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Die schwierige Wahl der Feinde

Schon lange vor den Anschlägen des 11. September lebte der Westen im Kriegszustand - jetzt weiß er es auch

Von Moshe Zimmermann

Im Feuilleton der Frankfurter Rundschau erschien am 26. September 2001 ein Artikel des israelischen Historikers Moshe Zimmermann, in dem er sich die Frage stellt, was die Terroranschläge von New York und Washington mit der Situation im Nahen Osten zu tun haben könnten. Im Nahen Osten, wo ja bereits das herrscht, was viele nun für die globalen Verhältnisse für möglich halten: der permanente Kriegszustand. Wir dokumentieren die Gedanken Zimmermanns in gekürzter Form.

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Seit dem 11. September ist der Welt klar geworden, dass Kriegszustand herrscht. Nur weiß niemand so recht, wann dieser Krieg eigentlich begonnen hat, wie man diesen Krieg bezeichnen und wie man die sich gegenüberstehenden Lager bestimmen soll. In der Vergangenheit, so lehrt uns der Blick in die Geschichtsbücher, gab es Kriegserklärungen und der Krieg hatte einen Namen: konventioneller Krieg, Atomkrieg, Guerillakrieg und anderes mehr. Auch waren die Fronten klar abgesteckt: Entweder kämpften Staaten gegen Staaten oder Bündnisse gegeneinander - "die Achse", "die Alliierten".

Jetzt steht das Wort "Krieg" im Kontext eines undeutlichen Terrorbegriffes, und auch die Fronten sind nicht mehr klar: Wer ist "wir", und wer sind "die Anderen"? Und doch sind alle betroffen und beteiligt, auch wenn kaum einer weiß, wie mit diesem Krieg umzugehen ist. Mit anderen Worten: Die so oft gestellte Frage "Führt das zum Krieg?" beruht heute auf einem Missverständnis. Sie ist gleichsam anachronistisch geworden, denn man denkt dabei an den "guten alten", den konventionellen Krieg des 19. und 20. Jahrhunderts oder vielleicht an seinen späteren Überrest in Form des Golfkrieges von 1991. Davor hat man natürlich Angst.

Heute aber geht es um etwas anderes. Dieses andere ist jedoch schon da, und alle sind daran beteiligt. Im Nahen Osten hat man sich bereits seit einem Jahr dieser Problematik zu stellen. Als der Aufstand der Palästinenser im Herbst 2000 begann, sprach man zunächst von Intifada und von Terror. Nach und nach aber begann sich das Wort "Krieg" im Bewusstsein und in den Medien der Israelis zu verbreiten, parallel zu dem in der muslimischen Welt gebräuchlichen Begriff des Heiligen Krieges, dem "Dschihad".

Vor allem auf dem rechten Flügel der israelischen Politikszene ertönte der Ruf nach einem "ordentlichen" Krieg - als Beschreibung der Lage ebenso wie als operative Forderung. Der Kriegszustand erlaubt nämlich Maßnahmen, die während einer bloßen Intifada oder zu Zeiten von "Unruhen" nicht erlaubt wären. ...

Siedler unter Beschuss

Anfangs waren es nur die jüdischen Siedler in den besetzten Gebieten, die offen vom Krieg sprachen. ... Obwohl die Siedler sich immer stärker im Belagerungszustand befanden und das Militär zum "echten" Krieg aufrief - "Lasst das Militär siegen!" hieß die Parole -, konnte der Übergang zu dieser Phase von der Mehrheit der Israelis mental nicht nachvollzogen werden, trotz des spürbaren Rechtsrucks der öffentlichen Meinung.

Es konnte durchaus noch argumentiert werden, dass die Siedler den palästinensischen Griff zur Gewalt hätten in Kauf nehmen müssen, als sie sich seinerzeit für die Niederlassung innerhalb des palästinensischen Territoriums entschlossen hatten. Als sich dann aber Attentate in Israel selbst, also im Gebiet innerhalb der Grenzen vor 1967, häuften, war der Weg frei, um in der gesamten Bevölkerung den gegenwärtigen Zustand als Kriegszustand wahrzunehmen.

Man war bereit, die Auseinandersetzung mit den Palästinensern als regulären Krieg zu führen. Und wenn ein General vom Kaliber Ariel Sharons zum Ministerpräsidenten gewählt wird, dann ist dieser Übergang auch relativ unproblematisch. Da das Wort "Terror" durch die Selbstmordattentate zunehmend eine neue Qualität erhält, fällt die Bezeichnung des Kampfes gegen den Terror als Krieg und die pauschale Gleichsetzung "der Anderen" - hier der Palästinenser - mit Terroristen oder Barbaren wesentlich leichter.

... Für die Palästinenser wird die Auseinandersetzung immer mehr zum ultimativen, alles legitimierenden Heiligen Krieg ("Rettet die El-Aksa-Moschee!"). Mehr als 80 Prozent der Palästinenser befürworten die Selbstmordattentate gegen Israel. Zum anderen zeigt sich jedoch in Israel, wie unterschiedliche Mentalitäten oder Sozialisationsprozesse in eine explosive Sackgasse führen können. So verstehen Israelis nicht die Verzweiflung, die die Palästinenser nach so vielen Jahren der Unterdrückung motiviert. Und wenn die Palästinenser dagegen tatsächlich nur den Rückzug Israels aus den besetzen Gebieten erreichen wollen, kann ein Heiliger Krieg gegen Zivilisten in Israel nur zum Bumerang werden.

Für Amerikaner, aber auch für Europäer und Deutsche stellt sich diese Problematik erst nach dem 11. September in aller Schärfe. Amerika, das die Kunst der prägnanten Slogans und vereinfachten Formulierungen besonders pflegt, weiß nun: Jetzt herrscht Krieg, und die Feinde der Vereinigten Staaten beziehungsweise der freiheitlichen Welt sind die Barbaren. Diese nicht zufällige Wortwahl des US-Präsidenten George W. Bush vom 15. September führt zurück zu einer Weltvorstellung der Antike - Hellenen gegen Barbaren. ...

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Was Amerika und Europa, aber auch Israel angesichts des Palästinenseraufstandes nicht begreifen, ist die Verzweiflung und der Groll der anderen Seite. Außerhalb Europas und Amerikas besteht ein unkontrollierbarer Unmut gegen die amerikanische Hegemonie, vor allem in Ländern, die ihre ruhmreiche Vergangenheit mit einer kümmerlichen Gegenwart vergleichen müssen oder in Ländern, die ihre Kultur gegen den Übergriff einer anderen Kultur meinen schützen zu müssen, wie im Fall der arabisch-muslimischen Welt. Auch darf man nicht vergessen, dass Amerika selbst nach 1990 den Gegner und Feind vermisste. Der 11. September hat hier wieder Ordnung geschaffen. Es gibt klare Lager, und es gibt Krieg.

Nun verweist das israelisch-palästinensische Beispiel auf ein weiteres Problem. Im Krieg gegen den Terror braucht auch der Terrorbegriff klare Konturen. Terror ist ja nicht immer gegen den Staat, gegen das Establishment, gerichtet. Er wird bisweilen auch vom Staat gegen die von ihm als Feinde bezeichneten Gruppen eingesetzt. Zum Terror gegen das System greifen diejenigen, die keine Alternative oder innerhalb der bestehenden Ordnung anscheinend nichts zu verlieren haben.

Die Kriegserklärung an den Terror kann leicht zum Missbrauch des Begriffs "Terror" führen. Sie kann vom Versuch ablenken, die eigentlichen Probleme zu lösen. Der Krieg gegen den palästinensischen Terror ist - jenseits der unausweichlichen Bekämpfung der Selbstmordattentäter - auch der Krieg gegen einen vielleicht legitimen Widerstand der Palästinenser. Verdrängt wird das Unrecht, das den Palästinensern angetan wurde. So könnte auch der große Krieg der Vereinigten Staaten gegen den internationalen Terrorismus über sein Ziel hinausschießen. Der Kampf gegen die Globalisierung, soweit er im Namen der Unterprivilegierten geführt wird, hat ja im Kern manches richtige Argument, das eine Herausforderung darstellen könnte, über Veränderungen nachzudenken, ohne zu kriegerischen Handlungen zu greifen.

Damit sind wir wieder zum Begriff des Krieges zurückgekehrt: In Deutschland stellt man sich darunter so etwas wie den Zweiten Weltkrieg vor und hat Angst. Aber der Krieg in seiner postmodernen Form ist schon da. Als Teil der sich freiheitlich nennenden Welt muss man darüber nachdenken, welchen Charakter dieser Krieg erhalten darf und ob bei der Wahl der Feinde wirklich präzise genug vorgegangen wird. Hier Ariel Sharon nachzuahmen, wäre gefährlich.

* Moshe Zimmermann ist Professor für deutsche Geschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem.

Aus: Frankfurter Rundschau, 26. September 2001



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