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Nun wird also gebombt

Kommentare zum Terrorismus und zu den Kriegsvorbereitungen der USA - Johannes M. Becker, Vijay Prashad und Marc Urlen

Im Folgenden drei Texte, die sich mit den Folgen der Terroranschläge in den USA auseinandersetzen.

Die alten Politik-Strickmuster sind untauglich!

Von Johannes M. Becker*

Nun wird also gebombt. Und die US-Regierung erklärt ihrer Bevölkerung, damit den Terror stoppen zu können. 40 Milliarden US-$, das entspricht knapp den jährlichen Ausgaben der gesamten Erde für Entwicklungshilfe (!), hat der US-Senat für den "Krieg gegen das Böse auf der Welt" (Bush) zur Verfügung gestellt. Gleichzeitig wird in den Medien das quantitative Ausmaß der weltweit gewaltbereiten Kreise deutlich, nachdem in den USA schon die Verletzbarkeit unserer hochorganisierten Gesellschaften sichtbar geworden ist. Wie soll da das Bomben ein Problem lösen?

Abgesehen davon, dass bis heute keinerlei Beweise gegen den oder die Hintermänner oder -frauen der grauenhaften Anschläge vorliegen: Bomben, Krieg, Hass und nationale Hysterie werden die Gewaltbereitschaft nur weiter steigern.

Einfache, billige und rasche Lösungen gibt es nicht. Wie auch? Zu lange haben die reichen Länder der Erde die Verarmung eines stets wachsenden Teils der Erde hingenommen, gar forciert. Vielleicht aber löst das Grauen von New York und Washington auch strategisches Denken aus: Die einzige Lösung des Problems "internationaler Terrorismus" scheint zu liegen in der Zurkenntnisnahme seiner Ursachen sowie seines sozialen Umfeldes und in der Austrocknung dieses Umfeldes, d.h. in der Bekämpfung sozialer Mißstände.

Nehmen wir nur ein Beispiel: Gerne zeigen unsere Medien in den vergangenen Wochen Bilder zu extremer Gewalt bereiter Jugendlichen aus Palästina. Warum diese sich als "lebende Bomben" zur Verfügung stellen, bleibt dabei, von absurden religiös-spiritistischen Erklärungen abgesehen, im Unklaren. In der alltäglichen Realität sind die Lebensverhältnisse palästinensischer Jugendlicher bestimmt von Verelendung, Perspektivlosigkeit, Angst und Armut, von enormen Mißständen in der Gesundheits-, Bildungs- und Ausbildungsversorgung. Sie sind zudem - vielleicht das Schlimmste - bestimmt von der alltäglichen Demütigung ihrer Eltern. Der Staat Israel seinerseits betreibt und deckt die Siedlungspolitik auf palästinensischem Gebiet, er okkupiert weiter die seit 1967 besetzten Gebiete, er regiert täglich willkürlich in das Leben von Millionen Palästinensern hinein. Da ist der Nährboden für den Hass und die "lebenden Bomben"! Wie soll die Regierung Arafat im eigenen Lager glaubwürdig sein, wie soll sie auf Kreise, die in erster Linie ihre grauenvollen Lebensverhältnisse bis zum Terror radikalisiert haben, Einfluß nehmen können, wenn ihre Verhandlungspartner von Frieden reden, aber Krieg praktizieren? Und: Die Lebensverhältnisse in Palästina unterscheiden sich nur wenig von denen in den Elendsvierteln von Mexiko-City, von Algier, von Islamabad, von Kabul, von Johannesburg....

Fazit: Erniedrigung, Demütigung und Gewalt provozieren in sich neue Gewalt. Eine wirkliche Chance in der aktuellen Lage sehe ich nur, wenn wir dem Terror den sozialen Boden entziehen.

* PD Dr. Johannes M. Becker lehrt Politikwissenschaften an der Philipps-Universität Marburg


Krieg gegen den Planeten

Vijay Prashad*

George W. Bush, der Präsident der Vereinigten Staaten, erschien am 11. September auf den Fernsehschirmen der Welt und erklärte dem Planeten den Krieg. Nicht allein diejenigen würden gerichtet werden, die am Morgen die furchtbaren Verbrechen begangen hatten, erklärte er, sondern auch diejenigen, die diese beherbergten und weiterhin beherbergen.

Versorgungsschiffe sind unterwegs nach Diego Garcia im Indischen Ozean und Spanien. Ein erheblicher Teil der 40 Milliarden Dollar, die der US-Kongress bewilligt hat, wird in die Vorbereitungen fließen, mit denen die Institutionen des US-Militärs schon begonnen haben, in engem Kontakt mit den Verbündeten.

Die afghanischen Taliban beeilten sich zu bitten, dass die Leiden ihrer Armen nicht noch durch das Wüten von Cruise Missiles verstärkt würden. Das gleiche tat Libyens Gaddafi.

Andere, z.B. Pakistan, erklärten hastig ihre Unterstützung für US-Gegenschläge und versprachen, Flugzeuge über ihr Territorium fliegen zu lassen. Indien stand dem nicht viel nach, versprach die Beteiligung seines Landes bei dem, was vielleicht der größte Sturmangriff werden wird seit den Bombenangriffen auf Kambodscha und den Irak.

Ein Kommentator des US-Fernsehens klagte, die Vereinigten Staaten hätten am 9.11. um 8.45 Uhr ihre Unschuld verloren, als das erste Flugzeug in das World Trade Center einschlug.

Doch das war nicht der Beginn des Krieges. Dies war nicht Pearl Harbor. Der Krieg läuft schon eine ganze Zeit, mindestens seit fünfzig Jahren.

Tatsächlich unternahmen die Vereinigten Staaten vor fünfzig Jahren einen Angriff auf eine Reihe von Nationen, die sich von Libyen bis nach Afghanistan erstrecken, von denen die meisten über viel Erdöl verfügen und darum besonders bedeutend sind für den weltweiten Kapitalismus. Die zivilisatorische Mandatsherrschaft von Frankreich und England war beendet, als der Zweite Weltkrieg Europa verwüstet hatte, und den Vereinigten Staaten fiel das Erbe der "Bürde des weißen Mannes" zu. Dieses traten sie mit Freude an, meist im Interesse der "Sieben Schwestern", der größten Ölkonzerne der Welt (die meisten von ihnen sind transnationale Konzerne mit Sitz in den Vereinigten Staaten).

Allianzen, die mit den rechtsgerichteten Kräften in diesen Nationen geschmiedet wurden, begründeten den Pakt mit den USA, genau wie die UDSSR dies mit linksgerichteten Kräften tat. Die Vereinigten Staaten beteiligten sich an der Dezimierung der Linken in Nordafrika und Westasien, von der Zerschlagung der Ägyptischen Kommunistischen Partei, der größten in dieser Region, bis zum Aufbau solcher Leute wie Saddam Hussein, der die vitale Irakische Kommunistische Partei außer Gefecht setzen sollte, und bis zum Bündnis mit dem saudi-arabischen Finanzier Osama bin Laden, der das kommunistische Regime in Afghanistan entfernen sollte.

Wir vernehmen, dass am 11.09. der "schlimmsten terroristischen Akt der Geschichte" erfolgte, doch dies ignoriert die mörderische Geschichte solcher Anschläge, die Sven Lindquist in seinem neuen Buch (erschienen bei New Press) nachzeichnet, und es ignoriert ganz bestimmt die vielen terroristischen Massaker, die im Namen der Vereinigten Staaten durchgeführt worden sind, z.B. diejenigen in Hallabja (Irak) oder in Südamerika während der "Operation Condor". Dies sind nur wenige Beispiele.
...
Rache oder Gerechtigkeit?

Präsident Bush versprach, diejenigen zu stellen, die New York und Washington bombardiert hatten, doch er versprach auch, dass diejenigen, die sie beherbergten, den Zorn der Vereinigten Staaten fühlen würden. Dies ist bis jetzt die gefährlichste Erklärung. Sie verletzt nicht nur sämtliche Gepflogenheiten des internationalen Rechts, sie ignoriert die Tatsache, dass die USA diese Verbrecher jahrelang beherbergt haben, meist auf Kosten der weltweiten Linke. Saddam und bin Laden sind Produkte der USA, auch wenn sie sich jetzt, wie Frankensteins Monster, gegen ihren Herren wenden. Die Lehre, die wir daraus ziehen sollten ist nicht, mit diesem Wahnsinn fortzufahren, die Symptome mit der Feuerkraft von 40 Milliarden Dollar zu bekämpfen. Die Lehre für alle demokratisch gesinnten Menschen besteht darin, die Grundlagen weltweiter Unsicherheit zu untergraben.

Als erstes müssen die Menschen, die für die schrecklichen Taten des 11.09. verantwortlich sind, gefunden, verhaftet und vor Gericht gebracht werden. Der Gang der Justiz sollte aufgrund der momentanen Gefühlsaufwallungen nicht verkürzt werden.

Zweitens wird unser Kampf in den USA fortgesetzt, indem wir damit fortfahren zu erklären, dass die US-amerikanische Außenpolitik diese barbarischen Akte produziert - durch ihr eigenes Bestreben, starke "Stabilitätsfaktoren" in Gebieten zu installieren, in denen Rohstoffe und Märkte existieren, die den Interessen der US-Konzerne unterworfen werden müssen. Riesige Gebiete, in denen Zorn und Groll herrschen werden weiterhin entstehen - dies ist kein Weg nach vorne. Eine weitere wahllose Bombardierung wird nur zu weiteren Leichensäcken führen, in denen sich Unschuldige befinden.

Die Geschichte zeigt uns, dass die USA mitnichten unschuldig waren am 11.09., obwohl Tausende unschuldiger Menschen starben. Wir sollten diese zwei Dinge nicht verwechseln: Die Terroristen unterschieden nicht zwischen denen, die ihr Leben mit politischem und ökonomischen Terror überziehen, zwischen einem Regime, das sie hassen, Marktinteressen, die sie verachten und unschuldigen Menschen, die am selben Ort leben. Der Terror der Frustrierten arbeitet mit dem Terror der Monster am gemeinsamen Ziel, die starken und demokratischen Bedürfnisse der Menschen zu untergraben. Beide Arten von Terror müssen verdammt werden.

* Vijay Prashad, Associate Professor and Director, International Studies Program, Trinity College, Hartford, CT.
Übersetzung aus dem Amerikanischen: Marc Urlen


Risiken und Schurkenstaaten

Von Marc Urlen

Ulrich Becks "Risikogesellschaft" ist inzwischen ein Klassiker. Darin schildert der Soziologie, dass die Moderne nicht länger von äußeren Gefahren bedroht wird, sondern von Risiken, die sie selbst produziert. Sie produziert eine "Gegenmoderne", mit der sie sich auseinandersetzen muss.

Die "Risikogesellschaft" erschien 1986. Man lebte damals in ständiger Furcht vor einen Krieg zwischen den Supermächten. Der konnte stündlich ausbrechen, man wusste, dass Atomraketen des Gegners auf die Heimatstadt ausgerichtet waren. Doch auch andere Ängste trieben die meist jüngeren Menschen um: Supergaus in den Atomkraftwerken, die vollständige Vernichtung der Umwelt durch die "Zivilisation". Man war nicht bereit, dies widerspruchslos hinzunehmen. Friedens- und Umweltbewegungen formierten sich.

Nach der deutschen Wiedervereinigung aber war das Bewusstsein allgegenwärtiger Bedrohungen verschwunden. Die Grenze zwischen den bis an die Zähne bewaffneten Blöcken verlief nicht länger durch das eigene Land. Zwar verschärften sich globale Probleme wie Armut, Hunger, Seuchen und Kriege, doch "uns" schien das alles nichts mehr anzugehen. Im "gemeinsamen Haus Europa" war nur Platz für die wohlhabenden Staaten, die immer enger rückten und sich dabei immer weiter abschotteten. Die US-Intervention im Irak brachte die sterbende Friedensbewegung in Deutschland noch einmal auf die Beine. Der fragwürdige Einsatz der NATO gegen Rest-Jugoslawien 1999 allerdings fand schon keine nennenswerte Opposition mehr.

Nun sind in Manhattan das World-Trade-Center sowie das Pentagon durch Terroranschläge vernichtet worden, ausgeführt von Fanatikern, denen weder das eigene Leben noch das von Unbeteiligten etwas bedeutete. Die Symbole der politische und ökonomische Überlegenheit der letzten Weltmacht existieren nicht mehr. Nun wachen im reichen Westen viele Menschen auf, fühlen sich bedroht. Verlangen von den Politikern Schutz und Lösungen, die Zerschlagung des internationalen Terrorismus. Man muss kein Prophet sein, um vorauszusagen, dass dies zu maßlosen Vergeltungsschlägen gegen einige der ärmsten Länder der Welt führen wird.

Nur wenige wagen zur Zeit den Einwand, dass die größten "Schurken" dieser Erde, Osama bin Laden und Saddam Hussein, vom CIA ausgebildet wurden, um den Kommunismus mit allen, vor allem aber terroristischen Mitteln zu bekämpfen. Es scheint nicht die Zeit zu sein, daran zu erinnern, dass die Vereinigten Staaten seit dem Zweiten Weltkrieg immer wieder den Terrorismus förderten, wenn er ihnen nützlich erschien. Systematisch wurden Guerillakämpfer ausgebildet, die Castros Kuba ins Chaos stürzen sollten. Die grausamsten Regime wurden unterstützt, wenn sie die Politik der USA unterstützten, d.h., wenn sie nur für "ein günstiges Investitionsklima", die Anbindung an den Weltmarkt und für willige und billige Arbeitskräfte sorgten. Um die Stabilität solcher Diktaturen zu gewährleisten, stellte der CIA gern Ausbildungspersonal bereit, dass die Sicherheitsdienste im effektiven Terror unterwies.

Die Zehntausenden von Opfern, die solche "befreundeten" Terrorregime forderten, werden selten thematisiert. Es ist nicht so, dass eine Zensur dafür sorgen würde, dass dies nicht geschieht. Es ist vielmehr so, dass die es die meisten Menschen nicht im geringsten interessiert. Solange die Maschinerie des Weltmarktes läuft, die Regale im Supermarkt prall gefüllt sind, solange interessieren keine unangenehmen Hintergründe. Wann gab es schon einen Gedenkgottesdienst oder eine Schweigeminute für die Opfer von Hunger, Armut, Seuchen, Staatsterror?

Waren die Terrorakte von New York also die Quittung für eine skrupellose Politik? Sicher nicht, denn sie entsprangen nicht kaltem Kalkül, sondern fanatischem, blinden Hass. Der Nährboden jedoch, auf dem dieser gedeihen kann, ist gedüngt mit den Ausscheidungen eines zynischen Weltmarkts ohne moralische Standards, ist Produkt bloßer Machtpolitik der reichsten Staaten dieser Welt, deren heiligstes Ziel nicht globales Wohlergehen ist, sondern der egoistische Ausbau des eigenen Vorsprungs - Staaten, die Gewaltopfer nur zählen, wenn es sich um eigne Staatsbürger handelt.


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