekehrt: Er wurde an die Macht geschoben, um den Krieg zu führen, als den ersten einer Reihe US-amerikanischer Neuordnungskriege in der Welt. Zehn Jahre hatten die rechten Vordenker der imperialen Kriegspolitik in ihren Think-Tanks gehockt und über diesen Plänen gebrütet, dreimal, wird gesagt, hatten sie Clinton den Irak-Krieg andienen wollen, dreimal hat er abgelehnt. Nun aber ist ihr Mann im Weißen Haus.

Und der 11. September 2001? Ist nicht ohne ihn das alles jetzt nicht zu erklären? Und hat es ihn nicht wirklich gegeben? Wir haben all die schrecklichen Bilder doch gesehen! Andreas von Bülow, einst Minister im Kabinett von Helmut Schmidt, hat bereits im Januar 2002 darauf verwiesen, daß die Anschläge von New York geheimdienstliche Handschrift tragen. "Da sind Spuren wie von einer trampelnden Elefantenherde", sagte er, doch niemand hat sie verfolgt. Lediglich die Bin-Laden-Spur wurde präsentiert. Wo aber ist Bin Laden, ohnehin einer Familie zugehörig, die seit langem Geschäfte mit dem Bush-Clan gemacht hatte, denn mittlerweile geblieben? Oder hat er seine Rolle bereits zu Ende gespielt? Bekanntlich wissen wir heute, daß der damalige US-Präsident Franklin D. Roosevelt vom Angriff auf Pearl Harbor durchaus vorher wußte, aber befahl, nichts zu tun, weil ihm klar war, ohne diesen Angriff würde er das amerikanische Volk nicht in den Zweiten Weltkrieg bringen. Nun war jeder Krieg gegen Hitlerdeutschland eine gerechte Sache, insofern ist dies unvergleichbar. Doch der Vorgang verdient, erinnert zu werden. Ohne 11. September wäre dieses Volk nicht in den schmutzigen Krieg heute zu bringen gewesen. Abraham Lincoln, 1861-1865 Präsident der USA, der die Sklaverei abschaffte, hatte über die bürgerliche Politik dereinst gesagt: "Man muß es verstehen, eine Ursache zu erzeugen, die eine Wirkung hat, und diese Wirkung anschließend bekämpfen."

Und der Gebrauch des 11. September geht noch viel weiter. Da wurden in den USA und anderswo innenpolitisch weitreichende Veränderungen durchgezogen, Bürgerrechte abgebaut, neue Kontrollinstitutionen geschaffen. Der Abbau der liberalen Freiheitsrechte und der Krieg sind zwei Seiten einer Medaille. Die Ausrufung des Aggressionskrieges entgegen der UNO-Charta und gegen den UNO-Sicherheitsrat gehören dazu. Am Ende ist es doch so: Demokratie und Imperium passen nicht zusammen. Und die größte Lüge im Kontext des Irak-Krieges ist, dies für die USA leugnen zu wollen. Entweder wird erstere abgeschafft, oder das zweite vom Volk der USA zum Scheitern gebracht. Die Kriegsgegnerschaft in der Weltöffentlichkeit und die der anderen Staaten in der Welt tragen auf ihre Weise dazu bei.

* Dr. Erhard Crome, Berlin, Sozialwisssenschaftler, Rosa-Luxemburg-Stiftung


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