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Lenin in Belfast

Tagung zum Selbstbestimmungsrecht der Völker

Von Florence Hervé, Belfast *

Belfast, Anfang Juni. Die früher geteilte und heute noch manchenorts - als Relikte einer von militanten Auseinandersetzungen geprägten Vergangenheit - mit Gittern gespickte Stadt war mit Bedacht als Tagungsort gewählt. Hier trafen sich am vergangenen Wochenende auf Einladung der Europäischen Vereinigung von Juristinnen und Juristen für Demokratie und Menschenrechte (EJDM) und des Transitional Justice Institute der Ulster-Universität in Nord­irland Anwälte und Wissenschaftler aus verschiedenen Regionen, unter anderem dem Baskenland, Katalonien, Kurdistan, Schottland - und Irland selbst natürlich. Thema: »Menschen in Bewegung: Selbstbestimmungsrecht und Sezession«. Nicht teilnehmen durfte der Vertreter aus der Westsahara von der saharauischen Befreiungsfront Polisario, dem kurzfristig das Visum verweigert wurde. Aus anderen Gründen mußte der Völkerrechtler Professor Norman Paech aus Hamburg passen: Die aktuellen Geschehnisse infolge der israelischen Attacke gegen die Free-Gaza-Schiffe, von der er als Mitreisender betroffen war, führten zu seiner Absage.

Ziel der Tagung sei, so formulierte es EJDM-Vorsitzender Professor Bill Bowring, linke europäische Intellektuelle zu einem brisanten Thema zusammenzubringen - auch, um Impulse für die laufenden Diskussionen in Nordirland und in der EJDM zu befördern. Bowring referierte über »Lenin und Selbstbestimmung« und erinnerte insbesondere daran, daß der russische Revolutionär das Recht, selbst zu bestimmen, bereits 1914 für Irland und Polen befürwortet hatte. Der Sozialismus müsse, hatte Lenin formuliert, »nicht nur vollständige Gleichberechtigung der Nationen realisieren, sondern auch das Selbstbestimmungsrecht der unterdrückten Nationen durchführen, das heißt das Recht auf freie politische Abtrennung anerkennen«.

Prof. Ephraim Nimni, ein Spezialist für Minderheitenrechte von der protestantischen Queen's Universität Belfast, betonte, daß das Nationalstaatsmodell nur selten eine Lösung biete für die Forderungen staatenloser Nationen, von denen es weltweit 3000 gebe. Diese lebten in 192 Staaten (2006). Weniger als 20 dieser Länder seien »ethnisch homogen«, wenn man den Maßstab anlege, daß nur bis zu fünf Prozent der Bevölkerung zu den kulturellen Minderheiten gehörten. Ein politischer »Paradigmenwechsel« national wie international, so Nimni, sollte sich auf die wechselseitige Anerkennung von kulturellen Minderheitenrechten und auf die Anerkennung von Übereinkünften zur Machtverteilung konzentrieren.

In verschiedenen Fallstudien wurden die Bedeutung vom und die politischen Hintergründe für das Selbstbestimmungsrecht dargestellt - Palästina, Kurdistan, Katalonien, Baskenland, Nordirland. Urko Aiartza, Rechtsanwalt aus Donostia (span.: San Sebastian), ist an der Untersuchung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit unter dem faschistischen Diktator Francesco Franco (1939-1975) beteiligt. Er erinnerte an die enge Verbindung zwischen Selbstbestimmungsrecht und Menschenrecht. So seien infolge des baskisch-spanischen Konflikts zwischen 1959 und 2010 etwa 2500 Basken ins Exil getrieben und 7000 Menschen inhaftiert worden. Folter wurde massenhaft angewandt, 465 Menschen seien von der Polizei, 808 durch bewaffnete Gruppen getötet worden. Derzeit gebe es immer noch 750 baskische Gefangene.

Die australische Juristin Dr. Vicki Sentas von der Kampagne gegen die Kriminalisierung von Communities (Campacc) forscht in London über die Auswirkungen der »Antiterrorismusgesetze«. Sie stellte fest, daß nach dem 11. September 2001 das Menschenrecht auf Selbstbestimmung zunehmend untergraben wurde. Allein in Großbritannien wurden 20 Organisationen für illegal erklärt. Das Verbot der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) kriminalisiere die gesamte exil-kurdische Bevölkerung. Der ehemalige Professor für internationale Beziehungen an der Universität Ankara, Haluk Gerger, konstatierte, daß anhaltende Unterdrückung und Repression häufig dazu führten, daß Menschen einen separaten Staat forderten.

An der geschichtsträchtigen Belfaster Falls Road erzählen die Wandmalereien von den Kämpfen und Toten in Irland. Auf einer wird der irisch-republikanische Politiker Bobbie Sands, der 1981 nach einem Hungerstreik im Gefängnis starb, zitiert: »Unsere Rache wird das Lachen unserer Kinder sein.«

* Aus: junge Welt, 8. Juni 2010


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