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Legitimierte Gewalt

Vorabdruck. Basiswissen Imperialismus

Von Frank Deppe, David Salomon und Ingar Solty *

In der Reihe »Basiswissen« erscheint Mitte März im Kölner PapyRossa Verlag eine historisch-kritische Einführung in den Begriff »Imperialismus« von Frank Deppe, David Salomon und Ingar Solty. Die "junge Welt" veröffentlichte daraus vorab eine um einige Passagen und Anmerkungen gekürzte Fassung des siebten Kapitels, das sich mit der ideologischen Figur eines »guten Imperialismus« auseinandersetzt. Wir dokumentieren im Folgenden diesen Abschnitt.

Die Krise, in der sich die US-Hegemonie heute befindet, ist nicht zuletzt auch eine Rechtfertigungskrise: »Wie alle anderen politischen Formationen sind auch Imperien auf Rechtfertigungen aus, um zustimmende oder passive Gefolgschaften und Konsens im imperialen Elitenkörper zu organisieren.«1 Im Fall des modernen Imperialismus lassen sich insbesondere zwei Typen von Rechtfertigungsmustern ausmachen, die an ihrem historischen Ort oftmals aufs engste verwoben auftreten. Der erste Typus argumentiert von den Zentren aus: Vom Reichkanzler Bülow (»Wir brauchen auch einen Platz an der Sonne«) bis zu Peter Strucks »Deutschland wird heute am Hindukusch verteidigt« wurden stets eigene Anliegen der Metropolen artikuliert, wenn es darum ging, koloniale Eroberungen oder »auswärtiges Engagement« zu begründen und zu rechtfertigen. Rechtfertigungsmuster des zweiten Typus hingegen argumentieren von der Peripherie her: Von Rudyard Kipling (»The White Man’s Burden«) bis zu Joseph Fischer im Jugoslawienkrieg (»Ich habe zwar ›Nie wieder Krieg‹ gelernt, aber auch ›Nie wieder Auschwitz‹«) begleiteten auch solche Argumente imperialistische Bestrebungen, die für sich in Anspruch nahmen, die eroberten und bekriegten Bevölkerungen zur Zivilisation erziehen oder von ortsansässigen Tyrannen befreien zu wollen.

Aufgeklärte Weltpolitik

Der Ursprung beider Typen von Legitimationsstrategien des modernen Imperialismus liegt in der Entstehung und Entwicklung neuzeitlicher (Welt-)Politik – auch wenn sich Vorläufer schon in der Antike ausmachen lassen. Erst mit der Renaissance, den »Entdeckungsreisen«, der allmählichen Säkularisierung der Politik und schließlich der Herausbildung von Nationalstaaten und dem Entstehen der Bourgeoisie ging jedoch eine geistesgeschichtliche Entwicklung einher, die Kategorien wie Welt, Menschheit oder Universalität als zentrale Begriffe des politischen Denkens etablierte. Insbesondere die Aufklärung arbeitete die aus der Renaissance und dem Barock überkommenen humanistischen Vorstellungen zu einem umfassenden philosophischen System aus, das mit der Trias »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« einen universell-emanzipatorischen Ausdruck in der bürgerlichen Politik fand. Was den bürgerlichen Universalismus und Fortschrittsoptimismus seit dem späten 18. Jahrhundert auszeichnet, ist, daß er zunehmend alle menschlichen Verhältnisse, auch die weltumspannenden, als Rechtsverhältnisse begreifen will. Das vielleicht bekannteste frühe Dokument, das die Möglichkeiten einer auf Recht gegründeten »Weltpolitik« auslotet, ist Immanuel Kants Schrift »Zum ewigen Frieden« (1795/1796), in derem zweiten Definitivartikel es heißt: »Das Völkerrecht soll auf einen Föderalism freier Staaten gegründet sein.«. Der in dieser Schrift empfohlene »ewige Friede«, die Idee eines Bundes zwischen Republiken, der weder Weltstaat noch perpetuierter Kriegszustand ist, sondern einen weltbürgerlichen Rechtsrahmen schafft, erscheint zu recht als weit von all dem entfernt, was »Imperialismus« genannt werden kann.

Schon die Rechtsidee der Aufklärung entwickelte sich freilich unter den Bedingungen einer Geographie von Zentren und Kolonien. Schon die Welt, in der sich unter britischer Hegemonie der moderne Industriekapitalismus durchsetzen sollte, war durchaus keine Welt der sich allmählich zu Republiken zusammenschließenden Gesamtheit der Völker. Während das britische Weltreich im 19. Jahrhundert seine Kolonien ausbaute und zum ökonomischen Motor der Weltwirtschaft aufstieg, zogen auch die übrigen europäischen Mächte und spätestens nach dem Bürgerkrieg der 60er Jahre auch die Vereinigten Staaten von Amerika in der rasanten Entwicklung von Produktivkräften nach. Als der Begriff »Imperialismus« gegen Ende des Jahrhunderts im Zusammenhang mit einem neuen Schub kolonialer Expansionen aufkam und die kapitalistischen Metropolen gleichzeitig in das Zeitalter der zwischenimperialistischen Rivalität eintraten, war die Welt alles andere als ein Schauplatz der zunehmenden Verrechtlichung aller menschlichen Verhältnisse. Dennoch mußten sich die ausgewachsenen industrialisierten Staaten auf irgendeine Weise zum bürgerlich-universalistischen Emanzipationsversprechen verhalten, mit dem die Bourgeoisie einst angetreten war.

In zahlreichen europäischen Staaten war es freilich längst zu Bündnissen zwischen Adel und Bürgertum gekommen – nicht selten erkauft um den Preis der Aufgabe des Gleichheitsideals. Im Vorfeld und während der ersten Phase des modernen Imperialismus feierten Ungleichheitsideologien überall in Europa (und in den USA– man denke nur an die erst 1865 abgeschaffte Sklaverei) fröhliche Urständ. Der Chauvinismus– also ein übersteigerter Nationalismus, der nicht von universell gültigen Menschenrechten ausgeht, sondern exklusive Rechte aus postulierter zivilisatorischer, schließlich »rassischer« Überlegenheit ableitet – wurde zu einer wesentlichen Rechtfertigungsform imperialistischer Kolonialpolitik. Einen Höhepunkt erlebten offen-partikularistische Legitimationsstrategien fraglos in der imperialistischen Politik der faschistischen Staaten vor und während des Zweiten Weltkriegs. Imperialistische Politiken nach 1945 knüpften in ihrer offiziellen Rhetorik nur noch vereinzelt an sie an.

»Ethischer Imperialismus«

Anders steht es um solche Legitimationsstrategien imperialistischer Politik, die zwar von einem Status quo ausgehen, in dem die »Barbaren«– Kindern gleich – nicht als rechtsfähig angesehen werden können, die diesen Zustand jedoch für aufhebbar halten und im Imperialismus das geeignete Mittel zur Angleichung der »Wilden« an die »Zivilisierten« ausmachen. Das berühmteste Dokument, das in dieser Richtung argumentiert, ist ein Gedicht, das der britische Dichter Rudyard Kipling im Februar 1899 in der London Times veröffentlichte und dessen Titel »The White Man’s Burden« (dt.: Die Bürde des weißen Mannes) zum geflügelten Wort imperialistischer Selbstbeschreibung geworden ist.

In Kiplings Gedicht erscheinen die Kolonisierten als kindliche und zugleich teuflische Kreaturen, die durch das pädagogische Unternehmen »Imperialismus« zu friedlichen und zivilisierten Menschen erzogen werden sollen. Die heute Widerstrebenden, so Kipling sinngemäß, werden ihren Eroberern dereinst dankbar sein. Der Dichter argumentiert hierbei keineswegs im Rahmen der aufgeklärten Rechtsidee: An die Stelle universeller Rechte tritt der unbestimmte Begriff einer »Zivilisation«, die sich die »Wilden« assimilieren möchte. Der Anspruch des Empires wird viel stärker moralisch als juristisch begründet. Kiplings Erziehungserzählung faßt einen Argumentationsstrang pointiert zusammen, der geeignet scheint, bürgerlichen Universalismus und Imperialismus miteinander zu versöhnen: Wenn die begrifflich postulierte Gleichheit der Menschheit durch die kulturelle Ungleichheit der Menschen konterkariert wird, die Zivilisation jedoch über militärische Machtmittel verfügt, was wäre dann ein edlerer Gebrauch dieser Machtmittel, als die Zivilisation zu exportieren und der menschlichen Gleichheit damit eine faktische Grundlage zu schaffen?

Dort wo ein solcher »guter« Imperialismus nicht bloße Lüge zur Verschleierung der tatsächlichen Ausbeutung der Kolonien war, sondern ernstgemeintes Programm, ging er zumeist einher mit einer Kritik der überbordenden Gewaltpolitik. Der Historiker Heinz Gollwitzer faßt »alle Bestrebungen zur Humanisierung des Imperialismus, im Gegensatz zu solchen humanitären Tendenzen, die sich auf Antiimperialismus festgelegt hatten«, im Begriff eines »ethischen Imperialismus« zusammen: »Wie schon aus der Bezeichnung selbst hervorgeht, versuchte der ethische Imperialist seine Ziele im Rahmen imperialistischer Politik zu verwirklichen.« Für Gollwitzer bezieht dieses Programm das Ziel eines »humanere (n) Verhältnis (ses) der Imperien untereinander« mit ein und proklamiert eine »Tendenz (...), die Imperien als Durchgangsstufe zu einer friedlichen Weltordnung aufzufassen«. Solche Stränge der Imperialismusdiskussion ließen auch die in der Internationale versammelten Arbeiterparteien der kapitalistischen Zentrumsstaaten nicht unbeeindruckt. Um die Jahrhundertwende entwickelte sich die Kolonialfrage zu einem zentralen Streitpunkt in der europäischen Arbeiterbewegung.

Wie Julius Braunthal (österreichischer Sozialdemokrat, Mitbegründer und bis 1956 Sekretär der Sozialistischen Internationale – d. Red.) herausstellt, wurde » (d)ie Haltung der Internationale zur Kolonialfrage (...) durch zwei fundamentale Prinzipien in der Tradition des Sozialismus beherrscht: dem Anspruch der Gleichberechtigung aller Menschen aller Rassen, ihrem gleichen Anspruch auf Würde und Respekt, auf Freiheit und nationale Unabhängigkeit, und dem Prinzip der Solidarität der Unterdrückten aller Nationen und Rassen, der Idee, der die Internationale entsprang«. Auf dieser Grundlage schien ein antiimperialistischer und antikolonialer Konsens selbstverständlich, wie ihn eine auf dem Londoner Kongreß der Zweiten Internationale (1896) verabschiedete Resolution ausdrückte, die »das ›volle Selbstbestimmungsrecht aller Nationen‹« forderte und feststellte: »Welcher Art immer die religiösen oder zivilisatorischen Vorwände der Kolonialpolitik sein mögen (...), sie hat stets nur die Erweiterung des Gebietes der kapitalistischen Ausbeutung im ausschließlichen Interesse der Kapitalisten zum Zweck.« Diese Selbstverständlichkeit jedoch geriet in eine Krise, als zwischen 1899 und 1902 die Burenrepubliken in Südafrika zum Schauplatz eines blutigen Kolonialkriegs durch England wurden. Als der englische Kolonialismus sich im Burenkrieg gegen eine ortsansässige weiße, burische Elite richtete, verfaßte der den Fabiern zugehörige Schriftsteller Bernard Shaw ein Manifest, in dem er die Legitimität der »Annektion der Burenrepubliken durch England« mit einer moralischen Verantwortung gegenüber der schwarzen Bevölkerung begründete. Shaws Argumentationsweise, die einen Sturm der Empörung auslöste, bei den Fabiern jedoch auf breite Zustimmung stieß, stellte sich durchaus nicht gegen das Prinzip der Solidarität mit den Unterdrückten aller Länder. Auch ist sie nicht als blinde Zustimmung zu jedwedem kolonialen Abenteuer zu deuten. Auffallend ist jedoch, daß bei Shaw wie zeitgleich bei Kipling, der freilich kein Sozialist war, ein verwaschener Zivilisationsbegriff an die Stelle des Konzepts von universalen Rechtsverhältnissen tritt. Insbesondere dann, wenn man sich die weitere Geschichte Südafrikas als vom Westen gestützten Apartheidstaat betrachtet, wird zudem deutlich, daß die Behauptung, Großmächte müßten stets im allgemeinen Interesse der Zivilisation agieren, eine bloße Setzung bzw. eine große Illusion war.

Schon zeitgenössisch blieb Shaws Position ein Minderheitenvotum. Zwar argumentierten auch andere führende Mitglieder der Zweiten Internationale in ähnlicher Richtung, insgesamt blieb die sozialdemokratische Arbeiterbewegung jedoch konsequent in ihrer Ablehnung des Kolonialismus. Tatsächlich waren die Arbeiterparteien niemals Subjekt der Kolonialpolitik, sondern mußten Wege finden, mit dem Bestehen von Kolonien umzugehen. Der zwischenimperialistische Krieg 1914, in dem sich die Internationale blamierte und dem Millionen zum Opfer fielen, zeigt, wie richtig die Analyse der Resolution ihres Pariser Kongresses aus dem Jahr 1900 war: »Das Problem der Kolonialpolitik konnte (...) nicht in seiner Isolierung betrachtet werden. Es schloß in sich den Komplex der Probleme des Imperialismus ein – den Rüstungswettlauf der Großmächte, die Verschärfung der internationalen Spannungen, die Gefahr kriegerischer Konflikte.«[2] Weit davon entfernt, eine Verrechtlichung der internationalen Politik zu befördern, zog der Imperialismus in seiner Phase der Rivalität imperialistischer Mächte die Welt in den Abgrund.

US-Anspruch auf Vorherrschaft

Mit den Vereinigten Staaten von Amerika stieg nach dem Zeitalter der Katastrophen eine Macht in die Rolle des Demiurgen auf, deren Gründungsmythos als Staat aufs engste mit dem bürgerlich-aufklärerischen Denken des 18. Jahrhunderts verbunden war. Waren es auch (Siedler-)Kolonialisten, die das moderne Amerika begründeten, so haftete den USA doch seit dem Unabhängigkeitskrieg zudem der Geruch des Widerständigen an. Es muß nicht überraschen, daß der Gründungsmythos der USA geradezu ein »antiimperialistisches Element« in sich trägt: »›Americanism versus Imperialism‹ lautet der Titel eines von dem Milliardär Andrew Carnegie veröffentlichten Zeitschriftenaufsatzes«[3], der im gleichen Jahr 1899 erschien, in dem Kipling sein Gedicht und Shaw sein Manifest verfaßten. Zu diesem Zeitpunkt hatten die USA freilich selbst schon eine beachtliche imperialistische Geschichte hinter sich, die insbesondere mit dem Namen des Präsidenten Theodore Roosevelt verbunden werden kann. Ein Schauplatz von Rassismus, der bekanntermaßen auch nach der Befreiung der Sklaven im US-amerikanischen Bürgerkrieg kein Ende fand, und bis zu genozidalen Mordpraktiken reichender Unterjochung der »Eingeborenen« waren die USA freilich das gesamte 19. Jahrhundert hindurch geblieben. Einen Anspruch auf uneingeschränkte Vorherrschaft in Mittel- und Südamerika hatte zudem die Monroe-Doktrin aus dem Jahr 1823 formuliert. Roosevelt konnte also durchaus an US-amerikanische Traditionen anknüpfen, »wenn er die Weltpolitik seiner Zeit unter dem Gesichtspunkt schilderte, welche unvergleichlichen Möglichkeiten sie für zeitgenössische ›commonwealth builders‹ bereithielt. Er betrachtete die Vorgänge des imperialistischen Zeitalters als Triumph der arischen Rasse und Beweis ihrer Überlegenheit, insbesondere der für die Demokratie am vorzüglichsten geeigneten Angelsachsen. Emanzipation der afro-asiatischen Völker konnte er sich wie die meisten Zeitgenossen erst in Jahrhunderten vorstellen.«[4] [...]

Carnegies Artikel war Teil einer großen Debatte um den Imperialismusbegriff, in deren Folge sich eine weitreichende Akzentverschiebung im US-amerikanischen Diskurs vollzog. Der Amerikanismusbegriff, den Carnegie als Gegenbegriff zu »Imperialismus« etablieren möchte, enthält »das Bekenntnis zu einer nicht mehr im Sinne der vermeintlich altmodischen Machtpolitik betriebenen Weltpolitik, die nunmehr als freie Weltmarktpolitik aufgefaßt wurde, verbunden mit einer moralisch-humanitären Beispiels- und sogar Führungsrolle der USA.«4 Realpolitisch bereitete diese Debatte der Entstehung eines »American Empire« den Boden, das seinen Einfluß nicht mehr wie noch zu Zeiten der britischen Suprematie und der europäischen Mächte im Zeitalter rivalisierender Imperialismen auf förmlichen Kolonialbesitz gründete, sondern auf der Macht aufbaute, den kapitalistischen Weltmarkt zu strukturieren – flankiert durch die Installation von »befreundeten Regimen« und zahlreichen Kriegen an der Peripherie: »Die herrschenden Eigentümerklassen der USA (Machteliten) verfolgen spätestens seit der Wende zum letzten Jahrhundert, konsistent seit 1941, ein durchlaufendes, überparteiliches Projekt: den sogenannten ›liberalen Internationalismus‹. Operational strebt er nach Beseitigung aller Hindernisse für die eigene kommerzielle Expansion, im weiteren Sinne dann nach einer Ausdehnung des kapitalistischen Wirtschaftssystems in allen seinen Formen auf ein Maximum an Bereichen des Lebens sowie nach einem bürgerlichen, auf dem absoluten Privateigentum beruhenden Rechtsverständnis (...). Ideologisch ist er durch folgende Merkmale charakterisiert: a) durch eine politische Rhetorik, die vor allem die Begriffe ›Freiheit‹, ›Selbstbestimmung‹ und ›Menschenrechte‹ bemüht; sie wendet sich polemisch zu gleichen Teilen gegen ›Reaktion‹ (also Feudalismus, formellen Kolonialismus oder faschistischen Nationalismus) wie gegen ›Revolution‹ (also Sozialismus und Kommunismus), so daß stets das Bild einer moderaten Position der ›Mitte‹ und des ›wahren Fortschritts‹ erzeugt werden kann; b) durch einen internen Diskurs, in dem sich Elemente eines puritanisch-christlichen Millenarismus (Amerika als ›Neues Kanaan‹ oder ›City on the Hill‹) mit einer säkularen Geschichtsphilosophie vereinen, deren utopisches Telos (...) die Wiederherstellung eines imaginierten Goldenen Zeitalters ist. Beides suggeriert eine prädestinierte Rolle Amerikas als (christlicher) Heilsbringer der Menschheit oder (säkulare) Friedensmacht (›neues Rom‹, ›angewandte Aufklärung‹ etc.).«[5] Ideengeschichtlich wurde aus diesen Elementen das Konzept eines »amerikanischen Jahrhunderts« (Walter Lippman) gebildet, das sich geradezu dadurch rechtfertigte, daß es als Alternative zu jenem traditionellen Imperialismus auftrat, der 1914 im Zeitalter der Katastrophen gemündet hatte. Die Parallelen zu vorhergehenden Formen eines »ethischen Imperialismus« liegen auf der Hand.

Friedliche Supermacht?

Dennoch: Die Abkehr von klassisch aristokratischen Begründungsmustern eigener Suprematie, wie sie für die britische Hegemonialmacht selbstverständlich war, schien zunächst tatsächlich einen Paradigmenwechsel der Weltpolitik herbeizuführen. Das Gemetzel des Ersten Weltkriegs hatte bei zahlreichen politischen und gesellschaftlichen Akteuren zur Konsequenz, daß sie den klassischen Imperialismus für diskreditiert hielten: »Der erste ›totale‹ Krieg macht alle Bemühungen um eine rechtliche Einhegung der militärischen Gewalt im Kriege zunichte. Dieses höhnische Dementi der Erfolge der Haager Friedenskonferenzen bildet die eine Seite der ersten großen Zäsur in der Geschichte des klassischen Völkerrechts; die andere Seite ist die durch den Kriegsschock beförderte Initiative von Woodrow Wilson zur Gründung des Völkerbundes. Das lange 19. Jahrhundert ist mit einer historischen Erschütterung zu Ende gegangen, die für den unwahrscheinlichen Anfang einer Konstitutionalisierung des Völkerrechts den Boden bereitet hat. Mit der Gründung des Völkerbundes gelangt das Kantische Projekt zum ersten Mal auf die Tagesordnung der praktischen Politik.«6 Das Schicksal des historischen Völkerbunds, dem ausgerechnet die USA nicht beitraten, deren mehrheitlich isolationistischer Kongreß gegen Wilson stimmte, ist bekannt. Zu einem Durchbruch in der Verrechtlichung der Internationalen Politik sollte es erst knapp dreißig Jahre später kommen. Nach dem Zweiten Weltkrieg und zeitgleich mit dem Aufstieg der USA zur Hegemonialmacht in der westlichen Hemisphäre wurden die Vereinten Nationen als Nachfolgerin des gescheiterten Völkerbunds gegründet. 1941, nach dem Angriff der Japaner auf Pearl Harbour, war es Präsident Franklin Delano Roosevelt gelungen, die isolationistischen Widerstände in den USA zu brechen und im Bündnis mit Großbritannien und der Sowjetunion die Anti-Hitler-Koalition zu bilden. Schon unter Roosevelts Nachfolger Harry Truman, der auch für den Abwurf der Atombomben auf Hiroschima und Nagasaki verantwortlich zeichnete, wurde allerdings deutlich, daß die Nachkriegsordnung von einem neuen großen Konflikt geprägt sein würde. Bereits Roosevelt hatte während des Krieges mit der sogenannten Atlantik-Charta den Grundstein zu einem westlichen Bündnis gelegt, aus dem später die ­NATO wurde. Im Zeitalter des Systemgegensatzes wurden somit den Vereinten Nationen parallele Bündnisstrukturen beiseite gestellt, die nicht für eine verrechtlichte Konstitutionalisierung der internationalen Beziehungen, sondern für die Interessenvertretung der westlichen Mächte unter Führung der Vereinigten Staaten von Amerika standen. Im Kalten Krieg wurden die sozialistischen Staaten, die sich ihrerseits im Warschauer Pakt zusammenschlossen, zur negativen Projektion, gegen die »das Bild einer moderaten Position der ›Mitte‹ und des ›wahren Fortschritts‹«, von dem Frank Unger spricht, in Stellung gebracht werden konnte. Ein unter dem Zeichen der Totalitarismustheorie erneuerter Antikommunismus wurde zur Legitimationsideologie einer westlichen Weltpolitik, die von Korea bis Vietnam auch geeignet schien, heiße Kriege zu rechtfertigen. Von US-Imperialismus sprachen in dieser Phase freilich nur die Gegner der westlichen Politik. Als Selbstbezeichnung wurde der Imperialismusbegriff, auch mit dem Zusatz »gut« oder »ethisch«, nicht mehr verwendet. Die Hegemonie der USA in der westlichen Hemisphäre stützte sich vielmehr nach wie vor auch auf die Ideologie, die Vereinigten Staaten hätten den Imperialismus überwunden. Auch deshalb konnte der Verlauf des Vietnamkriegs, der einer Weltöffentlichkeit offenbarte, zu welchen Gewaltexzessen die »friedliche Supermacht« in der Lage war, zu einer schweren Legitimationskrise der US-Vorherrschaft führen, die erst im Zuge der Reorganisation des US-Empire seit den achtziger und insbesondere in den neunziger Jahren überwunden wurde.

Die neue Legitimation sollte indes nicht allzu lange dauern. Die von David Harvey als Wende vom neoliberalen zum neokonservativen Modell bezeichnete Rückkehr zu einer offenen Gewaltpolitik, die sich kaum mehr um multilaterale Abkommen scherte, sondern offen das Recht auf Selbstmandatierung der USA proklamierte, ging einher mit der erneuten und vertieften Legitimationskrise der US-Hegemonie, die bis heute anhält. Bedenkt man den über Jahrzehnte stabilen Mythos, die USA seien die Führungsmacht, die die Verrechtlichung der internationalen Politik nach 1945 vorangebracht und zeitgleich als Schutzmacht von Recht und Demokratie in der Welt gewirkt habe, so erscheint die Bush-Rhetorik – bei allen auch hier fortdauernden Beschwörungen, die USA betrieben keine imperialistische Politik– als der hilflose Versuch, auf Hegemonieverfall mit Dominanzgebaren zu reagieren.

Wenn auch nicht in Regierungskreisen, so doch in der Publizistik, wurde nun – ohne auf die historischen Vorgänger zu rekurrieren – auch auf das Argumentationsarsenal eines »ethischen Imperialismus« zurückgegriffen. Auffallend ist dabei, daß – wie zu Zeiten Shaws und des Burenkriegs – nicht zuletzt linke und linksliberale Autoren den Imperialismusbegriff unter moralischen Vorzeichen reaktivierten. So antwortete der linksliberale Kommunitarist Michael Walzer, der seinerzeit gerade den offenen Brief »What we’re fighting for – a letter from America« (2003) unterzeichnet hatte, den Journalisten Max Böhnel und Volker Lehmann auf die Frage, welches Amerika dem »Old Europe« gegenüberstehe: »Es ist der gute Imperialismus. Wir haben zwangsläufig diese Rolle übernommen, weil andere sie uns überlassen haben. Wir sind die verantwortliche Macht, die die Gefahren in der Welt meistern muß.« Ganz im Sinne ultraimperialistischer Moralphilosophie hofft Walzer zugleich auf Europa: »Als alter linker Internationalist sehne ich mich nach anderen Akteuren. Europa muß endlich seine Verantwortung für den Zustand der Welt mit übernehmen und bereit sein, Macht auch außerhalb seiner Mauern auszuüben, wenn dies nötig ist.« Mißt man solche Argumentationen am bürgerlichen Rechtsgedanken, auf den sich die US-Hegemonie zeitweise erfolgreich berufen konnte, so wird deutlich, daß der Rückfall in bloß moralische Legitimationsmuster, der zudem manifeste Völkerrechtsbrüche wie den Krieg gegen den Irak flankierte, keineswegs als ein geeignetes Mittel erscheint, einen langfristigen Konsens zu organisieren. Daß Imperialismus, auf welche Moral auch immer er sich berufen mag, kein geeignetes Mittel ist, eine weitergehende Verrechtlichung der internationalen Politik – geschweige denn demokratisch ausgewiesene internationale Verhältnisse – zu befördern, dürfte bereits in den vergangenen Kapiteln deutlich geworden sein: Wo kapitalistisches Privateigentum sakrosankt ist und kapitalistische Zentrumsstaaten es von ihren ökonomischen und geopolitischen Interessen abhängig machen, ob sie sich an geltendes Recht halten oder nicht, wo zudem ein internationales Zivilrecht etabliert wird, das im Sinne eines »neuen Konstitutionalismus« Privatisierungszwänge und Marktliberalisierungen an den Bevölkerungen der Staaten im Zentrum wie der Peripherie vorbei implementiert, steht Imperialismus jeder weiteren Verrechtlichung, die diesen Namen verdient, im Weg. Nicht zuletzt dies ist der Ansatzpunkt für einen zeitgemäßen Antiimperialismus.

Fußnoten
  1. Rilling, Rainer, Risse im Empire, Berlin 2008, S. 38
  2. Braunthal, Julius, Geschichte der Internationale, Bd.1, Berlin/Bonn 1978, S. 313
  3. Gollwitzer, Heinz, Geschichte des weltpolitischen Denkens Bd.2, Göttingen 1982, S. 257
  4. ebd., S.256
  5. Unger, Frank, »Was denken sich die Amerikaner eigentlich dabei? – Allgemeines und Besonderes zum außenpolitischen Verhalten der USA«, in: Holmes, Amy/Salomon, David/Speckmann, Guido (Hg.), Imperial Djihad? Über Fundamentalismus, Schurkenstaaten und neue Kriege, Hamburg 2002, S. 39
  6. Habermas, Jürgen, Der gespaltene Westen, Frankfurt/Main 2004, S. 154
Frank Deppe/David Salomon/Ingar Solty, ­Imperialismus, PapyRossa Verlag (Reihe Basiswissen), Köln 2011, Pocketformat, 236 S., 9,90 Euro

* Aus: junge Welt, 10. März 2011


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