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Frieden durch Krieg?

Über die "Responsibility to Protect", das Völkerrecht und die Menschenrechte. Ein Streitgespräch zwischen Michael Daxner und Norman Paech


Spätestens seit dem Libyen-Krieg hat das Konzept der »Responsibility to Protect«, einer »Schutzverantwortung« bei schweren Menschenrechtsverletzungen und Brüchen des humanitären Völkerrechts, Eingang in einen breiteren öffentlichen Diskurs gefunden. Seitdem ist es Gegenstand heftiger Kontroversen. Herausgegeben von Johannes M. ­Becker und Gert Sommer, erscheint nun in der Schriftenreihe zur Konfliktforschung ein Sammelband unter dem Titel »Der Libyen-Krieg. Das Öl und die ›Verantwortung zu schützen‹« mit Beiträgen u.a. von Karin Leukefeld, Hans von Sponeck und Werner Ruf, die einen kritischen Blick auf die »humanitäre« Rechtfertigung von militärischen Interventionen vermitteln.
Die "junge Welt" veröffentlichte einen Auszug aus einem Gespräch zwischen dem Sozialwissenschaftler Michael Daxner und dem emeritierten Professor für Völkerrecht Norman Paech vorab. Die Fragen stellten die Herausgeber.


Unsere erste Frage: Was sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Inhalte des Konzepts »Responsibility to Protect«?

Michael Daxner: Ich denke, das Konzept entsteht in dem Augenblick, wo die Frage nach souveränen Nationalstaaten als Akteure brennend wird, in dem Sinne, daß die Souveränität und die Zusammensetzung der Weltgemeinschaft aus Aktionsfrieden und Nationalstaaten nicht mehr gegeben ist. Man kann auch sagen: Nach dem Ende des Kalten Krieges ist klar, daß supranationale Bündnisse und neue politische Formen an der gesellschaftlichen Basis Überlegungen dieser Art notwendig machen.

Die zweite Beobachtung, die ich gemacht habe, ist: Wenn es keine kolonialen oder imperialistischen Interessen mehr gibt, die mehr oder weniger Überfälle oder Eroberungskriege rechtfertigen, wird die normative, die ethische Ebene immer wichtiger. Die würde ich zunächst einmal auf zwei Worte reduzieren: »Nicht wegschauen!« Das erste Mal »Wegschauen« war München 1938, und dann gab es ganze Kaskaden von Wegschauen. Eingegriffen wurde eigentlich immer später, nach neorealistischen und anderen Gesichtspunkten, aber die Ethik spielte eine geringe Rolle. Nach Ruanda und Srebrenica ist das nicht mehr möglich. Ich würde also das Konzept folgendermaßen zusammenfassen. Erstens: Es gibt eine Schutzpflicht, die wenigstens drei Komponenten hat, nämlich Prävention, Eingriff und Sicherung des Eingreifziels, das ist ja nicht immer dasselbe und zeitlich verschoben. Diese Schutzpflicht degradiert auf jeden Fall, nach verhältnismäßig strengen Kriterien, das Nichteinmischungsgebot als sekundär.

Ich teile vor allem den letzten Punkt: Nichteinmischung war für mich immer ein falsches Kriterium. Und über die Inhalte – und da gibt es eine heftige Kontroverse zur Zeit – muß gestritten werden: Denn was der Inhalt ist, daran entzündet sich ja, worüber wir uns streiten. Eine Sache ist dabei klar: Die »Responsibility to Protect« ist keine Ermächtigung zum Krieg, sie ist auch keine Ermächtigung zum Frieden, sondern sie ist sozusagen der freie Rahmen, in dem politisch entschieden wird.

Herr Paech, wie ist Ihre Position?

Norman Paech: Als Jurist hat man in der Tat dazu einige andere Positionen. Zunächst einmal, wie ist es zu diesem Konzept eigentlich gekommen? Anlaß war, daß der damalige Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan, tiefes Unbehagen darüber empfand, daß in Exjugoslawien die NATO eingegriffen und die UNO vollständig außen vor gelassen hat. Das heißt, die NATO-Staaten haben in der Befürchtung, daß Rußland und China nicht zustimmen würden, gleich gesagt, wir lassen den UNO-Sicherheitsrat raus, wir intervenieren mit einer höchst zweifelhaften Legitimation, der damaligen »humanitären Intervention«, die aber kein völkerrechtlich zureichender Grund ist, sodaß diese Intervention ein klar völkerrechtswidriger Eingriff gewesen ist. Und daraufhin hat Kofi Annan gesagt: Wenn dieses Verhalten Schule macht, haben weder das Völkerrecht noch die UNO irgendeine Zukunft, und dem müssen wir begegnen.

Allerdings hatten wir auch andere sehr prekäre Situationen, und gerade Kofi Annan mußte das wissen. Er war seinerzeit für Afrika in der Verantwortung gewesen und hatte mitansehen müssen, was für ein Völkermord in Ruanda geschah, und daß die UNO offensichtlich ohnmächtig war. Für solche Situationen wie Ruanda, aber ich würde auch sagen Kampuchea Ende der 70er Jahre, müssen wir ein Konzept haben, mit dem wir es vermeiden, daß plötzlich einzelne Staaten einfach übernehmen und dort einfallen. Wir müssen die UNO wieder ins Spiel bringen. Und daher hat er diese Gruppe zusammengestellt, die kanadische Regierung hat das finanziert. Ein algerischer und ein australischer Diplomat waren die Vorsitzenden. Es sind zwei Elemente, die ich für ganz wesentlich halte. Erstens sagte man, souveräne Staaten haben eine Verantwortung für ihre Bürger, daß sie ihnen die Grund- und Menschenrechte garantieren, einfach eine simple Selbstverständlichkeit. Für den Fall, daß sie dazu nicht in der Lage sind, muß diese Aufgabe die Völkerrechtsgemeinschaft übernehmen. Und dann kommt der zweite, der instrumentelle Aspekt, der besagt: Ja, aber wie, mit welchen Mitteln soll das geschehen?

Hier gibt es das, was Sie, Herr Daxner, auch gesagt haben: die Prävention, die Intervention und dann die Nachsorge. Das sind die drei Ebenen, die primär politisch, ökonomisch und diplomatisch gestaltet werden müssen. Wenn es aber notwendig ist, so schließen wir eine militärische Intervention nicht aus; aber, und das ist die klare Ansage auch dieses Konzeptes, das geht nicht abseits des Sicherheitsrates und nicht gegen oder ohne den Sicherheitsrat. Das heißt zweierlei: Einerseits eine Selbstverständlichkeit, jeder Staat muß für seine Bürger sorgen, und andererseits, wenn er es nicht kann, muß es die internationale Gemeinschaft übernehmen, aber nur in der Form eines Mandats durch den UN-Sicherheitsrat, in gar keiner Weise anders. Insofern spielt für mich die Kategorie der Nichteinmischung eine ganz elementare Rolle. Denn das ist etwas, was in Artikel 2, Ziffer 7 der UNO-Charta festgeschrieben ist, und als Jurist messe ich dieser Vorschrift enorme Bedeutung bei. Zusammen mit dem Gewaltverbot des Artikels 2, Ziffer 4 sind das zwei grundlegende Kategorien, über die man als Politiker oder Historiker oder dergleichen nicht einfach hinweggehen kann. (...)

Ersetzt oder ergänzt, Ihrer Meinung nach, das Konzept der »Responsibility to Protec« das traditionelle Völkerrecht?

MD: Da würde ich sagen, es muß es ergänzen, und es muß geschärft werden. Einerseits müssen die Bedingungen, unter denen eingegriffen werden kann, sehr genau definiert werden, vor allem der Einsatz von militärischer Gewalt. Auf der anderen Seite aber haben wir natürlich ebenso präzise Aussagen über die schon sehr viel früher gefaßten Beschlüsse zum Genozid. Wir haben allerdings eine Situation, in der der zeitliche Faktor begrenzt ist, und das sogenannte Ausschöpfen anderer Mittel zum Teil unter extremem Druck stattfindet. In Srebrenica beispielsweise war das eine Sache von 24 Stunden. Meines Erachtens hätte da die NATO mit allen möglichen Mitteln, die sie gehabt hätte, sofort hineingehen, also sozusagen die Schlächterei unterbrechen müssen. Das Völkerrecht hat eine große Achillesferse. Es gibt einige Länder, davon mindestens drei Mitglieder des Sicherheitsrates, die das Völkerrecht aufgrund ihres Exzeptionalismus außerordentlich stark relativieren, aber wenn es ihnen paßt, auch für andere einfordern.

Die USA, China und Rußland sind gleichzeitig die drei Länder, in denen man »Responibility to Protect« nicht gut anwenden kann, denn zum Anwenden gehören die ethisch-politische Dimension und die pragmatische. Es hat keinen Sinn zu sagen, ich interveniere, wenn ich es nicht kann. Ich glaube, das ist klar: Wir können nicht in Indien einmarschieren, wir können nicht in Südrußland einmarschieren, und wir können nicht in Texas einmarschieren, wenn es denn Gründe dafür gäbe. Für mich ist das völkerrechtliche Argument wichtig, weil ich gerne ein starkes Völkerrecht möchte, aber dann muß man natürlich die Reform der Vereinten Nationen soweit vorantreiben, daß ich bei der Selbstlähmung des Sicherheitsrates nicht sage: Wir haben alles probiert, und jetzt schauen wir zu. Das ist das, was wir im Falle von Syrien sehen. Libyen ist der eine Fall, aber in Syrien schaut die Welt einigermaßen gebannt zu.

NP: Zunächst würde ich ganz klar zu der Äußerung, in Jugoslawien hätte die NATO sofort eingreifen müssen, sagen: Nein, wieso eigentlich? Es gab keine Ermächtigung zum Eingreifen. Es ist, wenn man sich an die UNO und deren Charta hält, so etwas nur im Rahmen eines Mandates möglich, denn Jugoslawien hat niemanden angegriffen. Der zweite Fall, die Verteidigung gemäß Artikel 51, ist da nicht relevant. Und selbst wenn die Situation furchtbar ist, Bürgerkriege sind immer furchtbar. In Libyen hat es an die fünfzigtausend Tote gegeben. Wenn wir dieser Anarchie der Staaten, die intervenieren können – das sind nur wenige, die NATO-Staaten, vielleicht ist es China irgendwann –, das Wort reden und eine Intervention zulassen, dann brauchen wir die UNO-Charta nicht mehr, dann brauchen wir auch die Vereinten Nationen nicht mehr.

Sie haben ferner gesagt, womit ich nicht ganz einverstanden bin: Diejenigen, die sich wenig an das Völkerrecht, sondern allerhöchstens an ihre Interessen halten, seien die USA, Rußland und China. Ich darf daran erinnern, daß in dem Fall Syrien – aber auch bei Libyen – China und Rußland immer darauf gedrungen haben, eine Intervention in fremde Länder zu verhindern, wegen Artikel 2, Ziffer 7 und Artikel 2, Ziffer 4. Dann wird man immer sagen: Ja, die haben ja ganz andere Interessen. Das stimmt, die Interessen Pekings in Libyen waren hoch. Dreißigtausend Chinesen sind dort rausgeworfen worden, dann ist es schon etwas, zu sagen, ich halte mich aber an das Völkerrecht, und allerhöchstens enthalte ich mich der Stimme. Hier, wie ich meine, kann man den Chinesen und Russen nicht einfach so unterstellen, daß es ihnen nicht um das Völkerrecht geht.

(...)

Kommen wir auf das Grundsätzliche zurück. Die UNO-Charta betont sowohl die Souveränität der Staaten als auch die Bedeutung von Menschenrechten. Wie sehen Sie dieses Spannungsverhältnis?

NP: Das Souveränitätsprinzip ist seit 1648 eines der grundlegenden Prinzipien staatlichen Zusammenlebens. In allen internationalen Konferenzen und in allen Dokumenten ist immer wieder das A und O: die Souveränität der Staaten. Anders kann man miteinander nicht handeln und ich will auch sagen, es ist letzten Endes die letzte und einzige Bastion schwacher Staaten gegenüber den starken. Schwache Staaten können sowohl gegenüber ökonomischen, politischen als auch gegenüber militärischen Interventionen nichts anderes tun, als sich auf ihre Souveränität zu berufen. Das ist das eine. Das andere, das Zweite, sind die Menschenrechte. Diese sind in der Tat eine Entwicklung des Völkerrechts, die ich in den Jahren nach 1945 als die größte und auch die erfolgreichste ansehe. In der UNO-Charta war es noch nicht gelungen, eine richtige Menschenrechtsposition aufzubauen. Das hatte damit zu tun, daß sich Churchill und Stalin nicht über die Menschenrechte einigen konnten. Aber dann gab es die Festschreibungen 1948 und 1966/67 und allmählich gibt es eine Unmenge von menschenrechtlichen Vorschriften, die alle einen hohen Grad an Verantwortung für das Individuum widerspiegeln. Allerdings gibt das den Menschenrechten noch keine völkerrechtliche Qualität.

Das Völkerrecht ist immer noch ein Recht der Staaten. Es ist aber so, daß man zum Beispiel in einem der ganz wesentlichen Verträge, der »Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes« von 1948, überlegt hat, wie die Menschen geschützt werden können. Dort hat man überlegt, ob man den Staaten die Möglichkeit einzugreifen geben kann, wenn so etwas wie – modern gesprochen – Kampuchea, Srebrenica oder auch Ruanda passiert. Diese Frage hat man mit »nein« beantwortet und beschlossen: Wir verweisen auch dann auf die UNO-Charta und sagen, die Souveränität der Staaten darf nur in jenen Fällen militärisch durchbrochen werden, in denen die UNO-Charta das erlaubt. Sprich: im Rahmen der Selbstverteidigung, wenn man angegriffen wird, oder im Rahmen der Artikel 39 und 42, wenn es ein Mandat gibt. Wir können es einzelnen Staaten nicht überlassen zu entscheiden, wann und wo die Menschenrechte verletzt werden; und wir können es ihnen erst recht nicht überlassen, dort einzugreifen. Das heißt, bei allem Fortschritt der Menschenrechte, die ich in der Tat für eine der größten Errungenschaften des Völkerrechts nach 1945 halte, ist die Souveränität nicht durchbrochen worden. Das geht nur dann, wenn die UNO-Charta das erlaubt.

Wir haben allerdings einen Bereich, in dem das etwas anders gelaufen ist, nämlich bei der Frage der Strafbarkeit, das ist ja auch eine Menschenrechtsfrage. Man kann einzelne Personen jetzt vor den Internationalen Strafgerichtshof stellen, unabhängig von ihrer Souveränität bzw. ihrer Immunität. Beispiel hierfür ist die Anklage von Umar Al-Baschir. Diese Immunität als Ausdruck der staatlichen Souveränität nehmen gerade die Staaten, die immer die Souveränität der anderen Staaten herunterhängen wollen, für sich in Anspruch. Staaten wie die USA, China, Rußland, Indien und Israel haben das Römische Strafstatut nicht unterschrieben, weil sie die Interventionsstaaten sind. Sie müssen daher die Befürchtung haben, daß, wenn sie das unterschreiben, sie selbst angeklagt werden, und das ist das Problem. Das heißt, die Souveränität ist auch immer noch eine Souveränität der starken Staaten, und dagegen können schwache Staaten nur vorgehen oder sich retten, indem sie sagen: Unsere Souveränität wollen wir genauso respektiert haben wie eure, und das mit den Menschenrechten müssen wir anders machen.

MD: Ja, wir müssen das anders machen. Dem juristischen Vortrag kann und will ich gar nichts entgegenhalten, aber die Bruchstelle ist doppelt. Es muß eine Legitimation geben, jemanden wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit anzuklagen. Die vier Nürnberger Punkte1 würden mir reichen, wenn sie weltweit gälten. Jetzt haben Sie völlig zutreffend gesagt, das Problem liegt in dem ungeheuren Fortschritt, daß heute Menschenrechte individuell interpretiert werden. Sie haben das Recht, ich habe das Recht. Der Staat als Subjekt der Menschenrechte kann ja nicht gefoltert werden. Da gibt es aber ein ganz großes Problem. Ich sehe erstens, daß die Souveränität nach 1945 systematisch von unterschiedlichen Gesellschafts- und Herrschaftssystemen reduziert wurde. Also ich will den Kalten Krieg nicht wieder aufleben lassen, aber ein Großteil von Lateinamerika auf der einen und der Ostblock auf der anderen Seite, das waren keinen souveränen Staaten.

Das Zweite ist, daß die EU einen anderen Weg geht und behauptet, daß das, was es noch in der emphatischen Souveränitätstheorie gab, nicht mehr da ist. Das finde ich auch nicht schlimm. Ich finde die Diagnose richtig, daß wir eine supranationale und eine lokale Ebene haben. Für das Lokale gibt es aber kaum wirkliches Völkerrecht. Wo beginnt das Selbstbestimmungsrecht, das Recht über Kultur, das über soziale Beziehungen und über Tradition? In manchen Verfassungen ist das ganz gut geregelt, nämlich durch Multilegalismus.

Das heißt aber, daß die Rechtseinheit des Nationalstaates kein absoluter Wert mehr ist. Ich glaube, die Menschenrechte sind dem Staatsrecht im Prinzip über- und nicht untergeordnet. Da wird jeder Jurist sagen: »Da werden Sie aber Probleme kriegen.« In der Praxis ist das aber nicht so, weil ich in der Praxis sehr wohl Menschenrechte zum Gegenstand politischer Verhandlungen machen kann, natürlich mit offenem Ausgang, ob das für den Staat etwas bewirkt oder nicht. Ich glaube, das gilt auch für Libyen. Wenn die Herrschaftsform verhindert, daß diese Verhandlungen stattfinden, dann ist das problematisch, und wenn die militärische Intervention das verhindert, genauso. Weil mir Genauigkeit hier wichtig ist, muß ich einen noch unveröffentlichten Satz zitieren, den ich geschrieben habe: »Die Schutzverantwortung sollte aber beschützen, was an potentieller Entwicklung der Gesellschaft sich aus dem Zwang der Verhältnisse befreien will. Man könnte das den Schutz zur Emanzipation vom Zwang dieses Schutzes nennen.« Oder anders gesagt: Die Schutzverantwortung muß ertragen, daß in ihrem Schatten etwas passiert, was eigentlich mit dem Schutz nichts mehr zu tun hat. Oder noch anders gesagt: Die Grenzen unserer Assist- und unserer Reconstruct-Capacity müssen genauso streng bestimmt werden. Es ist interessant, daß die Kritiker der humanitären Intervention sagen, Transition sei wichtiger als Exit.

NP: Man könnte das vielleicht auch so fassen: Frieden kann man auch mit Krieg herstellen. Dann wäre das Ziel, die Grenzen des Instrumentariums etwas auszudehnen, um einen Friedenszustand herzustellen. Genauso wie Menschenrechte herzustellen, indem man das Instrumentarium der Schutzverantwortung etwas ausweitet. Abgesehen davon, daß das juristisch nicht möglich ist – und daran müssen wir uns halten –, habe ich grundsätzliche Zweifel: Ob es erstens möglich ist, durch Krieg wirklich Frieden herzustellen, und ob es zweitens möglich ist, durch militärische Interventionen Menschenrechte zu garantieren. Der Zustand der afghanischen Menschenrechte ist so katastrophal wie lange nicht. Ich kenne Afghanistan sehr gut. Ich war während der Zeit Karmals und Nadschibullahs dort und später ebenfalls öfters im Land. Was dort derzeit menschenrechtlicher Standard ist, ist absolut ein Horror. Den Einmarsch oder die Truppenpräsenz kann man überhaupt nicht begründen. Mehr noch: Zu sagen, der Einmarsch oder die Truppenpräsenz hätten humanitäre Gründe, halte ich für eine Lüge. Ähnliches gilt für den Irak. Was ist dort übriggeblieben von den Menschenrechten? Was ist der Menschenrechtsstatus in Libyen? Ohne juristisch zu argumentieren, alleine auf einer empirischen Basis, die wir angeblich präsentiert bekommen, halte ich das Mittel, eine Gesellschaft zu zerstören, um die Menschenrechte zu retten, für falsch und auch für gescheitert.

Anmerkung des Herausgebers

[1] Gemeint sind die vier Anklagepunkte der Nürnberger Prozesse, die als zu bestrafende Verbrechen in das Völkerrecht eingegangen sind: 1. Planung, Vorbereitung oder Durchführung eines Angriffskrieges oder Verletzung internationaler Verträge oder Übereinkünfte; 2. Mitwirkung bei Planung von oder Verschwörung zu jeglichen unter 1. aufgeführten Handlungen; 3. Kriegsverbrechen; 4. Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

* Prof. Dr. Michael Daxner ist Sozialwissenschaftler und Philosoph. Er war bis 1998 Präsident der Oldenburger Carl-von-Ossietzky-Universität, seit 2006 leitet er das Projekt »Interventionskultur« in Afghanistan.

** Prof. Dr. Norman Paech ist Rechtswissenschaftler und war von 1982 bis 2005 an der Hochschule für Wirtschaft und Politik in Hamburg tätig. Zwischen 2005 und 2009 war er Mitglied des Deutschen Bundestages für die Partei Die Linke.


Johannes M. Becker, Gert Sommer (Hg.): Der Libyen-Krieg. Das Öl und die »Verantwortung zu schützen«, Schriftenreihe zur Konfliktforschung Bd. 26, Lit Verlag 2012, 200 Seiten, 24.90 Euro

Aus: junge Welt, Dienstag 5. Juni 2012


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