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Der Krieg gegen die Wahrheit

Von Vladimiro Giacché

Wahrheiten können sterben.
(George Steiner)

Sich mit dem Angriff auf die Wahrheit zu befassen, kann, je nach Standpunkt, für verfehlt oder für überflüssig gehalten werden. Wer der postmodernistischen Philosophie anhängt und daher schon im Begriff "Wahrheit" eine überwundene und tendenziell totalitäre philosophische Altlast sieht, wird es für falsch halten, sich diesem Problem zu widmen. Wer dagegen den Dingen dieser Welt aufmerksamer begegnet und den Eiertanz der USA und ihrer Knechte beim Versuch, Gründe für einen Angriff auf den Irak zu finden, verfolgt hat, wird es für überflüssig halten: denn selten sind Lügen so offenkundig gewesen wie in diesem Fall. Den einen könnten wir antworten, dass, wenn schon "die Wahrheit" nicht existiert, es doch zumindest Lügen gibt (das hatte auch Popper begriffen…). Den anderen sagen wir: Die Tücke des heutigen Angriffs auf die Wahrheit liegt genau darin, dass er sich, außer in extremen Fällen, nicht als schlichte Lüge präsentiert. Die Strategien des Angriffs auf die Wahrheit sind in der Regel weniger rüde. Auf den nächsten Seiten wird versucht, einige Beispiele für diese Strategien vorzustellen - sie können uns auch etwas über die Gesellschaft sagen, die sie produziert, und über das, was in dieser "falsch klingt".

Die verstümmelte Wahrheit

"Wir glauben nicht mehr daran", sagte Nietzsche, "dass Wahrheit noch Wahrheit bleibt, wenn man ihr die Schleier abzieht." Eine oft zitierte und oft missverstandene Behauptung. Auch wir wollen sie missverstehen und paraphrasieren sie so: Die Wahrheit ist keine Wahrheit mehr, wenn man sie ihres Kontexts beraubt, dessen, was "sie umgibt", im eigentlichen und übertragenen Sinn.

Ein Beispiel: In der zu einer Ikone des Irak-Kriegs gewordenen Bilderfolge vom Sturz der Saddam Hussein-Statue in Bagdad wurden die Einstellungen so gewählt, dass man nicht sehen konnte, dass der Platz praktisch leer war und sich die "feiernde Menge" auf wenige Dutzend Iraker beschränkte. In diesem Falle wird die Wahrheit durch den Bildausschnitt verstümmelt; er verhindert, dass der reale Raum, in dem ein Ereignis stattfindet, zu sehen ist, und deshalb wird eine falsche Vorstellung vermittelt.

Aber der Kontext ist nicht nur der Raum, der eine bestimmte Szene umgibt. Es sind auch die Umstände, unter denen ein Ereignis stattfindet, sowie sein Davor und Danach. Die Erwähnung dieser Umstände ist heute immer häufiger tabu. Wie Le Carré im Zusammenhang mit den Anschlägen des 11. September beobachtet hat, "ist es, als ob wir in eine neue Orwellsche Welt eingetreten wären, in der unsere persönliche Zuverlässigkeit als Verbündete von unserem Hang abhängig gemacht wird, die Vergangenheit in die Ereignisse von heute einzubringen. Jeder Hinweis darauf, dass die jüngsten Attacken in einem historischen Kontext stehen, wird als ihre Rechtfertigung betrachtet." Doch untersuchen wir den formellen Aspekt dieses Verfahrens. Die Umwandlung von Prozessen in Momentbilder, die Aufmerksamkeit für die punktförmige Einzelheit zu Ungunsten des Kontexts, der Mythos des Anfangs, des Nochniedagewesenen, wo es doch einen Zusammenhang von determinierten Ereignissen gibt: all dies erlaubt, eine willkürliche Erzählung zu schaffen, in der es ein Ereignis gibt (den 11. September, oder die Geiselnahme in Ossetien), das nur der Kategorie des absoluten Horrors zugeordnet werden kann (also "losgelöst" ist von jedem Vorher und jeder erforschbaren Prozessualität). Ein Horror, der nicht erklärbar ist, es sei denn durch die Kategorie des Bösen. Und so funktioniert das Spiel: Verstümmelung der Wahrheit und Kriegspropaganda sind eins. So wird der Feind erschaffen: flüchtig und unbegreiflich (während begreifen eben heißt "ein Ereignis in seinem Zusammenhang betrachten").

Mythos des Nochniedagewesenen, Horror, Das Böse, Der Feind: Das sind die vier apokalyptischen Reiter von heute. Wir sehen sie auch im medialen Umgang mit der palästinensischen Tragödie am Werk. Der "unerklärliche" Horror der palästinensischen Selbstmordattentate wäre weit weniger unerklärlich, würden diese nicht jedes Mal als ein "neues Nochniedagewesenes" und als eine Neuauflage des unsagbaren "Horrors" betrachtet, sondern in den Kontext von Demütigung. Elend und Tod gestellt, die das Leben der Palästinenser in den von Israel besetzten Gebieten charakterisieren. Nebenbei, oder auch nicht ganz nebenbei bemerkt, ist es interessant zu beobachten, dass die "Tempelherrn des Nochniedagewesenen" sich nie an die Umstände des ersten Selbstmordanschlags auf israelischem Gebiet erinnern wollen: er fand am 4. April 1994 statt, 40 Tage nach dem Massaker von Hebron, bei dem Baruch Goldstein 29 Muslime beim Gebet mit einem MG getötet hatte.

Aber im Grunde genommen ist, wie der Historiker Enzo Collotti bemerkt, auch die schändliche Schaffung eines "Gedenktags" für die sogenannten "Märtyrer der Foibe" [1] lediglich dadurch möglich geworden, dass "für die Protagonisten solcher Aktionen die Geschichte erst 1945 beginnt". Und tatsächlich sind die Razzien, das Niederbrennen ganzer Dörfer, die Folterungen, die Massenhinrichtungen in Jugoslawien durch die Faschisten unter dem Kommando des Generals Mario Robotti völlig aus der Diskussion verschwunden. Und dabei hat doch schon in den 80er Jahren ein Film der BBC gezeigt, welcher Gräuel sich die Truppen des faschistischen Italiens in Jugoslawien schuldig gemacht hatten.

Die vergessene Wahrheit

Das Spektakel sorgt virtuos für die Unkenntnis dessen was folgt, und sofort danach für das Vergessen dessen, was wir trotzdem erfahren konnten.
(Guy Debord, Commentari sulla societŕ dello spettacolo, 1988, § VI)

Napoleon war der erste, der ausdrücklich von dem Vorhaben sprach, "die Kraft der Erinnerung monarchisch zu lenken", und der vorschlug, die Geschichte als instrumentum regni zu nutzen. Die entwickeltste Realisierung dieses Vorhabens stellt heute, auf eine nur scheinbar paradoxe Weise, die Negation und Destruktion der Vergangenheit dar. Im Kern geht es dabei um die Negation der Vergangenheit als einer in gewisser Weise "objektiven" Realität, einer Realität, die durch ihre Darstellung nicht beliebig formbar ist.

Es triumphiert die "Plastilin-" oder "Disneyland-Geschichte". Sie erfüllt eine dreifach apologetische Funktion. Die erste und zugleich jene, die mit der napoleonischen "monarchischen Geschichte" formell am engsten zusammenhängt, besteht darin, in der Geschichte die Bestätigung des Bilds zu suchen, das die heutige Gesellschaft (genauer, ihre herrschenden Klassen) von sich selbst und ihrer eigenen "Überlegenheit" geben möchte. Auch aus der Vergangenheit wird das gelöscht - oder als "Abfall" behandelt -, was täglich aus der eigenen Wirklichkeit entfernt wird: vor allem die Widersprüche und Konflikte.

Zugleich lässt man aus der Darstellung der Vergangenheit das "ewig Menschliche" hervorgehen, gebildet aus elementaren Leidenschaften und Gegensatzpaaren des Feuilletons: Hass/Liebe, Güte/Niedertracht etc.; aber auch aus Haltungen, die "allgemein menschlich" sein sollen und die nichts anderes sind als bürgerlich domestiziert und "politisch korrekt" (Toleranz [aber nur bis zu einem bestimmten Punkt…]; Liebe zur Gerechtigkeit, zur Arbeitsamkeit und zur gesellschaftlichen Ordnung usw.). Die solcherart neu erfundene Geschichte ist die ewige Wiederkehr des immer Gleichen. Eine, könnte man sagen, wesentlich antigeschichtliche Geschichte. Und genau darin lässt sich die dritte und entscheidende apologetische Funktion dieser Geschichtsdarstellungen ausmachen: sie besteht in der Zerstörung der Wirklichkeit des Vergangenen, soweit es Züge aufweist, die sich nicht in zeitgenössische Klischees übersetzen lassen.

Dies betrifft die entferntere Vergangenheit. Was die jüngste Vergangenheit angeht, ist es nicht immer möglich, sich so billig aus der Affäre zu ziehen. Und deshalb wird zu einer anderen Strategie gegriffen, die zwei komplementäre Züge trägt. Einerseits propagieren friedliche Intellektuelle - die vermutlich besonders friedlich sind, da sie ehemals Vertreter von Potere Operaio [2] waren, wie Paolo Mieli - die "Strategie des Vergessens" und der "Versöhnung". Auch gegenüber den Verbrechen Pinochets in Chile und Videlas in Argentinien. Mieli: "Ich meine, auch wenn mich die Taten Pinochets und Videlas anwidern, dass eine gewisse Dosis von Vergessen unentbehrlich ist, wenn Länder, die einen Bürgerkrieg hinter sich haben, wieder ins Gleichgewicht gebracht werden sollen" (Corriere della sera, 8.9.2003). Man achte auf das Feingefühl, mit dem Mieli statt von "brutaler Diktatur" von "Bürgerkrieg" spricht! Es handelt sich dabei um einen wesentlichen Aspekt der "Strategie des Vergessens": es will die Opfer und ihre Peiniger, Ermordete und Mörder verbrüdern in einer einzige Geschichte, in der Recht und Unrecht nicht mehr zu unterscheiden sind.

Tatsächlich fand zur selben Zeit, da Mieli sie propagierte, die "Strategie des Vergessens" einen illustren Adepten in Person des Sohns von Pinochet: "Chile muss vergessen, es würde nichts nützen, wenn mein Vater sich entschuldigen würde" (la Stampa, 11.9.2003). Dass der Sohn eines blutigen Diktators und Räubers so denkt, lässt sich verstehen. Wir aber bevorzugen den entgegengesetzten Standpunkt, wie er sogar in einem Editorial der International Herald Tribune zum Jahrestag des chilenischen 11. September bezogen wurde: eine wirkliche "Versöhnung" ist unmöglich auf der Grundlage des Vergessens: "Versöhnung verlangt das genaue Gegenteil… Eine wirkliche Versöhnung erwächst aus dem, was der Schuldige zu vermeiden sucht: volle Information, Entschädigung für das erlittene Unrecht und Gerechtigkeit."

In Italien werden diese einfachen Wahrheiten munter ignoriert. Bis hin zum Grotesken: So berief sich der Bürgermeister von Piana degli Albanesi, Gaetano Caramanno (von der Forza Italia) auf "Versöhnung", um den Plan zu rechtfertigen, eine Kirche am Ort des Blutbads von Portella delle Ginestre zu errichten, wo der Bandit Salvatore Giuliano 1947 kommunistische und sozialistische Tagelöhner mit einer MG-Garbe massakriert hatte. Fragt man sich da nicht zurecht perplex: "Was heißt hier Versöhnung? Unsere Opfer wurden von der Mafia getötet, müssen wir uns mit der Mafia versöhnen?" Doch genau dies ist es, was die Losung "Versöhnung" will: das Unrecht soll auch im Gedächtnis siegreich bleiben, die Symbole vergangener Kämpfe, die Erinnerung an sie, an die Toten, an die Verbrechen sollen getilgt werden.

Dass dies das wahre Ziel auch der Aufrufe zur "Versöhnung zwischen Faschisten und Antifaschisten" ist, davon spricht die andere Seite der Strategie zur Beherrschung des Erinnerns, die in den letzten Jahren angewandt wurde: es geht um die (direkte oder indirekte) Rehabilitierung des Faschismus und seiner Symbole. Die den Antifaschisten vorgeschlagenen Strategie des Vergessens wird deshalb, gegenüber der öffentlichen Meinung, ergänzt durch eine Strategie der Verfälschung. Der Partisanenkampf wird verleumdet; es wimmelt von Straßen, die Giorgio Almirante [3] und den verschiedensten faschistischen Funktionären gewidmet sind; faschistische Veteranen des Spanienkriegs demonstrieren ungestraft mit dem römischen Gruß vor dem Altar des Vaterlands (begleitet von einem Abgeordneten der Alleanza Nazionale); und zur Krönung des Ganzen haben wir einen Ministerpräsidenten, der sich in der Rehabilitierung des Faschismus gefällt, das Andenken der eingekerkerten und ermordeten Regimegegner verhöhnt und die Zuschüsse für die Vereinigungen, die die Erinnerung an den Partisanenkampf lebendig erhalten, zusammenstreicht (- 55 % in 2004, nach einer Kürzung um 10 % schon zuvor). Benjamin hatte recht: "Auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein. Und dieser Feind hat zu siegen nicht aufgehört."

Die inszenierte Wahrheit

Was wir suchen ist nicht die Wahrheit, sondern die Wirkung.
(Joseph Goebbels)

Haben wir den Krieg nicht faszinierend gemacht? - Er erinnert mich sehr an den Super Bowl.
(Gespräch zwischen dem Leiter des US-amerikanischen Fernsehsenders MSNBC Lester Holt und dem Ringer Jesse Ventura, 26. März 2003)

Dass die Wahrheit heute inszeniert wird, ist in mehr als einem Sinne wahr. Es ist vor allem wahr insofern, als die Ereignisse entsprechend ihrer medialen Repräsentanz und Projektion organisiert werden. So wurde der US-Luftangriff auf Libyen von 1986 so gelegt, dass er mit den wichtigsten Fernsehnachrichtensendungen zusammenfiel. Aber auch der Anschlag auf die "Zwillingstürme" war so angelegt, dass ihm die maximale Medienbeachtung sicher war: in solchem Maße, dass man annehmen konnte, der Anschlag sei in allererster Linie mit Blick auf "seinen spektakulären Effekt" durchgeführt worden (S. Zizek). Und das Attentat auf den Irak-Beauftragten der UNO, Collor die Mella, wurde während einer seiner Pressekonferenzen verübt. Denken wir schließlich an die Geiselnahmen im Irak, mit Filmberichten, die so gedreht und verbreitet werden, dass sie in den Zielländern maximalen Eindruck machen. In all diesen Fällen ist, mit Derrida gesprochen, "die mediale Theatralisierung integraler Teil des Ereignisses und bestimmt es wesentlich mit".

Aber auch wahr ist, dass wichtige politische Ereignisse heute als ein Spektakel inszeniert werden. Man denkt sicher sofort an die conventions der US-Parteien. Aber sie sind nicht das charakteristischste Beispiel: denn in diesem Fall präsentiert sich die theatralische Inszenierung als ein Schauspiel - und deshalb fehlt ihr, da sie ihr Wesen als konstruiertes Spektakel nicht verhüllt, bis zu einem bestimmten Grad das Ziel. Wir müssen uns auf anderes beziehen. Beispielsweise auf den Auftritt Colin Powells vor dem UNO-Sicherheitsrat mit der Vorstellung der berühmten "Ampulle chemischer Waffen Saddams". In diesem Fall könnte eingewendet werden, es habe sich dabei um ein nur halb gelungenes Spektakel gehandelt, da Powells Vortrag ja nahezu keinen seiner Kollegen in der UN überzeugen konnte. Aber die Wirkung auf die öffentliche Meinung in den USA war eine ganz andere - und sie war im Grunde der wirkliche Adressat der Ansprache. Hieran lässt sich nebenbei beobachten, wie die Regeln der Kommunikation in Form des Spektakels zu einer charakteristischen Verzerrung des Ereignisses führen: seine originären Adressaten (in diesem Fall der Sicherheitsrat) sind nicht die wirklichen Adressaten und werden deshalb selbst Akteure und Teil eines Schauspiels, das sich in Wirklichkeit an das wendet, was einmal "öffentliche Meinung" hieß und was heute die "Bürger-Zuschauer" sind. Dasselbe gilt für die vom Fernsehen übertragenen Debatten unseres Parlaments.

Ein noch eklatanteres Beispiel von Politik-Spektakel war die Landung des von Bush jr. gesteuerten Jets auf dem Flugzeugträger Lincoln und die anschließende Rede des US-Präsidenten. Einige Einzelheiten dabei sind besonders aufschlussreich. Um zu vermeiden, dass das Schiff vor der Übertragung der Fernsehnachrichten im Hafen einläuft, ließ man den Flugzeugträger 49 km die Küste von San Diego entlangbummeln; er brauchte daher für eine Entfernung, die in einer Stunde hätte zurückgelegt werden können, 20 Stunden. Die Geschwindigkeit des Schiffs wurde so gedrosselt, dass das Geräusch des Seewinds die Rede Bushs nicht stören konnte. Und das Schiff wurde so positioniert, dass die bereits nahe Küste nicht ins Blickfeld der Fernsehkameras geriet.

Der Fernsehkritiker der Washington Post, Tom Sales, konnte deshalb mit Recht feststellen: "Dies ist nicht nur eine Rede, sondern ein patriotisches Spektakel; das Schiff und seine Mannschaft geben die für Bushs Worte wesentliche Szenerie ab - genau das, was es braucht, um das amerikanische Publikum zu erfreuen und die dramatische Rolle Bushs als Oberkommandierender herauszustreichen." Wie die kursivierten Wörter verdeutlichen, ist es keine Metapher, wenn hier von einem "Schauspiel" gesprochen wird, sondern die sehr genaue Definition des Vorgefallenen. Für den amerikanischen Fernsehzuschauer aber war das, was er da bei CNN auf dem Bildschirm sah, kein Schauspiel, sondern eine vom Fernsehen aufgenommene Rede des Präsidenten.

Schließlich gibt es im direkten Sinn inszenierte Geschehnisse, die regelrechten Inszenierungen. Die ganze Geschichte des sogenannten "Kriegs gegen den Terrorismus" ist übersät von derartigen Fällen. Es genügt, an die sogenannte "schmutzige Bombe" des José Padilla zu erinnern, die vom US-Justizminister Ashcroft im Juni 2002 mit großem Pomp inszeniert wurde. Die US-Regierung steckte damals in großen Schwierigkeiten wegen der unaufhörlichen Enthüllungen über das "Versagen" der Geheimdienste in Bezug auf den 11. September. Die "schmutzige Bombe" fand ein enormes Echo (und verdiente sich u.a. sogar eine Titelseite des Economist, die als Modell für medialen Terrorismus gelten kann: das Gesicht Padillas vor dem Hintergrund eines Atompilzes). Heute wissen wir, dass alle Anschuldigungen gegenstandslos waren (ohne dass diesem Umstand eine Titelseite des Economist gegolten hätte), und der Fall Padilla ist vor allem peinlich für die US-Regierung. Aber der Vorzug der Aktion, die Aufmerksamkeit abgelenkt zu haben von Themen, die noch sehr viel peinlicher gewesen wären, ist unschätzbar, und führt per saldo zu einer absolut positiven Bilanz für die Regierung der Vereinigten Staaten.

Die andere Seite der Inszenierung ist nämlich genau das, was sich hinter der Szene abspielt. Bedeutend an der Positionierung eines Scheinwerfers ist oft nicht das, was er erhellt, sondern was er im Dunkeln lässt. Einer laut verkündeten und inszenierten Wahrheit entspricht immer eine verschwiegene und verdrängte Wahrheit.

Die verdrängte Wahrheit

Wenn wir wirklich die Rolle der Bilder in der Welt von heute begreifen wollten, müssten wir eine Liste dessen erstellen, was uns nicht gezeigt wird.
(M. Augé, Immagini di guerra, una nuova pornografia. Interviewt von G. Durante, il manifesto, 5.6.2004)

Die Verdrängung der Wahrheit hat zuweilen wirklich nichts Metaphorisches an sich. Beispielsweise hat die Inszenierung der Olympischen Spiele 2004 in Griechenland die Tötung von Hunderten herrenloser Hunde und die Deportation eines Großteils der 11.000 Obdachlosen erfordert, die in Athen lebten; darüber hinaus hat Griechenland im ersten Halbjahr 2004 13.700 Immigranten festgenommen und über 6.000 von ihnen ausgewiesen. Offenkundig aber werden diese Spiele in der Erinnerung von Milliarden Fernsehzuschauern geprägt bleiben von den glänzenden Bildern der Eröffnungs- und Abschlussveranstaltungen. Bei uns laufen die Dinge nicht besser, wie etwa die Anordnung des Bürgermeisters von Vicenza verdeutlicht, die Bettlern den Zugang zum Stadtzentrum verbietet. In beiden Fällen werden die "Behinderung" und das "Unbehagen" von Bürgern und Touristen auf die schnellste Weise behoben: nicht die Ursache des Unbehagens, sein Anblick wird verdrängt.

Wer erinnerte sich in diesem Zusammenhang nicht daran, dass die erste Reaktion Rumsfelds nach dem Bekanntwerden des Folterskandals im Irak war … den Soldaten die Benutzung von Digitalkameras zu verbieten! Wohlwollend geurteilt, könnte man von einer "Symptombehandlung" sprechen; in Wirklichkeit aber haben wir es mit einer "Verdrängung" zu tun, auch im Freudschen Sinne des Worts - und Verdrängung nützt bekanntlich nichts bei Neurosen. Verdrängte Wahrheit meint negierte Wahrheit. Im Grunde handelt es sich um dieselbe Haltung, die in dem berühmten Satz Golda Meirs vom 15. Juni 1969 Ausdruck fand: "Palästinenser gibt es nicht, hat es nie gegeben." Diese Haltung inspiriert die ganze israelische Politik - mit dem Ergebnis, dass einige Palästinenser zu ziemlich geräuschvollen und blutigen Methoden greifen, um ihre Existenz zu beweisen.

Die Wahrheit kann schließlich verhüllt werden, und auch dies in einem ganz und gar nicht metaphorischen Sinne. So im Falle des großen Wandteppichs mit der Wiedergabe von Picassos Gemälde "Guernica", der im ersten Stock des UNO-Gebäudes in New York hängt. Der Wandteppich wurde aus Anlass des Plädoyers von Colin Powell für den Irakkrieg mit einem dunklen Tuch bedeckt. Mit dem Resultat, dass die Ungeheuerlichkeit dessen, was da geschah, noch stärker hervortrat. Und hat besser als alles andere die Welt über die authentische Bedeutung des Kriegs informiert, den man vorbereitete: wie in Guernica sollten die Zivilbevölkerung bombardiert und Tausende wehrloser Menschen ermordet werden.

Die verkehrte Wahrheit

Es gehört zum Mechanismus der Herrschaft, die Erkenntnis des Leidens, das sie produziert, zu verbieten ...
(Th. Adorno, Minima Moralia, 1944, § 38)

Wie wir gesehen haben, wirft die bloße Verdrängung der Wahrheit das Problem auf, dass diese Haltung sich leicht gegen denjenigen wenden kann, der sie praktiziert. Dies ist ganz klar im extremsten Fall: dem der Zensur. Die Zensur - falls sie entdeckt wird - enthüllt über den, der zensiert, weit wichtigere und bezeichnendere Dinge als jene, die die zensurierte Mitteilung enthüllt hätte. So wurde dadurch, dass die USA im Dezember 2002 einen wesentlichen Teil des Berichts der UNO-Inspektoren im Irak an die Vereinten Nationen buchstäblich verschwinden ließen, die Verstrickung amerikanischer Unternehmen in Geschäfte mit Saddam Hussein auf die schlagendste Weise bewiesen.

Aber man kann auch ohne Zensurierung einer Mitteilung auskommen: indem man sich damit "begnügt", sie zu verdrehen. Das kann bis zur völligen Verkehrung der Wahrheit gehen. Dies ist eine jener Funktionen, die die Presse mit besonderem Eifer in Kriegszeiten erfüllt: davon zeugt - was den 1. Weltkrieg betrifft - fast jede Seite von Karl Kraus' "Die letzten Tage der Menschheit". Auch neunzig Jahre später scheint sich nicht sehr viel verändert zu haben, wie die folgenden beiden Überschriften zeigen, die ich aufs Geratewohl Zeitungen von 2002 entnommen habe:
  1. Die Financial Times vom 23. September 2002 betitelte einen Artikel auf der ersten Seite: "US in pledge to rebuild Iraq" (USA verpflichten sich, den Irak wieder aufzubauen). Der Artikel, der ein Interview mit Condoleeza Rice zusammenfasst, ist der Notwendigkeit eines Kriegs gegen den Irak gewidmet. An dessen Ende, verspricht Rice, werden sich die USA um den Wiederaufbau des Landes kümmern [nachdem sie es zuvor durch den Krieg zerstört hatten…]. Der Titel gibt also nur den letzten Teil des "Gedankengangs" von Rice wieder. Wer den Krieg will, wird so zu jemandem, der wiederaufbauen will.
  2. Il Sole 24 ore (die Zeitung des italienischen Unternehmerverbandes) vom 12. Oktober 2002 brachte die Schlagzeile "Saddam bereitet eine neue Umweltkatastrophe vor"; Aufhänger: "Der Diktator wäre bereit, die irakischen Ölquellen in Brand zu stecken". Im Artikel kann man dann lesen, dass Saddam, im Fall eines amerikanischen Angriffs auf den Irak, entscheiden könnte, die eigenen Ölquellen anzuzünden. Der Angegriffene wird so zu dem gemacht, der droht. Die Schlagzeile nimmt damit, auf sozusagen niedrigerer Stufe, die grundlegende Verkehrung der Wahrheit auf, auf der der ganze Krieg gegen den Irak beruht hat: nämlich die, dass der Aggressor sich in Wirklichkeit, mittels eines "Präventivkrieges", gegen den Angegriffenen verteidigt habe. Auf dieser betrügerischen Verkehrung der Rollen war zu einem Großteil das Spiel der wirklichen Aggressoren aufgebaut.
In solchen Überschriften wird, manchmal in fast paradoxem Maße, nicht nur die Wahrheit, sondern auch der Inhalt der Artikel verkehrt, auf die sie sich beziehen. Aber es gibt auch Fälle, in denen die Überschrift die im Text schon enthaltene Verzerrung nur betont. Ein Beispiel soll genügen. Am 7. April 2003 ging ein Reuters-Foto um die Welt: Es zeigte einen 12-jährigen irakischen Jungen, Alě Ismail Abbas, der bei einem Luftangriff, in dem seine 16-köpfige Familie ausgelöscht wurde, beide Arme verlor. Das Foto, eine der leidenschaftlichsten Anklagen gegen die angloamerikanische Aggression, wurde von Tageszeitungen in aller Welt groß herausgebracht. Die (linksliberale) Tageszeitung La Repubblica dagegen veröffentlichte es nur in stark verkleinertem Format. Viel größeres Gewicht wurde in dieser Zeitung am 14. Oktober 2003 auf einen Artikel Enrico Franceschinis gelegt, der den überraschenden Titel trug "Alěs gewonnener Krieg". Der "Sieg" Alěs soll darin bestehen, dass er im Londoner Queen's Mary Hospital Prothesen bekommen hat.

Der Artikel kargt nicht mit Einzelheiten darüber, dass die Spezialisten des Krankenhauses "eigens für ihn zwei Arme geschaffen haben, die sich beugen, sich öffnen, sich schließen lassen, und die es ermöglichen, mittels elektronischer Impulse die Hände zu bewegen, um auch diese benutzen zu können"; er erzählt auch von den 350.000 Pfund, die unter den Lesern des Daily Mirror gesammelt wurden, dem Boulevardblatt der britischen Hauptstadt, das "die Exklusivrechte an der Geschichte des irakischen Waisenkindes ohne Eltern und ohne Arme erhalten hat" (und dessen Artikel der "Journalist" der Repubblica demnach nur übersetzt hat); und er informiert uns schließlich darüber, und das ist gewiss das rührendste Stück der ganzen Geschichte, dass Alě "jetzt englisch lernt und sich für Fußball begeistert", und zwar so sehr, dass "er ein Tattoo von Manchester United auf einem seiner beiden künstlichen Arme hat". Gewiss, so lässt uns Franceschini in einem Anfall von Realismus wissen, "es ist nicht genau das, was man eine Geschichte mit Happy End nennt. Aber es ist ein Beweis, dass die Menschen, wenn sie nur wollen, die Leiden ihrer Mitmenschen lindern können."

Wir haben aus diesem schändlichen Artikel so ausführlich zitiert, weil er beweist, wie man Tatsachen solange zurechtbiegen kann, bis sich aus ihnen eine Moral ergibt, die derjenigen, welche jeder denkfähige Mensch aus ihnen ziehen würde, direkt entgegengesetzt ist. Die hier dargestellten Methoden einer Verdrehung der Wahrheit sind weit einfacher zu handhaben als ihre platte Unterdrückung. Es ist nicht nötig, so zu tun, als ob die Wahrheit nicht existiert. Es reicht, ihr ein anderes Gesicht zu geben.

Die geschönte Wahrheit

Die Vereinigten Staaten setzen sich ein für die weltweite Beseitigung der Folter, und wir führen diesen Kampf mit unserem Beispiel.
(George W. Bush, Juni 2003)

Mein bisheriger Eindruck ist, dass es bei den Beschuldigungen um "Misshandlungen" geht, und die sind, meine ich, eigentlich etwas anderes als "Folter".
(D. Rumsfeld vor der Kommission des US-Kongresses zu den Folterungen von Abu Ghraib, Mai 2004)

Es gibt es unterschiedliche Weisen, der Wirklichkeit ein anderes Gesicht zu geben. Man kann es mit der Faust bearbeiten, wie in den vorigen Beispielen, oder man kann sich damit begnügen, etwas Schminke aufzutragen, um es weniger hässlich erscheinen zu lassen, als es ist. Aber wie lässt sich die Wahrheit verschönen? Das Hauptmittel dazu ist der Euphemismus. Die meisten Euphemismen bestehen in einer einfachen besänftigenden Umformulierung, durch die das beschriebene Phänomen gezähmt und sozusagen unschädlich gemacht wird, keine feindlichen Reaktionen (Empörung, Protest etc.) mehr hervorrufen kann.

Das bevorzugte Gebiet der Anwendung von Euphemismen ist der Krieg. Die Zahl der Euphemismen, die in diesem Zusammenhang angewandt werden, ist beträchtlich; oft wurden sie in den 1990er Jahren erfunden (und mit wachsender Häufigkeit eingesetzt). Die gebräuchlichsten: "internationale Polizeioperation"; "Militäraktion" (noch besser eine "der Vereinten Nationen"), und dann ein Klassiker wie "Gewalt". Aus einem Interview mit Fassino, dem Sekretär der Linksdemokraten: "Wir sind Teil der Friedensbewegung, die sich aus unterschiedlichen Kulturen und Gefühlen speist. Auch was die Frage des Einsatzes von Gewalt angeht. Um offen zu sein: Ich habe die größte Achtung für alle, die den Einsatz von Gewalt a priori ablehnen, doch dreißig Jahre Politik haben mich gelehrt, dass es Situationen gibt, in denen die Politik gezwungen sein kann, auf Gewalt als äußerstes Mittel zurückzugreifen" (il manifesto, 27. Februar 2004)

Die Euphemismen für den Krieg sind damit nicht erschöpft: wir haben auch "Regimewechsel" (was "militärische Invasion" meint), "präventive Verteidigung" und "Präventivschlag" (die für "ein Land angreifen, das uns nicht angegriffen hat" stehen). Doch im Fall des Krieges ist inzwischen sogar das Tabu gefallen, das auf dem Gebrauch dieses Wortes lag, und der Euphemismus nimmt die Form der näheren Bestimmung des Wortes "Krieg" an: so haben wir den "Krieg gegen den Terrorismus", wie wir zuvor den "humanitären Krieg" hatten; mit der bezeichnenden Neuerung, dass der "Krieg gegen den Terrorismus" ausdrücklich auch als ein "endloser Krieg" definiert wird.

Schließlich hatte Bush jr. die Frechheit zu behaupten, dass "der Krieg im Irak wirklich ein Krieg für den Frieden" sei (Rede vom 11. April 2004). Das ist Orwell: "Krieg ist Frieden" ist eins der Beispiele für Doppeldenken in seinem Roman "1984". Orwell hat sich um 20 Jahre vertan (und das wiegt nicht schwer), aber er glaubte vor allem, es mit dem "Kommunismus" zu tun zu bekommen, während dies doch genau der Zustand ist, an dem der reale Kapitalismus im Jahre 2004 angekommen ist!

Nicht immer sind Euphemismen erfolgreich: die Mauer, die Sharon baut, als "Schutzzaun" zu bezeichnen, wird z.B. von den meisten Menschen zumindest als verniedlichend empfunden für ein Bauwerk aus Stahlbeton, das mehrere Meter hoch und Hunderte von Kilometern lang ist. Hier wird eine Lücke sichtbar im Mechanismus der Schönung der Wahrheit: wenn die Umformulierung, die "Umstrukturierung" des Wirklichen sich zu sehr von diesem entfernt, verfehlt der Euphemismus seinen Zweck. Das kritische Denken kann diese Lücken nutzen, um das Lügengespinst zu zerreißen.

Die umgangene Wahrheit

Das neue Herangehen der USA an die soziale Kontrolle … besteht weniger in der Kontrolle dessen, was wir denken, als in der Kontrolle dessen, woran wir denken.
(Brian Eno, Lessons on how to lie about Iraq, in: The Guardian, 25.8.2003)

Weiter oben haben wir gesehen, dass die inszenierte Wahrheit ihr notwendiges Doppel in der unterdrückten, aus dem Scheinwerferlicht verdrängten Wahrheit hat. Die Verdrängung erfordert aber Mühe, kann negative Reaktionen herausfordern, kann ein blutiger Akt sein und insofern auf Widerstand stoßen. Und im Grunde ist sie heute nicht einmal so sehr nötig. Denn wir befinden uns bereits in einem weiteren Stadium: jenem, in dem die Wahrheit mühelos umgangen, einfach ignoriert werden kann.

Wenn das ideologische Gerede triumphiert und seine Rangordnung der Probleme (oder Pseudoprobleme) durchsetzt; wenn die mediale Information sich reduziert auf Unterhaltung, Geschwätz und Lärm, die im Grunde einzig dazu dienen, den Konsum anzuheizen; wenn die politische Agenda brutal verfälscht wird, indem man den Allzweckpopanz des "Kriegs gegen den Terrorismus" auf die Bühne holt und die entscheidenden sozialen und Umweltprobleme unter den Teppich kehrt - wenn all dies geschieht, wenn dieser Gewaltakt gelingt, dann braucht man der Wahrheit keine Gewalt mehr antun: sie lässt sich - aus dem simplen Grund, dass die Leute an andres denken - einfach umgehen.

"Alle reden vom Wetter. Wir nicht." So war auf einem der schönsten Plakate zu lesen, das die westdeutsche Studentenbewegung hervorgebracht hat. Das "Wir" bezog sich auf Marx, Engels und Lenin, die auf dem Plakat im Stil des realen Sozialismus chinesischer Machart dargestellt waren (mit stilisiertem Profil vor rotem Grund); und es bezog sich auf den Sozialistischen Deutschen Studentenbund, der damit einen etwas älteren Werbespruch der Deutschen Bundesbahn aufgriff. Eine Losung, die Ernsthaftigkeit der Belanglosigkeit, Inhalt der Leere, Wesentliches dem Unwesentlichen, Radikalität der Oberflächlichkeit entgegengestellte. Ein Meisterstück an Kommunikation. Eben deshalb, weil es auf etwas hinter und unter der unmittelbaren Mitteilung verwies: auf ein politisches und gesellschaftliches Projekt, das eine Alternative zum "Stand der gegenwärtigen Dinge" darstellt.

Zur Niederlage dieses Projekts des Andersseins ist wenig hinzuzufügen - wir müssen sie zur Kenntnis nehmen. Doch wenden wir uns dem pars destruens des Plakats zu: jenem "Alle reden vom Wetter", das wie eine endgültiges Verdammungsurteil gegen das übliche Gerede über die kapitalistische Gesellschaft und ihre Probleme klingt (ein Gerede, dem nie in den Sinn kommt, die kapitalistische Gesellschaft selbst könnte das Problem sein). Dieses "Alle reden vom Wetter" heute wieder zu lesen, hat einen direkt verfremdenden Effekt. Denn gerade das "vom Wetter reden" gilt heute als höchste Tugend der kommunikativen Unterhaltung, die Mühelosigkeit, Leichtigkeit, Erträglichkeit, Annehmbarkeit auf ihre Fahnen geschrieben hat. Und das gilt für die Werbung (die den Archetyp unserer heutigen Kommunikation darstellt) ebenso wie für die "politische" Kommunikation - oder besser gesagt: für das advertising von Waren ebenso wie für das advertising von Kandidaten.

Um verständlich zu machen, worum es hier geht, ein aktuelles Beispiel politischer Kommunikation: das diesjährige Plakat für das nationale Pressefest der Unitŕ (Thema: "Popoli in cammino" - Völker auf dem Weg). Formal gesehen, handelt es sich um eine aktualisierende Wiederaufnahme des berühmten Gemäldes "Der Weg der Arbeiter oder Der vierte Stand" von Pellizza da Volpedo. Die im Original (nicht ohne rhetorisches Pathos) dargestellten Proletarier sind durch junge Leute in Sandalen ersetzt, ein junger Schwarzer (nur einer, in der ersten Reihe), ein paar junge Frauen (eine, in der ersten Reihe, trägt einen Säugling, der in eine Friedensfahne eingewickelt ist). Man glaubt, vor fröhlichen Ausflüglern zu stehen, die sich vielleicht zu einem Konzert aufmachen. Im Antlitz des jungen Schwarzen spiegelt sich nichts von der Mühsal des Lebens, die doch aus den Mienen der ausgebeuteten Immigranten spricht, die unsere Städte bevölkern. Und es fehlt alles, was auch nur eine der porträtierten Personen als arbeitenden Menschen ausweisen könnten. Das kann kaum überraschen. Seit vielen Jahren schon hat der "Bürger", in Wirklichkeit freilich der "Konsument", den Werktätigen, den Arbeiter als Bezugsperson nahezu aller politische Kräfte ersetzt. Wer heute in erster Linie auf die Probleme der arbeitenden Menschen eingeht, spricht deshalb oft davon, den "Unsichtbaren" Gesicht und Stimme wiedergeben zu wollen. Die allergrößte Lüge ist genau dies: das Ausweichen vor dem Thema der Arbeit und der Zentralität des Konflikts zwischen Arbeit und Kapital in unserer Gesellschaft. Der "Krieg gegen den Terrorismus" dient auch dazu.

"Alle reden vom Wetter": denn von anderem zu reden gehört sich nicht.

Anmerklungen
  1. Als "Märtyrer der Fóibe" bezeichnet die italienische Rechte jene Landsleute, die in der Endphase des 2. Weltkriegs und unmittelbar danach während der Besetzung des (zwischen Jugoslawien und Italien umstrittenen) Gebiets von Triest durch jugoslawische Partisanen Opfer von Repressalien wurden. - HK
  2. Potere Operaio ("Arbeitermacht") war eine linksradikale Gruppe, die im Italien der 70er Jahre eine gewisse Rolle spielte. - HK
  3. Almirante war ein hoher Funktionär schon der faschistischen, von den Nazis etablierten Marionetten-"Republik von Salň" und nach dem Krieg Vorsitzender des faschistischen MSI (heute in Alleanza Nazionale" umbenannt) - HK.
Aus dem Italienischen von Hermann Kopp.


Dieser Beitrag erscheint in: Marxistische Blätter, Heft 6, 2004

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