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Krieg gegen den Terror – Krieg gegen ein Phantom?

Von Knut Mellenthin (Teil 3 der ND-Serie zu den Anschlägen des 11. September 2001) *

Nach zehn Jahren »Krieg gegen den Terror« behauptet das US-Außenministerium in einem am 18. August veröffentlichten Bericht: »Al Qaida blieb im Jahr 2010 die herausragende terroristische Bedrohung für die Vereinigten Staaten.« Die Bilanz der Terroranschläge und der Sicherheitslage in allen Ländern der Welt wird vom State Department routinemäßig alljährlich vorgelegt.

Die Kernaussage des Berichts stimmt mit der vom Weißen Haus im Juni veröffentlichten »Nationalen Strategie zur Terrorismusbekämpfung« überein. Dort heißt der Satz allerdings etwas anders: »Die herausragende Sicherheitsbedrohung für die Vereinigten Staaten geht weiterhin von Al Qaida, den ihr angeschlossenen Organisationen und ihren Anhängern aus.«“

Die Tötung Osama bin Ladens in Pakistan am 2. Mai wird in diesem 19 Seiten umfassenden Papier als »wichtigster Meilenstein« in den Anstrengungen der USA, Al Qaida eine Niederlage beizubringen, gefeiert. Überhaupt ist das Dokument geprägt von regionalen und globalen Erfolgsmeldungen. Unmittelbar hinter jeder dieser Aussagen folgt jedoch ein einschränkender Satz, der Al Qaida als eine anhaltend ernste Gefahr für die USA beschreibt.

Al Qaida muss gefährlich bleiben

Die Logik liegt auf der Hand: Hätte die US-Regierung keine bedeutenden Siege im »Krieg gegen den Terrorismus« vorzuweisen, wären mehr als eine Billion Dollar, die das Unternehmen seit dem 11. September 2001 verschlungen hat, vergeblich ausgegeben worden. Andererseits, wenn das Phantom Al Qaida nicht nach wie vor eine ernst zu nehmende Gefahr für die Bürgerinnen und Bürger der USA darstellen würde, müsste man die ganze Sache vernünftigerweise für erfolgreich abgeschlossen erklären. Das jedoch wird offenbar von den Verantwortlichen nicht gewünscht, jedenfalls nicht zu diesem Zeitpunkt.

Da passt es nicht gut ins Bild, dass Präsident Barack Obama am 16. August eine Einschätzung äußerte, die der gesamten offiziellen Sprachregelung widerspricht: »Die größte Sorge, die wir jetzt haben, ist nicht das Stattfinden einer bedeutenden Terroroperation, auch wenn dieses Risiko immer besteht. Das Risiko, um das wir uns jetzt ganz besonders Sorgen machen, ist ein terroristischer ›Einsamer Wolf‹, jemand mit einer einzelnen Waffe, der in der Lage sein könnte, ein Massaker großen Stils anzurichten, von der Art, wie wir es vor Kurzem in Norwegen gesehen haben.« Solche »einsamen Wölfe« rechtzeitig aufzuspüren, sei äußerst schwierig.

Tatsächlich gibt es in den USA, dem Paradies schießwütiger Waffenliebhaber, erwiesenermaßen eine beträchtliche Anzahl potenzieller »einsamer Wölfe«. Zu Massakern, die von verhaltensgestörten Massenmördern angerichtet werden, kommt es im Durchschnitt mehrmals im Jahr. Dieses Risiko kann man selbstverständlich nicht dadurch verringern, dass man – wie die USA es derzeit tun – offen oder verdeckt Krieg in Afghanistan, Irak, Pakistan, Jemen und Somalia führt.

Die im jüngsten Jahresbericht des US-Außenministeriums enthaltenen Statistiken belegen völlig eindeutig, dass Al Qaida im Besonderen und islamistischer Terrorismus im Allgemeinen keine relevante Bedrohung für die Sicherheit der Vereinigten Staaten und ihrer Bewohner darstellen. Einer Tabelle zufolge starben durch Terroranschläge im Jahr 2010 weltweit 15 US-amerikanische »Privatbürger«. Dieser Begriff schließt auch Angestellte von Sicherheitsdiensten ein, die für das Militär arbeiten. Kein einziger dieser Todesfälle ereignete sich jedoch auf dem Territorium der USA. Auf Afghanistan entfielen insgesamt 13, je ein US-Bürger wurde in Irak und in der ugandischen Hauptstadt Kampala getötet. Letzteres war ein Anschlag, der in Zusammenhang mit dem Bürgerkrieg in Somalia stand und sich nicht speziell gegen die USA richtete.

Insgesamt starben in den USA seit dem 11. September 2001 etwa 20 Menschen infolge von Terroraktionen mit mutmaßlich islamistischem Hintergrund, also durchschnittlich zwei im Jahr. Der schwerste Zwischenfall mit 13 Toten war der Amoklauf eines Militärpsychologen im Armeestützpunkt Fort Hood (Texas) am 5. November 2009. Ob der Täter, der kurz darauf nach Afghanistan verlegt werden sollte, wirklich politische Motive hatte oder in einem persönlichen Ausnahmezustand handelte, scheint bis heute nicht geklärt.

Die Statistik des US-Außenministeriums verzeichnet für das Jahr 2010 weltweit 11 604 »terroristische Zwischenfälle« mit unterschiedlichsten Hintergründen. In 6902 Fällen gab es keinen einzigen Toten. Insgesamt weist diese Tabelle aber auf, dass weltweit 13 186 Menschen »als Ergebnis des Terrorismus getötet« worden seien.

Die Frage ist allerdings, wie für diese Angaben der Begriff »Terrorismus« definiert wird. In der Hauptsache handelt es sich nämlich um lokale Kriegs- und Bürgerkriegshandlungen, und nicht etwa um grenzüberschreitende, transnational organisierte Aktivitäten, wie sie im Allgemeinen mit dem Namen Al Qaida verbunden werden. Mehr als die Hälfte der registrierten 11 604 »terroristischen Zwischenfälle«, nämlich 5995, ereigneten sich in Afghanistan und Irak. Im Nahen Osten und in Südasien – das schließt Afghanistan ein – fanden zusammengerechnet 8960 »Terrorangriffe« statt. Das entspricht rund 77 Prozent der Gesamtzahl.

In der gesamten »westlichen Hemisphäre«, also auf dem amerikanischen Kontinent, gab es 2010 dem Bericht zufolge 340 »terroristische Zwischenfälle«. Hauptsächlich handelte es sich dabei um Aktivitäten zweier bewaffneter Organisationen in Kolumbien, die rein gar nichts mit Al Qaida zu tun haben. In der Bilanz des State Department heißt es dazu: »Für die meisten Länder der westlichen Hemisphäre blieb die Gefahr eines transnationalen terroristischen Angriffs gering. Es gab in der Hemisphäre keine bekannte operative Zelle einer mit Al Qaida oder Hisbollah zusammenhängenden Gruppe.« Mit der Behauptung, Al Qaida stelle die größte Bedrohung für die USA dar, ist das schwerlich in Einklang zu bringen.

Islamisten im Visier der Ermittler

Für Europa einschließlich Russlands, verzeichnet die Statistik des US-Außenministeriums 737 »Terrorangriffe« mit 355 Toten und merkt an, dass die überwiegende Mehrheit der Zwischenfälle auf Russland entfiel. Einem Bericht der europäischen Polizeibehörde Europol zufolge wurden im vorigen Jahr im Bereich der EU 249 »Terrorangriffe« verübt. Nur drei davon, also 1,2 Prozent, sollen einen islamistischen Hintergrund gehabt haben. Die Angaben von Europol zeigen aber auch, dass im Verhältnis zur tatsächlichen Zahl der Anschläge Islamisten sehr viel öfter verhaftet werden als Angehörige aller anderen Gruppen: Unter insgesamt 611 Personen, die als Verdächtige in Verbindung mit terroristischen Straftaten verhaftet wurden, waren 179 – 29,3 Prozent – mutmaßliche Islamisten.

Solche Verhaftungen werden in der Regel von den Medien in großer Aufmachung gemeldet. Auf diese Weise werden in der Öffentlichkeit ständig Vorstellungen von einer islamistischen oder gar muslimischen Terrorgefahr produziert, die ganz offensichtlich nicht der Realität entsprechen. In Wirklichkeit stellen nicht bloß Al Qaida, sondern darüber hinaus auch andere ähnliche oder mit ihr kooperierende Gruppen keine relevante Gefahr für die Bewohner der EU-Länder und Nordamerikas dar. Schon gar nicht sind sie eine Bedrohung der inneren Sicherheit. Eine Zentrale, die systematisch transnationale Anschläge in westlichen Ländern plant und organisiert, ist nicht – oder nicht mehr – zu erkennen. Ob die menschenverachtenden, massenmörderischen Angriffe gegen die Passagiere öffentlicher Verkehrsmittel in Madrid (2004) und London (2005) von einer solchen Zentrale geplant waren, ist völlig ungewiss. Die bekannt gewordenen Tatsachen sprechen eher gegen diese Theorie als dafür.

Auf jeden Fall steht der militärische und finanzielle Aufwand, den die USA seit dem 11. September 2001 als »Krieg gegen den Terror« oder unter modischeren Bezeichnungen betreiben, in keinem Verhältnis zum Umfang des wirklichen Restrisikos. Außerdem begünstigen Kriegshandlungen wie die Drohnenangriffe gegen pakistanische Ziele, deren Frequenz Obama gegenüber seinem Vorgänger verdreifachen ließ, Rachetaten von »einsamen Wölfen« mehr als dass sie sie verhindern könnten.

Der »Krieg gegen den Terror« ist per Definition und seinem ganzen Wesen nach zeitlich und räumlich unbegrenzt. Er hat keine präzis definierbaren Gegner und kennt keine eindeutigen Kriterien für den Sieg. Die USA könnten ihre angeblich antiterroristisch motivierten Militäroperationen noch jahre- oder gar jahrzehntelang fortsetzen. Die Feinde würden Obama und seinen Nachfolgern nicht ausgehen, da sie sich diese durch die Vermengung von gezielten Mordoperationen – wie der angeblichen Tötung Osama bin Ladens – und wahlloser Aufstandsbekämpfung permanent selbst erschaffen.

Andererseits könnte Obama oder irgendein künftiger US-Präsident das gigantische Unternehmen aber auch zu einem willkürlich gewählten Zeitpunkt beenden, indem er beispielsweise nach irgendeinem spektakulären »Erfolg« die Mission für erfolgreich abgeschlossen erklärt. Denn es handelt sich im absoluten Sinn des Wortes um einen »war of choice«, einen selbst gewählten, bewusst gewollten und frei bestimmten Krieg. Aber möglicherweise werden sich die USA vom Phantom »Al Qaida« erst verabschieden, wenn sie Kurs auf eine wirkliche militärische Konfrontation mit einem realen, ernsthaften Gegner – zu denken ist dabei in erster Linie an China – nehmen und ihre gesamte Strategie dementsprechend völlig umstellen.

* Aus: Neues Deutschland, 25. August 2011

In der ND-Reihe zu den Anschlägen des 11. September 2001 erschienen bisher:

9/11 und ein verlorenes Land
Von René Heilig
Das Erbe des "Gröshaz"
Von Otfried Nassauer
Krieg gegen den Terror – Krieg gegen ein Phantom?
Von Knut Mellenthin




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