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Sechs Monate: Genug Zeit für Motivationsgewinnung

EAK-Stellungnahme zur Reduzierung der Zivildienstdauer von neun auf sechs Monate *

Anfang Januar veröffentlichte die Evangelische Arbeitsgemeinschaft zur Betreuung der Kriegsdienstverweigerer (EAK) ein Positionspapier zu Überlegungen der Regierungkoalition, ab dem Jahr 2011 den Grundwehrdienst in der Bundeswehr von derzeit neun auf sechs Monate zu verkürzen. Im Folgenden dokumentieren wir den Standpunkt der EAK.

Der Koalitionsvertrag der Parteien von CDU, CSU und FDP vom 26. Oktober 2009 zur Bildung der Bundesregierung artikuliert zum Thema "Zivildienst" widersprüchliche politische Zielvorstellungen. Einerseits orientieren diese auf eine Stärkung der Freiwilligendienste, anderseits halten sie an der überkommenen Wehrpflicht fest. Um diese in den meisten NATO-Staaten abgeschaffte, fragwürdige "Wehrform" zu erhalten, ist vorgesehen, ab 2011 die Dauer des Grundwehrdienstes von derzeit neun auf sechs Monate zu reduzieren und dementsprechend die Dauer des Zivildienstes der anerkannten Kriegsdienstverweigerer. Diese Absichtserklärung hat die öffentliche Diskussion um den Sinn beider Dienste belebt: Nach unserer Wahrnehmung viel stärker im Bereich des Zivildienstes als bei der Bundeswehr, leisten inzwischen doch deutlich mehr junge Männer Zivildienst "vorrangig im sozialen Bereich" als Grundwehrdienst beim Militär.

Der Bundesvorstand der EAK hat in seiner jüngsten Sitzung diese Sachverhalte zur Kenntnis genommen. Zur Frage der Reduzierung der Zivildienstdauer nimmt er wie folgt Stellung:

1. Aus Sicht der Seelsorge an Zivildienstleistenden, die sich stets für die Belange der Kriegsdienstverweigerer und Ersatz- bzw. Zivildienstleistenden eingesetzt hat, begrüßt die EAK eine Verkürzung der Dienstdauer ausdrücklich. Weniger Pflichtdienst bedeutet weniger staatlicher Eingriff in die Lebensplanung junger Leute und damit ein Zugewinn an Freiheit. Solange an einer staatlichen Dienstpflicht festgehalten wird, besteht eine Bringschuld des Staates sowohl hinsichtlich der inhaltlichen Begründung der Pflicht als auch zur Linderung und zum Ausgleich der mit ihr verbundenen Lasten für die Betroffenen und ihrer Familien.

2. Dass infolge kürzerer Dienstdauer künftig noch mehr junge Menschen zu einer militärischen oder zivilen Dienstleistung herangezogen werden sollen, ist ein Makel, der sich vielleicht bald von selbst erledigt: Ein verteidigungspolitisch obsoleter, inhaltlich kaum noch vermittelbarer Pflichtdienst, mit dem junge Menschen zum Waffendienst gezwungen werden, wird zunehmend als unnötig und ungerecht empfunden, was die demokratische Legitimation dieser Dienstform weiter aushöhlt. Dass der zivile Ersatzdienst seit Jahren viel stärker frequentiert ist als der Militärdienst trägt zur Infragestellung der "Wehrform" bei, während die erzielte Frequenz des alternativen Dienstes dessen Verzichtbarkeit nicht widerspricht, sondern sie aus verschiedenen Gründen (demokratischen, zivilgesellschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen) sogar nahe legt.

3. Der Zivildienst ist rechtlich - lt. Bundesverfassungsgericht 1978 - ein "Ersatz für den im Einzelfall rechtmäßig verweigerten Militärdienst der anerkannten Kriegsdienstverweigerer." Deren eigentliches Begehren, einen Beitrag zu gewaltfreier Friedensgestaltung leisten zu wollen, wird bis heute von staatlicher Seite ignoriert und ist auch in der Praxis der Wohlfahrtspflege nur unzureichend aufgenommen worden. Die teilweise nützlichen und individuell wichtigen Dienstleistungen, die Zivildienstleistende für alte, behinderte und kranke Menschen erbringen, kaschieren sozialpolitische Defizite. Die erbrachten Dienstleistungen vermögen ebenso wenig über dieses friedensethische Defizit hinwegzutäuschen, wie die jüngsten Bemühungen zur Ausgestaltung des Zivildienstes als sozialer Lerndienst: Während das Erlernen der Waffenanwendung seit eh und je wesentlicher Bestandteil des Grundwehrdienstes ist, sieht auch das 3. Zivildienstgesetzänderungsgesetz (vom 14.06.2009) für anerkannte Kriegsdienstverweigerer im Zivildienst das Lehren und Lernen von Methoden gewaltfreier Konfliktbearbeitung explizit nicht vor.

4. Das Grundgesetz verlangt in Artikel 12 a eine "gleiche Dauer" von Grundwehrdienst und zivilem Ersatzdienst. Insoweit ist die - nach vielen Jahren längerer Dauer für den Zivildienst erst im Jahr 2004 erreichte - Gleichstellung eine bindende Vorgabe für beide Dienste. Im Blick auf die Verkürzung der Dauer beider Dienste auf sechs Monate, auf die o.a. staatliche Bringschuld und auf damit verbundene biografische Zumutungen, die das föderale Schul- und Ausbildungssystem mit sich bringen kann, muss aber die Einteilung dieser Lebenszeitspanne so flexibel regelbar sein, dass die Beteiligten (Zivildienststelle (ZDS) und Zivildienstleistender (ZDL)) auf gesetzlicher Grundlage in beiderseitigem Einvernehmen Vereinbarungen über einen "geteilten Dienst" treffen können.
Diese Forderung nach einer neuen Flexibilität schließt auch gesetzliche Regelungen ein, ehemaligen Zivildienstleistenden nach Ableistung ihres Zivildienstes für eine befristete Zeit einen Freiwilligendienst (keine "Verlängerung" des nach militärischen Vorgaben geprägten Zivildienstes!) zu ermöglichen. Im Rahmen staatlicher Förderung von Freiwilligendiensten sollte die finanzielle Bezuschussung der Beschäftigungsstellen so ausgestattet werden, dass die freiwillige Mitarbeit den Geldbezügen des Zivildienstes entsprechend entlohnt werden kann. Die Realisierung dieses Vorschlags, der keine militärfreundliche Schieflage hat und deutlich weniger Bundesmittel benötigt als eine "freiwillige Verlängerung" des Zivildienstes, würde zugleich die - von der Koalitionsvereinbarung intendierte - Förderung der Freiwilligendienste stärken.

5. Mit der Verkürzung der Dienstdauer auf sechs Monate stellen sich Fragen nach Inhalten beider Dienste. Die von der EAK im Gesetzgebungsverfahren begrüßte Ausgestaltung des Zivildienstes als einem "sozialen Lerndienst" wird auch weiterhin als unverzichtbar angesehen, sie kann hier nur bekräftigt werden. Die staatliche Organisation des Dienstes und die Verbände der freien Wohlfahrtspflege sehen wir gut beraten, wenn sie den jungen Männern ein zeitlich und inhaltlich optimiertes Einblicknehmen in die soziale oder kulturelle Arbeit ermöglichen. Zu solcher Einblicknahme gehört ein attraktives Angebot an Begleitung, das weniger auf Wissensvermittlung als auf Reflexion eigener Erfahrungen und auf Motivation zum Erwerb neuer sozialer Kompetenzen orientiert. Die Veranstaltungen der kirchlichen Anbieter von Rüstzeiten und Werkwochen, in denen zusammen mit anderen Zivildienstleistenden Sinnfragen des (Er-)Lebens und des Dienstes reflektiert werden, haben diesbezüglich immer eine Vorreiterrolle gespielt; sie müssen unabhängig von der Dienstdauer ihren Platz in jeder Begleitkonzeption behalten.
Nicht wenige Beschäftigungsstellen im sozialen Bereich haben Erfahrungen mit Menschen, die nur für eine (sehr) kurze Zeitspanne freiwillig ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellen und bieten auch dafür sinnvolle Tätigkeitsplätze an. Dieses vorhandene Potential gilt es im Blick auf die Herausforderungen einer sechsmonatigen Dienstzeit zu nutzen oder - wo es noch nicht vorhanden ist - entsprechend aufzubauen.

Insoweit bietet auch ein sechsmonatiger Zivildienst, der - nach Abzug von Urlaub und Zeit für Begleitung - in der Regel noch über 700 Arbeitsstunden umfasst, allen Beteiligten gute Chancen: Zum gegenseitigen Kennenlernen, zu reflektierender Mitarbeit und - nicht zuletzt - zur Entdeckung neuer Kompetenzen. Wenn dieser Kompetenzerwerb nach dem Ende des Pflichtdienstes auf eigenen Wunsch bei biografischem Bedarf und auf finanziell und vertraglich gesicherter freiwilliger Basis für eine befristete Zeit weiter entwickelt und vertieft werden kann, dann wäre das für alle Beteiligten wie für die Gesellschaft eine win-win-Situation.

Aus der Koalitionsvereinbarung "Wachstum - Bildung - Zusammenhalt" vom 26.10.2009:

Im Kapitel III. "Sozialer Fortschritt" im Abschnitt 6. "Ehrenamt" (S. 72/73
Zeilen 3613 - 3630: "Wir werden die Qualität der Jugendfreiwilligendienste "Freiwilliges Soziales Jahr" und "Freiwilliges Ökologisches Jahr" als Bildungsdienste nachhaltig sichern und stärken. Der Kindergeldbezug in Zeiten geregelter und ungeregelter Jugendfreiwilligendienste wird vereinheitlicht, ein Kindergeldbezug während der Wehr- und Zivildienstzeit wird geprüft.
Durch eine gemeinsame ressortübergreifende Strategie werden einheitliche und transparente Bedingungen für alle Freiwilligendienstleistenden geschaffen. Einen einheitlichen Status für Freiwilligendienstleistende im Zuge eines "Freiwilligendienststatusgesetzes" streben wir an.
Wir wollen den vielfältigen ehrenamtlichen Einsatz für kulturelle Angebote und Entfaltungsmöglichkeiten nachhaltig unterstützen und für mehr Anerkennung für das Ehrenamt sorgen. Ehrenamtlich Engagierte sollen von Bürokratie und Haftungsrisiken entlastet werden. Wir wollen die Angebote für das Freiwillige Soziale Jahr in der Kultur ausweiten." (...)

Im Kapitel V. "Sicherer Frieden" im Abschnitt 5.
"Für eine leistungsstarke und moderne Bundeswehr" (S. 116)

Zeilen 8502-8509 "Die Koalitionsparteien halten im Grundsatz an der allgemeinen Wehrpflicht fest mit dem Ziel, die Wehrdienstzeit bis zum 1. Januar 2011 auf sechs Monate zu reduzieren.
Der Bundesminister der Verteidigung setzt eine Kommission ein, die bis Ende 2010 einen Vorschlag für Eckpunkte einer neuen Organisationsstruktur der Bundeswehr, inklusive der Straffung der Führungs- und Verwaltungsstrukturen, zu erarbeiten hat."

* Quelle: EAK, Bonn 06.01.2010; http://www.eak-online.de


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