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Zwischen Recht und Macht - Größe und Elend des kleineren Übels

Ein Gespräch mit Reinhard Mutz

Im Folgenden dokumentieren wir ein Gespräch, das die Wochenzeitung "Freitag" mit dem Wissenschaftlichen Direktor des Hamburger Friedensforschungsinstituts, Reinhard Mutz, geführt hat. Darin geht es vor allem um die Frage, welche Konsequenzen der Irakkrieg für die Vereinten Nationen hat.


FREITAG: Sollten sich die Vereinten Nationen der neuen Realität einer amerikanischen Vorherrschaft im Irak anpassen und die Sanktionen gegen das Land aufheben?

REINHARD MUTZ: Man sollte sich zunächst noch einmal die Lage vor Augen halten, in der die Sanktionen beschlossen wurden. Das vollständige Handels- und Finanzembargo gegen Bagdad stammt aus dem August 1990 - seinerzeit festgelegt als Zwangsmaßnahme der UNO gegen die rechtswidrige Okkupation Kuwaits. Damals war der Irak der Aggressor - heute ist der Irak das Opfer. Streng genommen wäre jetzt nicht über die Aufhebung, sondern über die Verhängung von Sanktionen zu reden - nämlich gegen den aktuellen Okkupanten, und das sind die Vereinigten Staaten. Wie realpolitisch abwegig dieser Gedanke ist, veranschaulicht nur den gegenwärtigen Stand der internationalen Beziehungen. Er illustriert, wie weit wir von dem entfernt sind, was die UN-Charta vorsieht.

Unabhängig davon, warum werden die Sanktionen nicht einfach aus humanitären Gründen beendet?

Der richtige Zeitpunkt, die Sanktionen aufzuheben, wäre das Jahr 1996 gewesen. Von da an haben die UN-Waffeninspekteure keine schwerwiegenden Verstöße Bagdads gegen Entwaffnungsauflagen mehr registriert. Den selben Befund hat jüngst die Blix-Kommission mitgeteilt. Gleichwohl ist die wirtschaftliche Strangulierung des Irak auf Betreiben der USA weiter gegangen. Dieses Vorgehen hat Hunderttausenden von Irakern - vor allem Kindern - das Leben gekostet. Mit keinem politischen Argument ließe sich heute rechtfertigen, eine humanitäre Untat zu verlängern.

Das gilt dann auch für die Position Russlands, eine Art Junktim herzustellen zwischen einem Ende der Sanktionen und einer Wiederaufnahme der Waffenkontrollen unter UN-Regie.

So ist es. Diejenigen Regierungen, die heute geltend machen, dass nur der Sicherheitsrat das Sanktionsregime außer Kraft setzen kann und nur der Sicherheitsrat die Illegalität der jetzigen Situation im Irak beenden kann, haben das geschriebene Recht auf ihrer Seite. Aber das ist eine stumpfe Waffe, weil jeder, der noch am Instrument der Sanktionen festhält, den Vorwurf auf sich zieht, seine ökonomischen Interessen in Auge zu haben.

Wie Russland.

Wie Russland, wie auch Frankreich. Beide haben etwa acht Milliarden Dollar Außenstände im Irak. Da wären die Sanktionen auch ein Druckmittel gegen die USA, um in den Genuss der Rückzahlungen zu kommen. Aber wenn das nur um den Preis geht, die Sanktionen zu verlängern, ist das eben ein sehr zwiespältiges Vorgehen.

Was halten Sie vom Kompromiss eines begrenzten Sanktionsabbaus?

Das wäre ein Behelf für den Augenblick, aber keine langfristig vertretbare Haltung. Nein, es ist geradezu überfällig, dass die irakische Bevölkerung - unter welchem Regime auch immer - wieder in den Genuss ihrer eigenen ökonomischen Ressourcen kommt, sonst ist das Land nicht wieder aufzubauen. Wenn man für die Aufhebung der Zwangsmaßnahmen plädiert, dann nimmt man natürlich in Kauf, dass sich die Invasionsstaaten - allen voran die USA - aus den Ölerlösen des Irak ihre eigenen Kriegs- und Besatzungskosten erstatten werden. Ich denke aber, eine Güterabwägung muss dazu führen, diesen Missbrauch in Kauf zu nehmen, sofern man nicht will, dass für 23 Millionen Iraker unhaltbare humanitäre Zustände fortbestehen.

Aber darin zeigt sich doch, wie die UNO im Zeitalter der präventiven Kriege im Widerspruch zu ihrer Charta handeln muss.

Diesen pessimistischen Eindruck teile ich überhaupt nicht. Die Vereinten Nationen sind keineswegs mit ihrem Latein am Ende, sie haben im Gegenteil einen großen Triumph erzielt, indem sie dem immensen Druck standhielten, der auf den Sicherheitsrat ausgeübt wurde, um Freibeutertum für Recht zu erklären. Die UN-Charta ist heute in der Weltöffentlichkeit bekannter, als das je zuvor der Fall war. Die rechtliche und moralische Autorität der UNO ist unbeschädigt, obwohl sie gegen nackte Waffenmacht nichts ausrichten konnte. Langfristig ist das ein Pfund, mit dem sich wuchern lässt.

In welcher Hinsicht?

Indem man keine durch militärische Gewalt geschaffenen Tatsachen für rechtens erklärt.

Wenn ich Sie richtig verstehe, dann wiegt die Tatsache, dass die USA vom Sicherheitsrat nicht zum Krieg gegen den Irak autorisiert wurden, genauso schwer wie der Verstoß gegen die UN-Charta durch die Sicherheitsratsmitglieder USA und Großbritannien?

Durchaus, und zwar als Willensakt der Mehrheit, an den Grundpfeilern des internationalen Rechts festzuhalten.

Der Eindruck von Machtlosigkeit, den die UNO vermittelt, lässt sich dadurch nicht verwischen.

Im Konflikt zwischen Recht und Macht siegt kurzfristig immer die Macht. Die USA bestreiten mit einem Anteil von vier Prozent der Weltbevölkerung 40 Prozent des globalen Aufwandes für Rüstungen und Streitkräfte. Wenn sie davon Gebrauch machen wollen, kann ihnen niemand in den Arm fallen. Aber auf Dauer wird sich kein Staat mit seinen politischen Zielvorstellungen gegen ein gestärktes internationales Rechtsbewusstsein durchsetzen können, wie es sich im Abstimmungsverhalten in der UNO während der vergangen Monate niedergeschlagen hat.

Muss man nicht eher befürchten, dass sich die geltende Rechtsordnung der herrschenden Weltordnung anpasst?

Ich sehe diese Gefahr nicht. Die Bush-Administration hat Syrien und Iran gedroht. Sollte heute eine operative Umsetzung dieser Drohungen im Sicherheitsrat zur Abstimmung stehen, würde das Ergebnis nicht anders ausfallen als vor Wochen bei der von den USA gewünschten zweiten Irak-Resolution, die den Krieg legalisieren sollte. Das sehe ich nichts erodieren oder bröckeln. Im Gegenteil, die Auffassungen darüber, was rechtens ist in der internationalen Politik und was nicht, sind deutlicher und einhelliger geworden.

Das Gespräch führte Lutz Herden

* Reinhard Mutz ist Geschäftsführender Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH). Er gehört zu den profiliertesten Völkerrechtlern in Deutschland sowie zu den ständigen Autoren des jährlichen Friedensgutachtens, eines seit 1987 erscheinenden Jahrbuches mehrerer wissenschaftlicher Forschungsinstitute, sowie des seit 1994 allein vom IFSH erarbeiteten Jahrbuchs der OSZE.

Aus: Freitag 19, 2. Mai 2003



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