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Alphabet des Klassenkampfs

Band 8/II des historisch-kritischen Wörterbuchs des Marxismus erschienen

Von Gerd Bedszent *

Bedarf es im Zeitalter von Facebook und Wikipedia überhaupt noch eines in Papierform vorliegenden historisch-kritischen Wörterbuchs des Marxismus? Herausgeber Wolfgang Fritz Haug schreibt im Vorwort des nun vorliegenden Bandes 8/II: »Die im Netz herrschende Devise umgeht einerseits die Geschmackszensur des Marktes und die Torhüter des Establishments, doch zugleich umgeht sie die kritische Katharsis.«

Das stimmt, aber nur fast. Haug übersieht, dass das Kapital auch durch die allerwinzigsten Poren sickert, um neue Märkte zu erschließen. Und das Netz erwies sich als eine gigantische Vermarktungsmöglichkeit. Die Online-Enzyklopädie Wikipedia ist beispielsweise längst nicht mehr die unabhängige Instanz, als die sie sich gern präsentiert. Hauptberuflich arbeitende Lobbyisten und PR-Agenturen haben sich schnell auf das neue Betätigungsfeld geworfen. Da die Anonymität des Netzes nicht zwischen Enthusiasten und bezahlten Interessenvertretern unterscheidet, sind erstere hoffnungslos ins Hintertreffen geraten. Zumal letztere sich in Diskussionen meist als faktenresistent erweisen. Der Kompass eines wissenschaftlich fundierten Wörterbuches tut also not – heute mehr denn je.

Lobend hervorgehoben sei der Beitrag »links/rechts« von Ingar Solty. Die Unschärfe dieser politischen Zuordnung hat in der Vergangenheit schon für verwirrende Kapriolen gesorgt. So verstanden es Anfang der 1990er Jahre Teile der neoliberal gewendeten sowjetischen Nomenklatura, die von ihnen angeschobene Welle von Deregulierung und sozialen Grausamkeiten als »links« darzustellen. »Lechts und rinks räßt sich reicht velwechsern«, spottete damals eine trotzkistische Zeitung. Die Zuordnung »links/rechts« stammt noch aus der Zeit des Absolutismus. Königstreue bestanden unter Berufung auf die Bibel darauf, zur Rechten des regierenden Monarchen Platz zu nehmen, so dass der bürgerlichen Opposition nur die linke Seite blieb. In der Arbeiterbewegung galten später Reformisten als »rechts«, Bewahrer des revolutionären Erbes von Marx und Engels als »links«. Derzeit steht »rechts« für parteipolitische Ideologisierung sozialer Ungleichheit, während ein eher gleichheitsorientiertes politisches Spektrum sich als »links« versteht.

Es können hier nicht alle Beiträge des Bandes kommentiert werden. Aus »links/rechts« folgen in alphabetischer Reihenfolge Linkshegelianismus, Linkskommunismus, Linksradikalismus und Linkssozialismus. Die betreffenden Artikel seien pauschal ebenfalls gelobt, weil sie einen gut lesbaren Überblick über die komplizierte Geschichte der politischen Linken geben. Viele Gruppierungen dissidenter Marxisten verstanden sich selbst als Linksabspaltung. »Rechts« wollte niemand sein, weshalb ihre Gegner sie zumeist der »Kinderei« und des »Abenteurertums« bezichtigten. Wer hatte nun Recht, wer Unrecht? Über viele Fraktionskämpfe innerhalb der kommunistischen Bewegung ist die Geschichte inzwischen hinweggeschritten, andere sind durchaus noch aktuell.

Was sich hinter »Lyssenkoismus« verbirgt, dürfte nicht mehr vielen Leuten bekannt sein. Für Konstantin Westphal und Volker Schurig war die Hinrichtung fast aller Genetiker während der Stalinschen Säuberungen Voraussetzung dafür, dass sich der ukrainische Agrarwissenschaftler Trofim Denissowisch Lyssenko (1889 – 1976) mit schon damals längst widerlegten Vorstellungen zeitweilig im sowjetischen Wissenschaftsbetrieb durchsetzen konnte. Voraussehbare Folge war ein Desaster der sowjetischen Landwirtschaft. Der ansonsten sicherlich vergessene Wissenschaftsskandal gilt bis heute als Warnung an unbedarfte Politiker, sich keinesfalls in naturwissenschaftliche Forschung einzumischen.

Aber kommen wir lieber zu den unzweifelhaften Bösewichten: Im Band findet sich ein sehr treffender Artikel über »Malthusianismus« von John Bellamy Foster. Thomas Robert Malthus (1766-1834) hatte ein exponentielles Anwachsen der Menschheit und damit eine künftige Überbevölkerung behauptet, wenn dem nicht in Gestalt fehlender Nahrung ständig Einhalt geboten würde. Marx und Engels bescheinigtem ihm seinerzeit eine »Grundgemeinheit der Gesinnung«, charakterisierten seine Werke als »offene Kriegserklärung gegen das Proletariat« und hatten dabei völlig Recht. Bis heute verbirgt sich hinter neo-malthusianistischen Theorien stets eine Kampfansage gegen die Allerärmsten dieser Welt.

Anregend ist der Beitrag über »Marktsozialismus« von Paresh Chattopadhyay und Lutz Brangsch. Wie die Autoren selbst schreiben, ist Markt untrennbar an Warenwirtschaft gekoppelt. Und bei Marx und Engels gibt es keine Hinweise für die Fortexistenz einer Warenproduktion im Sozialismus. Waren die bisherigen Modelle eines Marktsozialismus nun Ansätze zur Wirtschaftsdemokratie oder eine kapitalistische Alternative zum Kapitalismus? Oder beides?

Abschließendes Fazit: Man muss nicht mit allen Beiträgen vollständig übereinstimmen. Lohnend ist die Lektüre des Wörterbuches allemal. Man kann Herausgebern und Autoren nur wünschen, möglichst bald beim letzten Buchstaben Z zu landen.

Wolfgang Fritz Haug, Frigga Haug, Peter Jehle und Wolfgang Küttler (Hg.): Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Band 8/II, links/rechts bis Maschinenstürmer, Argument Verlag, Hamburg 2015, 512 Seiten, 98,00 Euro

* Aus: junge Welt, Montag, 27. Juli 2015


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