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Nach Winnenden, vor ...

Der alltägliche Spreng-Stoff. Die Nervosität steigt

Von Hans-Dieter Schütt *

Vieles unterscheidet den Attentäter vom Amokläufer, und doch ist beides – die fundamentale Wucht des ideologisch motivierten Mordens und die tötende Besinnungslosigkeit des in die eigene Psyche abgestürzten Einzelnen – der Ausfluss eines Zusammenhangs.

»Die Wiederkehr des Menschenopfers« – so bezeichnet Hans Magnus Enzensberger das Charakteristikum der Zeit nach dem 11. September 2001. Diese Wiederkehr meint den Terrorismus und sein willkürlich zuschlagendes Regime, meint vor allem das neu »belebte« Mysterium jenes Menschen, der im Massaker zum Richter seiner selbst wird, der sich allem Ruf nach Untersuchung, Aufklärung, Prozess und Strafe in den Tod entzieht. Wir befinden uns in einem Krieg der Loslösung gegen die Lösung. Sich und andere wegschaffen – das ist der Sieg der Alternativlosigkeit gegen jede Form von Wahl, die lebend zu treffen und durchzuhalten wäre.

Längst scheint sich die Welt grob einzuteilen in Menschen, die trotz ihres Loses die Lust am Leben nicht verlieren wollen, und jenen, denen diese Lust abhanden kam. Nur noch die Tragweite der jeweiligen tödlichen Aktion, die Kraft der Logistik sowie der Zugriff aufs Waffenarsenal unterscheiden den Amokläufer vom politisch angetriebenen Attentäter. Ansonsten darf wohl verallgemeinert werden: Der Selbsterhaltungstrieb hat Anfang dieses Jahrtausends wieder an bindender Kraft verloren, die Lust am eigenen Untergang ist nämlich nicht mehr allein gekettet an ideologische Verblendungen, revolutionäre Opfermythen, religiöse Hingebung, wahnpolitische Ergebenheiten. Nicht mehr nur ethnische Märtyrer und programmatische Fanatiker greifen zum Spreng-Stoff. Lust an der eigenen Auslöschung, lange Zeit Signum von Rest-Archaik eines zählebigen »Mittelalters« irgendwo im Fernen, abseits der Moderne, griff auf den hoch entwickelten, nervösen Individualismus des Westens über.

Es muss wohl davon ausgegangen werden, dass in jedem missachteten Schüler ein Traum vom 11. September schlummern kann. In jedem gekündigten Mitarbeiter auch. Jeder höhere Turm in jeder Stadt liegt im Blickwinkel narzisstisch gekränkter, unglücklich liebender, karrieregeknickter, unverstandener Selbstmordkandidaten. Die vielleicht gestern noch nicht wussten, dass sie es heute sind.

Dass aber im Gegensatz zum stillen, nur sich selbst auslöschenden Täter vermehrt jener Mensch auftritt, der andere mit in den Tod reißt – es ist wohl Ausdruck für den Willen, im Massaker dem eigenen Ende eine letzte Legitimation und dramatische Beschleunigung zu geben. Wo es keine Freude ist, mit anderen zu leben, mag es eine letzte Lust sein, mit anderen zu sterben.

Dies zu wissen, hat uns mit etwas infiziert, das man als globalisierte Unsicherheit bezeichnen könnte (wo alles der Globalisierung unterworfen ist, macht die Angst keine Ausnahme). Diese Unsicherheit spüren wir inzwischen beim Betreten jedes Bahnhofes, jedes Restaurants, jedes Theaters. Oft nur für den minimalsten Bruchteil einer Sekunde und gegen unser Bewusstsein. Ertappen wir uns nicht manchmal schon bei einem instinktiven Misstrauen; übermalt unsere Fantasie nicht mitunter bereits andere (anders aussehende) Menschen irritiert und aufgestört mit böser Verdächtigung?

Täuschen wir uns nicht: Ein Politiker-Satz, unser Land stehe vor tief greifenden, bisher nicht da gewesenen Prüfungen und Reformen, die den Menschen sehr viel abverlangten – es ist auch die Ankündigung von politischen, sozialen Entscheidungen, in deren Folge unendlich viele Kränkungen, Einbußen, Ungerechtigkeiten, Neidgefühle, viel Hass, Ohnmacht, Ratlosigkeit, Zukunftsfurcht, Handlungsmüdigkeit, Resignation stehen werden.

Zusammenbrüche der großen Welt, hervorgerufen durch Marktfreiheit, Waffen, Computerviren, neuartige Seuchen, ökologische Kollapse, Bürgerkriege, mafiotische Verbrechen, bilden mit den sozialen, moralischen Erschütterungen kleiner Welten ein undurchdringliches Netz – in dem, um Leben nachzuweisen, offenbar nur noch gezappelt werden kann.

Noch einmal Enzensberger: Wer nur in Krisenzeiten nur die Wiederherstellung und den Ausbau wirtschaftlicher Dynamik im Auge habe, verstehe diesen irreversiblen Prozess nicht, der alle Systeme erfasse, jedes Leben einspanne und kostenpflichtig mache.

Canetti beschrieb Demokratie als Fähigkeit einer Gesellschaft, Druck auszugleichen. Druck, der freilich durch Demokratie erst entsteht, durchs freie Spiel der Kräfte nämlich, das jedem gefundenen Gleichgewicht stets neu in die Parade fährt. Demokratie ist jene einzige Möglichkeit, das ewige Scheitern einer besseren, aber eben unmöglichen Gesellschaft lebbar zu machen, in der die Gerechtigkeit so groß wäre wie die Freiheit. Wir aber scheinen in einer Welt zu leben, in der nur die Freiheit wächst, nicht mehr zu rechtkommen zu dürfen mit dem stetig wachsenden Druck der Verhältnisse.

Die Reaktionsbildungen auf diesen Weltzustand tragen mörderische Energien in sich, und die einst politisch aufbegehrende Masse hat sich aufgelöst in unendlich viele lebende Bomben, die dünnhäutig, mit einer unberechenbaren Reizschwelle versehen, neben uns gehen und auf einen Auflöser warten. Unsere Welt bevölkern zahllose globalisierte Endzuständler – deren Verzweiflungs-Tatendrang, vielleicht, auf eine grausame Initialzündung setzt.

* Aus: Neues Deutschland, 16. März 2009


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