Geburtshelfer des Terrorismus
Noam Chomsky (Massachussetts Institute of Technology in Cambridge)* über das Glaubwürdigkeitsproblem Amerikas und die Rolle der Intellektuellen
Die Wochenzeitung "Freitag" veröffentlichte unter dem Titel "Amerika vor seiner 'Glaubwürdigkeit' retten?" am 1. März Auszüge aus einem Gespräch, das der bekannte Linguist, Philosoph und Sozialwissenschaftler Noam Chomsky Ende Dezember letzten Jahres mit indischen Kollegen und Politikern an der Musikakademie Chennai in Madras geführt hatte. Wir dokumentieren den Beitrag:
SASHI KUMAR (Student): Seit dem 11. September 2001 wird immer wieder
das Versagen der Politik beklagt. Worin sehen Sie die Ursachen dafür,
dass es ein solches Defizit an realistischen politischen Optionen
gegenüber militärischen gibt?
NOAM CHOMSKY: Lassen Sie mich das an einem Beispiel aus den
achtziger Jahren erläutern. Nehmen Sie die damaligen terroristischen
Angriffe der USA auf Nikaragua, die Verminung der Häfen, die
Unterstützung der Contra gegen die sandinistische Regierung. Dies hat
faktisch das ganze Land verwüstet - keine sofortige Zerstörung, sondern
eine, die sich über Jahre hinzog.
Nikaragua befolgte seinerzeit eine korrekte politische Option und wandte
sich an den Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Der untersuchte den
Fall und bezichtigte die Vereinigten Staaten des internationalen
Terrorismus. Dies allerdings nicht in der Absicht zu bestrafen, sondern den
Beklagten aufzufordern, seine Aktionen einzustellen und Reparationen zu
leisten. Als die Reagan-Administration das verweigerte, wandte sich
Nikaragua an den UN-Sicherheitsrat, der in einer Resolution dazu aufrief,
das Völkerrecht zu achten, sich aber durch ein US-Veto blockiert sah.
Daraufhin wandte sich Nikaragua an die UN-Vollversammlung, und es gab
einen fast einstimmigen Beschluss zu seinen Gunsten - aber der war
wertlos. Genau an diesem Punkt waren die politischen Optionen
ausgeschöpft - die Optionen für einen gesetzestreuen Staat.
Für die USA stellte sich das nach dem 11. September ganz anders dar,
sie hätten im Sicherheitsrat mühelos eine Resolution durchsetzen können,
die sogar ihre Verbrechen in Afghanistan legitimiert hätte - damit Sie mich
richtig verstehen, der Angriff auf Afghanistan ist ein eindeutiges
Verbrechen, meiner Meinung nach schlimmer als der Angriff vom 11.
September. Doch die Vereinigten Staaten hätten dafür das Votum des
Sicherheitsrates erhalten. Die Länder mit Vetorecht hätten das unterstützt,
weil sie selbst terroristische Handlungen unter ihrer Verantwortung
unterstützen. Sie hätten also über den Sicherheitsrat die USA autorisiert,
um deren Autorisierung für ihr eigenes Vorgehen zu erhalten. Was will
Indien als Teil der Anti-Terror-Kampagne? Im Grunde die Autorisierung
seines eigenen Staatsterrorismus. Oder die Türkei. Oder nehmen Sie
Algerien. Diese Länder haben sich doch vor allem deshalb der Koalition der
Gerechten angeschlossen. Das sind - um auf Ihre Frage zurück zu
kommen - die politischen Optionen, um die es im Grunde genommen geht.
KASTLIK RAMANATHAN (Dozent):Es heißt, die USA operierten in
Afghanistan, um sich den Zugang zum Kaspi-Öl oder zu Ressourcen in
Tadschikistan, Usbekistan und Turkmenistan zu sichern. Steht nicht viel
mehr im Vordergrund, militärische Ausrüstungen genau für diese Regionen
zu testen, weil das Kriegsschauplätze der Zukunft sind?
Es gibt ein Interesse am Erdöl! Erdöl steht hinter allem, was in diesem Teil
der Welt geschieht. Aber der eigentliche Zweck dessen, was derzeit in
Zentralasien passiert, besteht darin, "Glaubwürdigkeit" zu demonstrieren.
Das ist doch der Begriff, den Bush - die Regierungen heute überhaupt -
zuallererst verwenden. Nehmen Sie die Bombardierung Serbiens 1999.
"Wir müssen die Glaubwürdigkeit der NATO bewahren", hieß es da.
"NATO" bedeutet nicht NATO. Keinen interessiert die "Glaubwürdigkeit"
Belgiens. Damit war die "Glaubwürdigkeit" der Vereinigten Staaten
gemeint. Glaubwürdigkeit bedeutet, alle müssen Respekt und Angst
haben. Die "Glaubwürdigkeit" ist eines der wesentlichen
Abschreckungsmittel der Nachkriegszeit. Sie ist Teil unserer nationalen
Persönlichkeit.
PETER ALPHONSE (Abgeordneter des Tamil Maanila
Kongresses/TMC):Weshalb spielt die Religion eine so wichtige Rolle für
den Terrorismus des 21. Jahrhunderts? Wie kann man der Globalisierung
des Islam begegnen, die für nicht-islamische asiatische Länder wie Indien
eine Gefahr darstellt?
Mein Eindruck ist, dass der nicht-islamische Teil Indiens seine eigenen
Formen eines religiösen Fanatismus hat. Es ist etwas seltsam, über den
islamischen Fundamentalismus als Problem Indiens zu reden, und so zu
tun, als sei der hinduistische Fundamentalismus kein Problem Indiens.
Aber trösten Sie sich, auch die Vereinigten Staaten sind ein äußerst
fundamentalistisches Land. Das ist kein Witz, die
fundamentalistisch-christlichen Bewegungen in den USA gehen über alles
hinaus, was ich in der entwickelten westlichen Welt kenne. Zum Beispiel
glauben 40 Prozent unserer Bevölkerung, die Welt wurde vor 6.000 Jahren
geschaffen. Ich will damit nur sagen, islamischer Fundamentalismus ist
global gesehen nichts Einzigartiges, aber ich stimme Ihnen zu, er ist ein
Problem - aber wodurch verursacht? Ich denke, vor allem durch die
Verweigerung sinnvoller politischer Partizipation. Sehen Sie sich doch
Fälle wie Algerien, Ägypten, Sudan, Saudi-Arabien oder auch Kaschmir
genau an. Die Menschen finden die politische Ära verriegelt, also suchen
sie andere Wege, sich zu artikulieren. Ich vermute, dass dies auch eine
Ursache für die Zunahme des extremen Fundamentalismus in den USA ist.
Politische Optionen sind sehr eingeschränkt worden - nicht durch Gewalt,
sondern durch neoliberale Programme, die den Menschen die Möglichkeit
nehmen, sich auf ihre Weise zu identifizieren. Das gilt auch für die
Möglichkeiten politischer Gegenwehr, folglich werden andere Wege
gesucht. Und diese Wege führen oft zu religiösem Fanatismus oder
anderen Formen des Extremismus. Man darf das nicht vergröbern, aber an
der entscheidenden Ursache gibt es für mich keinen Zweifel: Sie besteht in
einer Begrenzung oder gar Eliminierung von Möglichkeiten, sich an der
Bestimmung des eigenen Schicksals zu beteiligen. Wird das blockiert,
fallen andere Blockaden weg.
RADHA SUBRAMANIAM (ehemaliger indischer Offizier): Wenn eines
Tages die Intelligentsia ihre Produkte schneller vermarktet als Politiker
und Waffenproduzenten, wird die Welt vielleicht weniger von diesen
Problemen haben.
Wissen Sie, ich bin da skeptisch, was die Intelligentsia betrifft. Betrachtet
man die Geschichte, dann waren Intellektuelle nach meinem Eindruck eine
sehr gefährliche Macht. Wir müssen hier vorsichtig sein. Wenn wir
Intellektuelle meinen, die als "respektable" oder "verantwortungsbewusste
Intellektuelle" bezeichnet und innerhalb einer Gesellschaft geehrt werden,
handelt es sich meistens um Höflinge. Das reicht weit in die Geschichte
zurück, nehmen Sie zum Beispiel das Alte Testament. Da gibt es
Intellektuelle, die als "Propheten" bezeichnet werden. Sie erstellen
politische Analysen und geben moralische Lektionen. So funktioniert doch
die Geschichte teilweise bis heute. Intellektuelle vermarkten ihr Produkt,
das Dienst an der Macht ist, und können dabei sehr effektiv sein. Aber, es
gibt immer auch Dissidenten an der Peripherie, die nichts zu vermarkten
haben und sich bestenfalls den Aktivisten des zivilen Ungehorsams zur
Verfügung stellen können.
SADANAND MENON (Schriftsteller): Als in den fünfziger Jahren die
französischen Repressionen in Algerien immer offenbarer wurden,
bemerkte Jean-Paul Sartre: "So viel Folter, Blutvergießen, Betrug. Man
kann seine jungen Leute nicht 24 Stunden am Tag foltern lassen, ohne zu
erwarten, einen Preis zahlen zu müssen. Meine lieben Landsleute,
Frankreich war einst der Name eines Landes. Sorgt dafür, dass es in
unserer Zeit nicht zum Namen einer Geisteskrankheit wird." - Nun machen
wir uns Sorgen um Amerika. Kann Amerika jemals vor sich selbst gerettet
werden, oder ist es ihm bestimmt, sich als Schurkenstaat selbst zu
zerstören?
Sartre war eine Ausnahme, es gab im Grunde sehr wenig Proteste gegen
das, was die Franzosen in Algerien taten. Es gab zuvor keine
Antikriegsbewegung gegen den Versuch Frankreichs, Indochina zurück zu
erobern. Als in Algerien Gleiches geschah, wurde das von den meisten
Intellektuellen unterstützt. Und als sie endlich zu protestieren begannen,
war das sehr mild. Die französische KP zum Beispiel versuchte, ihre Leute
ruhig zu halten. Wer die FLN** in Algerien unterstützen wollte, musste
austreten.
Jetzt gibt es wieder viele Gräueltaten in Algerien, sie werden zum größten
Teil islamischen Fundamentalisten zugeschrieben - und bis zu einem
gewissen Punkt stimmt das. Aber es gibt klare Beweise dafür, dass ein
Teil dieser Gräuel vom Staat verübt wird, um sagen zu können, islamische
Fundamentalisten seien die Schuldigen. Die Massaker finden manchmal
500 Meter von einer großen Militärbasis entfernt statt, wo niemand dem
irgendwelche Aufmerksamkeit schenkt. Erdölförderanlagen oder Raffinerien
beispielsweise waren niemals Schauplatz solcher Vorgänge. Und die
Chancen stehen ziemlich gut, dass die französische Intelligentsia darin
verwickelt ist - wie die Eliten aller Kolonialländer, die gezwungen waren, zu
entkolonialisieren, aber dennoch versuchten, die Kontrolle zu behalten. Fiel
der Mangel an Protest in Frankreich über die algerischen Gräuel nicht ins
Auge? Nun, die USA sind viel mächtiger als Frankreich, aber nicht
wesentlich anders. Soviel zur Intelligentsia.
* Noam Chomsky, Professor für Linguistik und Philosophie amMassachussetts
Institute of Technologyin Cambridge, trat erstmals durch seinen Widerstand
gegen die Invasion der USA in Vietnam öffentlich in Erscheinung. Heute gilt er
als anerkannter Theoretiker der Anti-Globalisierungsbewegung. Weit über
Fachkreise hinaus bekannt geworden ist die Galionsfigur der versprengten
US-Linken durch Studien über die US-Außenpolitik, den Freihandel und die
globale Vorherrschaft der westlichen Industriestaaten sowie Analysen zu den
Massenmedien in demokratischen Gesellschaften. Chomsky vertritt seit dem
11. September 2001 die Auffassung, dass eine Politik, die den globalen
Terrorismus wirksam bekämpfen wolle, gerade nicht dazu führen dürfe,
dessen Ursachen noch weiter zu verstärken.
** Front de la Libération Nationale, Befreiungsbewegung Algeriens, die nach
der Unabhängigkeit 1962 die Regierungsverantwortung übernahm.
Aus: Freitag 10, 1. März 2002
Zurück zur Seite "Terrorismus"
Zurück zur Homepage