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Die allgemeine Wehrpflicht "garantiert die Qualität der Bundeswehr"

Im Wortlaut: Empfehlung des 11. Beirats für Fragen der Inneren Führung zur Wehrpflicht

Am 23. Juni 2003 legte der 11. Beirat für Fragen der Inneren Führung* Empfehlungen zur Wehrpflicht vor. Das Papier unterstützt die Haltung des Verteidigungsministers Peter Struck und der Mehrheit der SPD-Fraktion in dieser Frage. Im Zentrum der Argumentation: die Aufrechterhaltung der "Qualität" der Truppe und die Lösung des Rekrutierungsproblems. Zu völlig anderen Ergebnissen kam die Evangelische Arbeitsgemeinschaft zur Betreuung der Kriegsdienstverweigerer (EAK) in ihrer Stellungnahme zu den Verteidigungspolitischen Richtlinien, worin sie für die Abschaffung der Wehrpflicht plädierte.
Wir dokumentieren die "Empfehlungen" im vollen Wortlaut.


Empfehlung des 11. Beirats für Fragen der Inneren Führung zur Wehrpflicht

(Endfassung Juni 2003; veröffentlicht am 23. Juni 2003)


Kurzfassung:

Der Beirat für Fragen der Inneren Führung hält den gegenwärtigen Zustand, dass die Bundeswehr aus 60 Prozent Zeit- und Berufssoldaten und 40 Prozent Grundwehrdienstleistenden besteht, für die richtige Wehrform für die deutschen Streitkräfte. Sie sichert die sachgerechte Auftragserfüllung im Frieden, die Einsatz- und Durchhaltefähigkeit und die Fähigkeit, bei Bedarf die Truppenstärke anzuheben. Sie ist Ausdruck des Engagements der Bürger für die Sicherheitsvorsorge in unserem Land.

Die Wehrpflicht muss sinnvoll sein. Der Dienst muss für die Grundwehrdienstleistenden einleuchtend sein. Er muss für die Bundeswehr nützlich sein. Die Gesellschaft muss seinen Wert erkennen. Dieser Dreiklang der Sinnhaftigkeit ist nur gesichert, wenn der Grundwehrdienst gewisse Mindestbedingungen erfüllt. Bei einer weiteren Verkürzung der Grundwehrdienstzeit würde sich nicht nur die Sinnfrage stellen, sondern es würde auch die Akzeptanz der Grundwehrdienstleistenden (GWDL) in der Truppe gefährdet und zu einem Ansehensverlust des Ausbildungsdienstes bei den GWDL führen. Wer die Grundwehrdienstdauer weiter verkürzen will, ist in der Begründungs- und Darlegungspflicht, dass diese Entscheidung mit den Anforderungen an die beschlossene Reform der Bundeswehrstruktur übereinstimmt und nicht sachfremden Kriterien gehorcht. Auch für die Aufgaben der Bundeswehr im 21. Jahrhundert im Rahmen der Sicherheitsvorsorge (Landes- und Bündnisverteidigung) und der Risikovorsorge gegen die neuen, nicht immer vorhersehbaren Bedrohungen ist die Wehrpflicht unverzichtbar. Der Grundwehrdienst muss jedoch reformiert werden. Er muss gestrafft und besser auf die aktuellen Aufgaben zugeschnitten werden. Zu der Ausbildung für die Aufgaben des Soldaten im Rahmen der Landes- und Bündnisverteidigung muss die Ausbildung jener Fähigkeiten hinzutreten, die in Auslandseinsätzen gebraucht werden. Für die Grundwehrdienstleistenden soll auf freiwilliger Basis der Einsatz in Auslandsmissionen ermöglicht werden. Dafür ist ein Katalog jener Aufgaben zu erstellen, die für Grundwehrdienstleistende in Betracht kommen.

Der Wehrdienst muss flexibler organisiert werden. Die zivilen und beruflichen Fähigkeiten der Grundwehrdienstleistenden müssen stärker als bisher bei ihrer Verwendung in der Bundeswehr berücksichtigt werden. Die während der Grundwehrdienstzeit ausgeübten Tätigkeiten müssen in einer zivil verwertbaren Form zertifiziert werden. So kann die Grundwehrdienstzeit auch zum Erwerb neuer oder erweiterter zivilberuflicher Fähigkeiten genutzt werden.

Die Wehrpflicht ist in der Gesellschaft weithin unumstritten. Umfragen bestätigen über viele Jahre eine breite öffentliche Zustimmung zur Wehrpflicht. Die in der Diskussion oft angeführte Abschaffung des Wehrdienstes bei einigen Verbündeten muss kritisch diskutiert werden. Die Erfahrungen der Länder, die die Wehrpflicht abgeschafft haben, zeigen, dass damit Streitkräfte in der Form und Qualität, wie sie in Deutschland für wünschenswert gehalten werden, nicht erhalten werden können, schon gar nicht zu den bereitgestellten Finanzmitteln.

Die Wehrpflicht ist auch gesellschaftspolitisch von großer Bedeutung. Sie garantiert den Austausch zwischen Gesellschaft und Bundeswehr, die öffentliche Aufmerksamkeit und die demokratische Kontrolle.

Die durch die Wehrpflicht gewährleistete Fähigkeit zur Bereitstellung zusätzlicher ausgebildeter Soldaten der Bundeswehr aus dem Kreis gut ausgebildeter Reservisten sichert Gewicht und Einfluss der Bundesrepublik Deutschland auf sicherheitspolitische Entwicklungen in der Welt.


Inhalt:

Präambel
  1. Die hohe gesellschaftspolitische Bedeutung der Wehrpflicht muss erhalten werden
  2. Die Wehrpflicht sichert den politisch erforderlichen Umfang deutscher Streitkräfte
  3. Die Wehrpflicht muss sinnvoll sein.
  4. Der Grundwehrdienst muss reformiert werden
  5. Die Dauer des Grundwehrdienstes ist nicht beliebig kürzbar.
  6. Die Wehrpflichtigen sollen auf freiwilliger Basis an Einsätzen beteiligt werden können.
  7. Wehrpflicht muss flexibler werden
  8. Die in der Grundwehrdienstzeit gewonnenen Kenntnisse müssen nutzbar werden
  9. Die Erfahrungen anderer Länder bei der Abschaffung sollen berücksichtigt werden
Schlussbemerkung


Präambel

Die Allgemeine Wehrpflicht war bei ihrer Schaffung Ausdruck des Willens, die Verteidigung des Landes zur Sache aller Bürger zu machen. Sie ist Ausdruck der staatspolitischen Verantwortung, die jeder Bürger für die Sicherheit des Landes und seiner Bürger übernehmen soll.

Diese Tradition wurde bei Gründung der Bundeswehr aufgegriffen. Mit der Einführung der Allgemeinen Wehrpflicht hat die Bundesrepublik Deutschland eine staatspolitische Entscheidung getroffen, bei der neben sicherheitspolitischen auch allgemeinpolitische, besonders wirtschafts- und gesellschaftspolitische, Überlegungen von unterschiedlichem Gewicht zu bewerten und gegeneinander abzuwägen waren.

So entstanden Streitkräfte, die gerade durch ihre Mischung von Wehrpflichtigen, Zeit- und Berufssoldaten über Effizienz, hohe Professionalität sowie gesellschaftliche Integration verfügen. Für die von der Wertordnung des Grundgesetzes bestimmte Konzeption der Inneren Führung ist jeder Soldat und jede Soldatin der Bundeswehr ein "Staatsbürger in Uniform". Die Grundwehrdienstleistenden sind dies in besonderem Maße, weil sie den gesellschaftlichen und technologischen Wandel in die Streitkräfte tragen und der Inneren Führung Dynamik und Anpassungskraft an diesen Wandel abverlangen. In ihrem Leistungsvermögen, dies zeigen nicht zuletzt die bisherigen Auslandseinsätze, hat sich diese Mischung aus Wehrpflichtigen, freiwillig länger Dienstleistenden (FWDL), Zeit- und Berufssoldaten als besonders trag-, belastungs- und leistungsfähig erwiesen.

Gerade die Auslandseinsätze haben die Wehrpflichtigen das Sinnvolle des Dienstes erkennen lassen, denn junge Menschen engagieren sich und übernehmen gerade dann Verantwortung, wenn sie den Sinn eines Engagements erkennen. Eine Wehrpflicht als bloße Pflicht, als kurze Ausbildung ohne sinnvolle Anwendung, erscheint dem Beirat für Innere Führung daher unsinnig.

Die demoskopisch über längere Zeit festgestellte Zustimmung weiter Teile der Bevölkerung zur Wehrpflicht macht deutlich, dass diese Streitkräftekonzeption weitgehend akzeptiert ist. Sie ist im Bewusstsein der deutschen Bevölkerung fest verankert und positiv belegt. Die in Deutschland praktizierte Regelung der Wehrdienstverweigerung führt faktisch dazu, dass die Grundwehrdienstleistenden im Kern freiwillig dienen. Sie bringen ihr Engagement für die Verteidigung dieses Staates und für die friedenssichernde Rolle der Bundeswehr zum Ausdruck. Diejenigen, die gegen die Wehrpflicht sind, leisten in der Regel Zivildienst. Dies hat erheblich dazu beigetragen, dass die Wehrpflicht gesellschaftlich so unumstritten ist.

Zur Ausgestaltung der Wehrpflicht empfiehlt der Beirat für Fragen der Inneren Führung:

1. Die hohe gesellschaftspolitische Bedeutung der Wehrpflicht muss erhalten werden

Der durch die Wehrpflicht gewährleistete ständige Austausch zwischen Gesellschaft und Bundeswehr garantiert auf hervorragende Weise die demokratische Kontrolle von außen, z.B. durch Familie und Freunde der Grundwehrdienstleitenden. Die Wehrpflichtarmee basiert auf dem Verständnis, dass der Staat den Schutz von Menschenwürde, Leben, Freiheit und Eigentum nur mit Hilfe seiner Bürger gewährleisten kann. Der Wehrdienst fordert die Identifikation mit der freiheitlichen Demokratie und begünstigt eine Weltordnung, die die Rechte des Individuums und das Gemeinwohl in Einklang bringen. Sie stärkt das Konzept des Staatsbürgers in Uniform durch die immer wieder neu zu bewältigenden Einflüsse der Gesellschaft, die durch die Grundwehrdienstleistenden in die Streitkräfte getragen werden. Die Wehrpflichtarmee ist daher ein modernes, zivilgesellschaftlich orientiertes Konzept.

Die Wehrpflichtarmee sichert zudem auch das Interesse der Öffentlichkeit und der politischen Entscheidungsträger an der Bundeswehr und an deren Auftrag.

2. Die Wehrpflicht sichert den politisch erforderlichen Umfang deutscher Streitkräfte

Grundwehrdienstleistende stellen sicher, dass die Bundeswehr ihre Aufgaben dauerhaft und überzeugend wahrnehmen kann. Die Szenarien dieser Tage Auslandseinsätze zur Stabilisierung von Regionen in der Konfliktnachsorge wie auch klassische Operationen machen deutlich, dass nicht nur die technologische Qualität, sondern auch die Mannschaftsstärke mit gut ausgebildeten Soldaten für die Auftragserfüllung entscheidend ist. Dies ergibt sich aus drei Erfahrungen:
  • Der Einsatz bei Krisennachsorgeaufgaben wie im Gebiet des ehemaligen Jugoslawien und Afghanistan erfordert eine große Zahl gut und vielfältig ausgebildeter Soldaten.
  • Neben diesen qualitativen Aspekt tritt der der Quantität. Klassische militärische Einsätze, auch solche der Landes- und Bündnisverteidigung, erfordern neben einer Überlegenheit auf technologischem Gebiet, die die Bundeswehr nur gemeinsam mit den Verbündeten, vor allem den USA, sichern kann, auch entsprechend personalstarke Truppen mit entsprechenden personellen Reserven.
  • Die Unterstützungsleistungen, die die Bundeswehr im Inland für Einsätze außerhalb der deutschen Grenzen zu erbringen hat, sind ohne eine entsprechend ausbaubare personelle Basis nicht zu leisten.
Die Wehrpflicht ist somit Garant einer erforderlichen Leistungsbasis im Inland.

Quantität und Qualität von Streitkräften sind Ausdruck politischen Willens zur aktiven Gestaltung und zur Durchsetzung von nationalen Interessen. Der Einfluss Deutschlands in der Staatengemeinschaft wird nicht zuletzt durch die mittels der Wehrpflicht verfügbare Truppenstärke gesichert. Zur Sicherung und Wahrnehmung dieser Aufgaben ist es erforderlich, die Wehrpflicht beizubehalten, weil nur so Einsatzstärke und Qualität der Bundeswehr über eine Fähigkeit zur Truppenverstärkung durch Reservisten gesichert werden können.

3. Die Wehrpflicht muss sinnvoll sein.

Der Wehrpflichtdienst ist nur sinnvoll, wenn er sowohl von den Wehrpflichtigen als sinnvolle Tätigkeit erlebt wird als auch für die Streitkräfte Sinn macht. Ein Pflichtdienst, der lediglich durch eine abstrakte politische Norm begründet wird, dessen Wert für die Gemeinschaft aber nicht erkennbar ist, verliert auf Dauer die Legitimation bei den Wehrpflichtigen, der Gesellschaft und in den Streitkräften selbst. Junge Menschen wollen sich engagieren. Sie wollen dabei auch Verantwortung übernehmen und den Sinn ihres Engagements erkennen.

Für die Bundeswehr macht die Wehrpflicht nur Sinn, wenn der Grundwehrdienstleistende einen Beitrag zur Auftragserfüllung leisten kann. Er muss also schon im Rahmen der Grundwehrdienstzeit für Aufgaben der Bundeswehr zur Verfügung stehen. Wichtigste Aufgabe ist der militärische Schutz der Bürger der Bundesrepublik Deutschland vor Risiken und Angriffen vielfältiger Art. Sie soll auch die territoriale Unversehrtheit der Bundesrepublik Deutschland sichern. Dies ist Verfassungsauftrag für die Bundeswehr. Hinzu tritt der Schutz des Bündnisgebietes. Zum Auftrag gehört die Abwehr der Möglichkeit, politisch auf die Bundesrepublik und ihre Bündnispartner Druck auszuüben.

Der Beitrag der Grundwehrdienstleistenden zur Erfüllung dieser Aufgaben im Rahmen der kollektiven Sicherheitsvorsorge durch das Atlantische Bündnis und zur Stabilität in Europa ist auch im sicherheitspolitischen Umfeld des 21. Jahrhunderts unverzichtbar. Der Grundwehrdienstleistende trägt zur Funktionsfähigkeit der Streitkräfte bei. Auch auf vorgeschobenen Basen im Auslandseinsatz kann er die Durchhaltefähigkeit der Einsatzverbände spürbar unterstützen. Die Wehrpflicht versetzt den Staat in die Lage, auch auf nicht vorhersehbare Risiken reagieren zu können. Die so verstandene erweiterte Risikovorsorge ist nur zu gewährleisten, wenn die Bundeswehr über eine durch ausgebildete Reservisten gesicherte Fähigkeit zur Vergrößerung des personellen Umfangs verfügt. Dies kann auf Dauer qualitativ anspruchsvoll nur durch die Wehrpflicht erreicht werden. Gleichzeitig wird auch der Dienst der Zeit- und Berufssoldaten sinnvoll, weil sie in dem Bewusstein leben und arbeiten können, dass bei Eintreten der Risiken die Unterstützung für ihre Aufgabe durch gut ausgebildete Soldaten der Reserve verbreitert werden kann.

4. Der Grundwehrdienst muss reformiert werden

Die Grundausbildung muss im Lichte der heutigen Anforderungen an einen Soldaten deutlich reformiert werden.

Der jetzige Ausbildungsgang hat zwei Grundmängel:
  • Er ist noch zu sehr von der Vorstellung geprägt, dass der Soldat für einen klassischen militärischen Konflikt ausgebildet werden soll.
  • Er ist zu sehr verschult und geht zu wenig auf die heutige Lebenswirklichkeit der Wehrdienstleistenden ein.
Die Wehrdienstzeit muss so bemessen sein, dass der Grundwehrdienstleistende nicht nur für eine spezialisierte Tätigkeit ausgebildet wird, sondern er muss diese Funktion auch ausüben können. Es reicht nicht aus, alleine die Dauer des Dienstes ausreichend zu bemessen. Die Ausbildung muss gestrafft werden. Sie muss so gestaltet werden, dass sich an eine militärische Grundausbildung eine gezielte Spezialausbildung anschließt, die es ermöglicht, eine Funktion in den Streitkräften auch wahrnehmen zu können.

Kriterien für eine auftragsgemäße und sinnvolle Grundausbildung müssen sein:

4.1. Der Ausbildungsgang muss die üblichen Kenntnisse der Wehrpflichtigen berücksichtigen. So verfügen z.B. die meisten Grundwehrdienstleistenden über einen Führerschein, über die Fähigkeit zum Kartenlesen, über ausreichende Erfahrungen beim Tarnen - oder sie können diese Fähigkeiten mit gesundem Menschenverstand auch ohne zeitintensive Ausbildung leicht abrufen.

4.2. Die Ausbildung muss praxisorientiert sein. Es ist verlorene Zeit, praktische Probleme im Hörsaal zu unterrichten. Learning by Doing im Gelände und am Arbeitsplatz muss zum Prinzip der Ausbildung werden.

4.3. Die Ausbildungsinhalte müssen neben der Befähigung zur Landes- und Bündnisverteidigung den Grundwehrdienstleistenden in die Lage versetzen, auch die wahrscheinlicheren Aufgaben erfüllen zu können. In der Regel ist dies durch geringe Veränderungen möglich. Ein Beispiel: Der Grundwehrdienstleistende wird zum Feldposten ausgebildet, da er am Ende der Grundausbildung die Eignung zum Sicherungssoldaten haben muss. Unter den heutigen Einsatzbedingungen ist der Einsatz an einem Checkpoint sehr viel wahrscheinlicher. Die Ausbildung könnte beides sehr gut miteinander verbinden.

Dabei muss weiterhin das Prinzip gelten, dass die Grundwehrdienstleistenden in unterstützenden Rollen tätig sind und ihnen in der Regel keine Kampfaufträge erteilt werden.

5. Die Dauer des Grundwehrdienstes ist nicht beliebig kürzbar.

Der Sinn der Wehrpflicht wird gefährdet, wenn seine Dauer im wesentlichen auf die Ausbildungsphase begrenzt wird. Grundwehrdienstleistende auszubilden, ohne dass sie diese Ausbildung in einer Stammeinheit anwenden können, wird unvermeidbar die Sinnfrage aufwerfen - bei den Betroffenen, den Streitkräften und in der Gesellschaft. Eine weitere Verkürzung nährt zudem den Eindruck der Beliebigkeit, nachdem erst vor einem Jahr der Wehrdienst bereits um einen Monat verkürzt wurde.

Eine weitere Verkürzung der Wehrpflicht hat unter dem Aspekt der Inneren Führung folgende gravierende Nachteile:

5.1. Nach Gesprächen mit Soldaten entstand der Eindruck, dass Zeit- und Berufssoldaten die Grundwehrdienstleistenden als militärische Azubis nicht akzeptieren werden. Sie würden in einer Einsatzarmee nur noch als Belastung empfunden. Dies führt zu inneren Spannungen in der Truppe. Zum einen würde ein solcher Grundwehrdienstleistender nicht ernst genommen. Zum anderen geriete der Dienst, diese Schnupperausbildung durchführen zu müssen, im System der Bundeswehr in Akzeptanzprobleme. Es entstünde eine Zwei-Klassen-Armee.

5.2. Die für die Bundeswehr auch in den jetzt wahrscheinlichen Einsätzen erforderliche Fähigkeit, ihre personelle Stärke auszubauen, wird nur gesichert, wenn die Grundwehrdienstleistenden in ihrer Dienstzeit so gründlich ausgebildet werden und die Fähigkeiten in ihren Funktionen einüben können, damit sie später auch als Reservisten einsatzbereit sind.

5.3. Die Strukturen, die die Bundeswehr im Rahmen der Reform gerade einzunehmen begonnen hat, sind bei einer weiteren Verkürzung des Wehrdienstes nicht mehr aufrechtzuerhalten. Eine Verkürzung wurde zur Reduzierung des Personalumfangs führen. Dies hat Auswirkungen auf die Struktur und die Stationierung der Streitkräfte.

5.4. Durch eine Verkürzung erforderliche erneute Planungsprozesse führen zu politischen Auseinandersetzungen, z.B. über Standorte, deren Ausgang zum einen unsicher ist und zum anderen auch in der Truppe neue Unsicherheit verbreitet. Auch eine Armee, insbesondere wenn sie hoher sonstiger Beanspruchung ausgesetzt ist, hat Anspruch auf Planungssicherheit. In den Streitkräften muss Vertrauen in die Bestandskraft politischer Entscheidungen herrschen. Das Vertrauen der Soldaten in die Planungsverlässlichkeit ihres Dienstherren darf nicht erschüttert werden. Mit der Bundeswehrreform 2000 (Personalstrukturmodell 2000, Wehrpflicht, Grundwehrdienstzeit neun Monate), den damit verbundenen Standortentscheidungen und dem Aufbau neuer Laufbahnen wurden den Soldaten neue Lebensplanungen abgefordert. Dies darf nicht in Jahresfrist wiederholt werden. Es besteht sonst die konkrete Gefahr, dass dies negative Auswirkungen auf das Innere Gefüge, die Motivation und auch auf die Nachwuchsgewinnung hat. Damit wird die Auftragserfüllung in der für die Soldaten der Bundeswehr gewohnten Intensität und Souveränität erschüttert.

5.5. Auch die Planungssicherheit für die Einsatzverbände würde deutlich reduziert. Nach den bisherigen Erfahrungen fallen die Entscheidungen, ob ein Soldat einen längeren Dienst in den Streitkräften anstrebt - sei es als FWDL oder als Zeit- oder Berufssoldat - im fünften bis sechsten Dienstmonat. Erst dann erkennt der Soldat, ob er sich den Dienst in der Armee länger vorstellen will. Dann kann auch die Bundeswehr erst entscheiden, ob sie diesen Soldaten länger an sich binden will. Folglich wird dann auch erst die Zahl und die Fähigkeiten derer erkennbar, die für weitere Aufgaben eingeplant werden können. Die Einplanung muss aber bereits nach dem sechsten Dienstmonat, also unmittelbar nach der Entscheidung des Betroffenen und der Bundeswehr, erfolgen. Eine gerade unter Einsatzerfordernissen längere Personalplanung wird dadurch erheblich erschwert. Dies kann Auswirkungen auf die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr haben.

5.6. Der Erwerb zusätzlicher zivil nutzbarer Fähigkeiten, die die Akzeptanz und die Attraktivität der Wehrpflicht erhöhen und damit die Motivation der Grundwehrdienstleistenden steigert, ist nur bei einem angemessenen Zeitbudget möglich. Die erhöhte Motivation der Grundwehrdienstleistenden wirkt sich generell positiv auf die Zeit- und Berufssoldaten, damit auf die innere Lage und die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr aus.

6. Die Wehrpflichtigen sollen auf freiwilliger Basis an Einsätzen beteiligt werden können.

Die allgemeine Wehrpflicht sichert, dass die gesamte Bandbreite der schulischen und beruflichen Qualifikationen unserer Gesellschaft in den Streitkräften genutzt werden kann. Somit garantiert sie die Qualität der Bundeswehr und dient der Qualitätssicherung in den Streitkräften, weil die Wehrpflichtigen
  • ein großes Potential allgemeiner und fachlicher Bildung,
  • ein breites Berufsspektrum,
  • praktische und theoretische Intelligenz und
  • Fachkenntnisse aus zahlreichen Wissensgebieten
einbringen.

Diese Fähigkeiten gilt es sinnvoll zu nutzen.

Wenn diese Fähigkeiten besser genutzt und die Ausbildung auf die Landes- und Bündnisverteidigung und auf Auslandseinsätze ausgerichtet werden sollen, muss Grundwehrdienstleistenden über den Einsatz als FWDL im Einsatzland hinaus die Möglichkeit eröffnet werden, freiwillig an einem Auslandseinsatz mitzuwirken. Dies wäre auch ein Beitrag zur Sinnhaftigkeit und politischen Legitimation, da die Bundeswehr gegenwärtig überwiegend in Friedensmissionen eingesetzt wird.

Wenn die Bundeswehr mit den Verteidigungspolitischen Richtlinien davon ausgeht, dass zur Verteidigung Deutschlands auch Auslandseinsätze gehören Minister Peter Struck: Die Verteidigung Deutschlands findet auch am Hindukusch statt -, ist damit die politische Begründung gegeben, Grundwehrdienstleistenden diese Aufgaben auch zu übertragen. Zudem wollen viele mit ihren Kameraden gemeinsam Dienst leisten, um auch unter den Einsatzbedingungen die Kameradschaft zu erleben, die eine wertvolle Lebenserfahrung darstellt. Die Soldaten erleben dabei auch die Innere Führung in der Praxis.

Für diesen freiwilligen Dienst der Grundwehrdienstleistenden ist es erforderlich. einen Aufgabenkatalog zu erstellen, der die Funktionen ausweist, die Grundwehrdienstleistende unter den derzeit bekannten Einsatzbedingungen übernehmen können.

Dabei ist davon auszugehen, dass vom Soldaten in Friedensmissionen oft anderes erwartet wird als klassische Kämpferrollen zu übernehmen. Im Bereich Krisenprävention und Krisennachsorge wird verstärkt interkulturelle Kompetenz, Toleranz, Teamfähigkeit, aber auch zivile handwerkliche Fähigkeit oder verwaltungstechnisches Know-how zum Wiederaufbau der baulichen und sozialen Infrastruktur gefordert sein. Hier könnten beruflich erworbene Kenntnisse Wehrpflichtiger zielgerichtet und synergetisch eingesetzt werden.

7. Wehrpflicht muss flexibler werden

Die Neuorganisation der Ausbildung von Grundwehrdienstleistenden muss so flexibel gestaltet werden, dass sie ihre zivilen Vorkenntnisse sinnvoll nutzen können. Dies führt auch zu einer schnelleren Integration in die Streitkräfte und zu einer überzeugenden Wahrnehmung von Pflichten. Ein ausgebildeter Koch kann beispielsweise früher verantwortlich als Koch in einer Truppenküche arbeiten als ein junger Mann, dem eine solche Vorbildung fehlt. Ein ausgebildeter Baggerfahrer kann schneller zum Fahrer eines Kettenfahrzeuges weitergebildet werden. Ein junger Mann, der sich in der Jugendarbeit engagiert hat, ist leichter in der Lage, Führungs- und Ausbildungsaufgaben wahrzunehmen. Auch wenn die Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen in jedem Einzelfall unterschiedlich ausgeprägt ist, muss es Ziel des Wehrpflichtdienstes sein, dass jedem Soldaten im Rahmen seiner Möglichkeiten auch Verantwortung übertragen werden kann.

Dies macht den Dienst für den jungen Grundwehrdienstleistenden attraktiver. Es erhöht seine Motivation und damit seine Einsatzbereitschaft. Es schafft mehr Zufriedenheit und stabilisiert die innere Lage der Bundeswehr. Für die Streitkräfte bedeutet dies ein Zuwachs an Fähigkeiten: Soldaten, die entsprechend ihren Kenntnissen eingesetzt werden, sparen Ausbildungszeit und erhöhen damit die Verfügbarkeit der Soldaten im täglichen Dienstbetrieb. Für die zivile Berufs- und Lebenswelt bedeutet dies einen kaum zu überschätzenden Erfahrungsgewinn aus tätiger Verantwortung unter ungewöhnlichen Bedingungen.

Hierzu bedarf es einer verfeinerten Einberufungspraxis. Die Datenerhebung vor der Einberufung muss auf diese neue Flexibilität hin optimiert werden. Das Wehrersatzwesen braucht klarere Forderungen der Streitkräfte, um Grundwehrdienstleistende treffsicher auf Funktionsdienstposten einplanen zu können.

8. Die in der Grundwehrdienstzeit gewonnenen Kenntnisse müssen nutzbar werden

Ein entsprechend den Forderungen dieser Empfehlungen eingesetzter Soldat hat während seines Grundwehrdienstes die Chance, in seinem Beruf zusätzliche Kenntnisse und Fähigkeiten zu erwerben. Der Koch, der bisher in einer Hotelküche beschäftigt war, erfährt die Praxis in einer Großküche. Ein Baggerfahrer gewinnt die Fähigkeit, andere Großfahrzeuge zu fahren. Der junge Mann, der in der Jugendarbeit tätig war, kann in der Bundeswehr Erfahrungen in der Menschenführung vertiefen.

Diese Erweiterung oder Schaffung von Fähigkeitsprofilen - in der Regel eine Höherqualifikation - muss dem Grundwehrdienstleistenden nach dem Dienst in einer zivil verwertbaren Form bescheinigt werden. Dies erhöht die Dienstzufriedenheit und macht den Wehrdienst attraktiver.

Mit Blick auf die Herausforderungen durch Auslandseinsätze im Rahmen friedensstabilisierender Maßnahmen, die unter anderem dem Aufbau zivilgesellschaftlicher Strukturen in den Einsatzländern dienen, sind vom Grundwehrdienstleistenden bereits mitgebrachte Qualifikationen notwendig, sinnvoll und versetzen die Bundeswehr in die Lage, ihren guten Ruf bei der Erfüllung dieser Aufgaben zu stabilisieren.

9. Die Erfahrungen anderer Länder bei der Abschaffung sollen berücksichtigt werden

In der politischen Diskussion wird oft damit argumentiert, dass in andern Ländern, z.B. bei Bündnispartnern im Westen, die Wehrpflicht abgeschafft wurde. Dies geschah in der Regel aus Gründen, die auf die deutsche Situation nicht übertragbar sind. Die Erfahrungen, die diese Länder mit der Abschaffung der Wehrpflicht gemacht haben, sind vorwiegend kritisch:
  • Die Beziehung zwischen der Gesellschaft und dem Militär verändert sich nachteilig.
  • Es gibt dramatische Einbrüche bei der Nachwuchsgewinnung.
  • Deswegen werden die Qualitätsansprüche an die Bewerber deutlich gesenkt, um den Bedarf zu decken.
  • Zunehmend muss auf Bewerber zurückgegriffen werden, die ohne Schulabschluss oder berufliche Bildung in die Streitkräfte eintreten, um erst dort eine Qualifikation zu erwerben.
  • Doch selbst das gelingt nur mit Besoldungsverbesserungen und finanziell aufwändigen Werbekampagnen.
Es besteht die Gefahr, dass Deutschland ohne Wehrpflicht eine Armee bekommen wird, die in Geist und Qualität nicht unseren Anforderungen an den mündigen Staatsbürger in Uniform, den politisch denkenden und sich auf das kulturelle und historische Umfeld seines Einsatzortes orientierenden Soldat entspricht. Das Konzept der Inneren Führung hat die Soldaten der Bundeswehr auch intellektuell geprägt. Die Bundeswehr ist der Führungskonzeption des Führens mit Auftrag verpflichtet. Diese muss erhalten werden.

Schlussbemerkung

Dies sind erste Empfehlungen des Beirats für Fragen der Inneren Führung zur Frage der Wehrpflicht in der Bundeswehr. Der Beirat wird sich mit weiteren Aspekten der Wehrpflicht beschäftigen, insbesondere mit der Wehrgerechtigkeit, den Erfahrungen der Bündnispartner, die die Wehrpflicht abgeschafft haben, und den Fragen, die sich aus der Öffnung der Bundeswehr für Frauen im Zusammenhang mit der Wehrpflicht ergeben.


* In den 11. Beirat für Fragen der Inneren Führung wurden vom damaligen Verteidigungsminister Rudolf Scharping am 12.04.2002 folgende Mitglieder berufen:
  1. Abel, Klaus, Stellvertretender Leiter der Abteilung Bildungs- und Jugendpolitik der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände
  2. Prof. Dr. Arnold, Ulli, Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, Investitionsgütermarketing und Beschaffungsmanagement an der Universität Stuttgart
  3. Beck, Klaus, Leiter des Verbindungsbüros des Deutschen Gewerkschaftsbundes zum Europäischen Parlament
  4. Prof. Dr. Becker, Manfred, Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Organisation und Personalwirtschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
  5. Clement, Rolf, Abteilungsleiter beim Deutschlandfunk
  6. Förster-Blume, Elisabeth Veronika, Pfarrerin
  7. Frank, Franz-Wilhelm, Dipl.-Volkswirt, Direktor i.R.
  8. Gertz, Bernhard, Oberst, Bundesvorsitzender des Deutschen Bundeswehr-Verbandes
  9. Hassan Khan, Angelika, Ehefrau eines Unteroffiziers
  10. Prof. Dr. Hoffmann-Lange, Ursula, Professur für Politikwissenschaft, insbesondere Politische Systeme an der Universität Bamberg
  11. Jöris, Paul Elmar, Verteidigungspolitischer Korrespondent beim Westdeutschen Rundfunk
  12. Kiliç, Memet, Vorsitzender des Bundesausländerbeirats
  13. Kowitz, Christine, Vorsitzende des Forums für Soldatenfamilien
  14. Kraus, Josef, Oberstudiendirektor, Dipl.-Psychologe, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes
  15. Krüger, Thomas, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung
  16. Prof. Dr. Muszynski, Eberhard, Lehrstuhl für Soziologie der Politik an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Potsdam Dipl.-Vw
  17. Ossenkamp, Heinrich, Stellvertretender Bundesvorsitzender des Deutschen Beamtenbundes
  18. Prof. Dr. Pommerin, Reiner, Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte an der Technischen Universität in Dresden
  19. Popp, Karl-Heinz, Oberstudiendirektor a. D., ehem. Leiter der Berufsschule Amberg
  20. Spiegel, Paul, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland
  21. Steiner, Heinz-Alfred, Ehrenpräsident des Verbandes der Reservisten der Deutschen Bundeswehr e.V.
  22. Prof. Dr. Steinkamm, Armin, Lehrstuhl für Öffentliches Recht unter besonderer Berücksichtigung des Völkerrechts an der Universität der Bundeswehr München, Ehrenpräsident des Verbandes der Reservisten der Deutschen Bundeswehr e.V.
  23. Stelter, Anita, Frau eines Offiziers
  24. Zahn, Christian, Mitglied des Bundesvorstandes Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di)


Siehe auch:
Mehr Bewusstsein für die individuelle Verantwortung der SoldatInnen gefordert - Wehrpflicht nicht "unabdingbar"!
EAK-Stellungnahme zu den Verteidigungspolitischen Richtlinien (23. Juni 2003)


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